Dreizehn

Wenn es in New Vancouvers von Rohren durchzogenen Gassen eine Instanz gab, die für Recht und Ordnung sorgte, dann ging sie so diskret vor, dass sie praktisch unsichtbar war. Vadim und sein Komplize konnten unbehelligt von der Bildfläche stolpern. Ich wartete noch ein wenig, fühlte mich fast verpflichtet, eine Erklärung abzugeben — aber nichts geschah. Der Tisch, an dem Quirrenbach und ich noch vor wenigen Minuten unseren Kaffee getrunken hatten, war in einem beklagenswerten Zustand, aber was sollte ich tun? Ein Trinkgeld für den schwachsinnigen Reinigungsservomaten hinterlegen, der sicher in Kürze daherschlendern würde, um sich mit der gleichen geistlosen Gründlichkeit, mit der er sonst die Kaffeeflecken beseitigte, über die Blut-, Schleim- und Urinpfützen herzumachen?

Ich ging, und niemand hielt mich auf.

Ich schlüpfte in einen Waschraum, spritzte mir kaltes Wasser ins Gesicht und wusch mir das Blut von der Faust. Dann zwang ich mich, in aller Ruhe nachzudenken. Der Raum war leer. Hinter mir eine lange Reihe von Toiletten mit komplizierten Diagrammen auf den Türen, die erklärten, wie sie zu benutzen waren.

Ich betastete meinen Brustkorb, bis ich sicher war, dass außer ein paar Blutergüssen nichts passiert war, dann begab ich mich zur Abflughalle. Der Raumkoloss — das mantaförmige Raumschiff — hing wie ein rundmäuliger Fisch an der Außenhülle des rotierenden Habitats. Aus der Nähe sah er lange nicht so glatt und aerodynamisch aus wie von ferne. Der Rumpf war mit Narben und Dellen übersät und stellenweise rußig-schwarz verfärbt.

Zwei Menschenströme wurden von entgegengesetzten Seiten in das Schiff geleitet. Mein Strom war ein trauriges, träges, graubraunes Rinnsal: die Menschen trotteten den Wendelgang hinunter, als ginge es zum Galgen. Auch der zweite Strom wirkte nur mäßig begeistert, doch durch die transparente Verbindungsröhre sah ich Passagiere in Begleitung von Servomaten, Tiere mit grotesken genetischen Veränderungen, ja sogar Menschen von tierähnlicher Gestalt. Dazwischen glitten die Palankine der Hermetiker dahin: schwarze, aufrechte Kästen, die an Metronome erinnerten.

Hinter mir geriet die Menge in Bewegung. Jemand kämpfte sich zu mir durch.

»Tanner!« Heiseres Bühnengeflüster. »Sie haben es auch geschafft! Sie waren plötzlich verschwunden, und ich habe mir schon Sorgen gemacht, ob sie womöglich anderen Gaunern von Vadim in die Hände gefallen wären!«

»Er drängt sich vor«, murrte jemand hinter mir. »Habt ihr das gesehen? Ich hätte gute Lust…«

Ich drehte mich um und fasste die Person, die ich instinktiv für den Sprecher hielt, ins Auge. »Er gehört zu mir. Wenn Sie damit ein Problem haben, dann sagen Sie es mir. Sonst halten Sie den Mund und stellen Sie sich an.«

Quirrenbach schlüpfte neben mir in die Reihe. »Danke…«

»Schon gut. Aber schreien Sie nicht und erwähnen Sie Vadims Namen nicht noch einmal.«

»Sie glauben also, er könnte hier wirklich überall Freunde haben?«

»Keine Ahnung. Aber ich hätte nichts dagegen, mal für eine Weile keinen neuen Ärger zu bekommen.«

»Das kann ich mir vorstellen, besonders nachdem…« Er wurde bleich. »Ich will gar nicht daran denken, was da vorhin passiert ist.«

»Dann lassen Sie es doch. Wenn Sie Glück haben, können Sie es für immer vergessen.«

Die Reihe schob sich um die letzte Biegung in die Spitze des Raumkolosses. Innen war das Schiff riesengroß und so geschmackvoll erleuchtet wie die Empfangshalle eines vornehmen Hotels. Der Gang führte in mehreren Windungen zum Fußboden hinab. Unten schlenderten Fahrgäste mit Getränken in der Hand gemächlich dahin, während ihr Gepäck vor ihnen her sauste oder von kleinen Affen getragen wurde. Zu beiden Seiten erstreckten sich schräge Fenster in einer Linie, die in etwa der Seitenkante eines Manta-Flügels entsprach. Das Innere des Kolosses musste fast völlig hohl sein, aber von da, wo ich stand, konnte ich nicht mehr als ein Zehntel davon sehen.

Hier und dort waren Sitzgruppen aufgestellt — manchmal im Kreis, sodass man sich unterhalten konnte, manchmal auch um einen plätschernden Springbrunnen oder ein exotisches Pflanzendickicht herum. Hin und wieder glitt wie eine Schachfigur ein kastenförmiger Palankin vorbei.

Ich steuerte auf zwei freie Sitze über einer der Fensterreihen zu. Ich war so müde, dass ich gerne in Ruhe ein Nickerchen gemacht hätte, aber ich wagte nicht, die Augen zu schließen. Angenommen, es hätte keinen früheren Raumkoloss gegeben, und Reivich wäre doch auf diesem Schiff?

»In Gedanken, Tanner?«, fragte Quirrenbach und ließ sich neben mir in einen Sessel sinken. »Sie sehen ganz danach aus.«

»Sind Sie wirklich sicher, dass man von hier die beste Aussicht hat?«

»Gut gekontert, Tanner; ganz ausgezeichnet. Aber wenn ich mich nicht zu Ihnen setze, wer soll mir dann von Sky erzählen?« Er spielte nervös an seiner Reisetasche herum. »Jetzt haben wir reichlich Zeit, ich möchte auch den Rest der Geschichte hören.«

»Sie sind um Haaresbreite dem Tod entronnen und denken an nichts anderes als an diesen Wahnsinnigen?«

»Sie verstehen mich nicht. Ich überlege gerade — was halten Sie von einer Symphonie für Sky?« Er richtete den Zeigefinger wie den Lauf einer Pistole auf mich. »Nein. Keine Symphonie: eine Messe; ein großes Choralwerk von epischer Breite… und bewusst archaischer Struktur… parallele Quinten und Disharmonien, ein schwermütiges Sanctus… eine Klage um die verlorene Unschuld; eine Hymne auf das ruhmreiche Verbrechen des Schuyler Haussmann…«

»Es war nicht ruhmreich, Quirrenbach. Es war nur ein Verbrechen.«

»Das kann ich aber erst beurteilen, wenn Sie mir alles erzählt haben, nicht wahr?«

Eine Reihe von dumpfen Schlägen war zu hören, ein Zittern durchlief den Koloss, dann löste er sich aus der Verankerung. Vor den Fenstern fiel die Raumstation rasch zurück. Ein kurzer Schwindel überfiel mich. Doch bevor mein Körper noch recht begriffen hatte, wie ihm geschah, raste die Station schon wieder heran, die Außenhülle schoss an den großen Fenstern vorbei. Dann waren wir im All. Ich sah mich um, aber die Menschen schlenderten weiter unbeeindruckt durch die Halle.

»Müssten wir nicht im freien Fall sein?«

»Nicht in einem Raumkoloss«, sagte Quirrenbach. »Sobald sich das Schiff von NV löste, wurde es wie ein Stein aus einem Katapult tangential von der Oberfläche des Habitats weggeschleudert. Aber das dauerte nur einen Moment, dann zündeten die Schubdüsen und beschleunigten auf ein Ge. Danach musste es eine leichte Kurve fliegen, um das Habitat nicht zu rammen. Das ist der einzig heikle Moment des Fluges, wenn ich das richtig sehe — das einzige Mal, wo die Gefahr besteht, dass Ihre Drinks sich in die falsche Richtung bewegen. Aber das Pilotwesen verstand offenbar sein Handwerk.«

»Das Pilotwesen?«

»So viel ich weiß, werden die Raumkolosse von genetisch veränderten Cetaceen geflogen, Walen oder Delphinen, die dauerhaft mit dem Nervensystem des Schiffs verbunden sind. Aber keine Sorge. Sie haben bisher noch niemanden umgebracht. Der Flug wird fast auf der ganzen Strecke so ruhig sein wie jetzt. Das Schiff gleitet ganz langsam und sachte in die Atmosphäre hinab. Sobald die Luft etwas dichter wird, verhält sich der Koloss wie ein großes, starres Luftschiff. Wenn er sich der Oberfläche nähert, hat er so viel Auftrieb, dass er tatsächlich die Schubdüsen zünden muss, um sich unten zu halten. So ähnlich, als würde er schwimmen.« Quirrenbach schnippte mit den Fingern und rief einen vorbeikommenden Servomaten herbei. »Ein Drink wäre jetzt angebracht. Was nehmen Sie, Tanner?«

Ich schaute aus dem Fenster: der Horizont von Yellowstone stieg senkrecht nach oben, der Planet sah aus wie eine gelbe Wand.

»Keine Ahnung. Was trinkt man denn hier am besten?«


Der Horizont von Yellowstone kippte langsam in die Waagrechte zurück, als der Raumkoloss die Orbitalgeschwindigkeit des Karussells aufgab, mit der er bisher geflogen war. Das Manöver verlief reibungslos und ohne Zwischenfälle, aber es musste doch sorgfältig geplant gewesen sein, denn als wir endlich relativ zum Planeten zur Ruhe kamen, waren wir nicht etwa tausende von Kilometern von Chasm City entfernt, sondern schwebten genau über der Stadt.

Obwohl wir uns noch mehrere tausend Meter über der Oberfläche befanden, war die Schwerkraft von Yellowstone schon fast so stark wie auf dem Boden. Wir saßen wie auf dem Gipfel eines sehr hohen Berges, der über die Atmosphäre hinaus ragte. Nun ging der Koloss — mit der gleichen Bedächtigkeit, die bisher die ganze Reise ausgezeichnet hatte — in den Sinkflug.

Quirrenbach und ich betrachteten schweigend die Aussicht.

Yellowstone war ein Bruder des Titan im Sonnensystem; weniger ein Mond als eine ausgewachsene Welt. Durch die chaotische und hochgiftige Mischung von Stickstoff, Methan und Ammoniak hatte er eine Atmosphäre, die in allen nur erdenklichen Gelbtönen schillerte: Ocker, Orange und Hellbraun bildeten wunderschöne Spiralwirbel, zart verschnörkelt und filigran wie mit feinstem Pinsel gemalt. Yellowstones Oberfläche war zumeist ausgesprochen kalt, starke Winde, Springfluten und Gewitter peitschten darüber hin. Die Bahn des Planeten um Epsilon Eridani war vor undenklichen Zeiten durch eine Annäherung des massiven Gasriesen Tangerine Dream gestört worden, und obwohl das Ereignis mehrere Hundert Millionen Jahre zurückliegen musste, erholte sich Yellowstones Kruste nur langsam von den tektonischen Spannungen dieser Begegnung und gab immer noch Energie an die Oberfläche ab. Man vermutete sogar, dass Marcos Auge — der einzige Mond des Planeten — aus dem Umfeld des Gasriesen eingefangen worden sei; eine Hypothese, mit der sich auch die seltsamen Krater auf einer Seite des Mondes erklären ließen.

Yellowstone war kein lebensfreundlicher Planet, trotzdem waren die Menschen gekommen, um ihn zu besiedeln. Ich malte mir aus, wie es gewesen sein mochte, auf dem Höhepunkt der Belle Epoque in Yellowstones Atmosphäre einzutreten, zu wissen, dass unter diesen goldenen Wolkenschichten wahre Märchenstädte lagen, darunter Chasm City, die herrlichste von allen. Der Traum hatte mehr als zweihundert Jahre angedauert — und selbst in der Endzeit hatte nichts dagegen gesprochen, dass er sich noch über Jahrhunderte fortsetzen könnte. Es hatte keinerlei Verfallserscheinungen gegeben, kein Nachlassen der Spannkraft. Doch dann war die Seuche gekommen. Plötzlich hatte man die vielen Gelbtöne mit Krankheitsfarben assoziiert: Gelb wie Erbrochenes, wie Galle, wie Eiter; ein Himmel wie im Fieber und darunter vergiftete Städte, die sich Geschwüren gleich über die Oberfläche breiteten.

Dennoch, dachte ich und nippte an dem Drink, den Quirrenbach mir spendiert hatte, es war eine gute Zeit gewesen, so lange sie dauerte.

Der Koloss trat nicht in die Atmosphäre ein, er tauchte unter und sank so langsam in die Tiefe, dass auf der Außenhülle nur eine kaum nennenswerte Reibung entstand. Der Himmel war nicht mehr tiefschwarz, sondern schimmerte in zartem Purpur und wurde schließlich ockergelb. Hin und wieder kam es zu Schwankungen des Gewichts — vermutlich immer dann, wenn der Koloss auf eine Druckzelle traf, die sich nicht so ohne weiteres verdrängen ließ —, aber der Unterschied betrug nie mehr als zehn bis fünfzehn Prozent.

»Es ist immer noch schön«, sagte Quirrenbach. »Finden Sie nicht?«

Er hatte Recht. Jetzt war gelegentlich schon die Oberfläche zu erkennen, wenn eine Bö oder eine chaotische Veränderung in der Atmosphärechemie kurz eine Lücke in die gelben Wolkenschichten riss. Schillernde Seen aus gefrorenem Ammoniak; bedrückende Ödflächen, vom Wind modelliert; abgebrochene Felsnadeln und Kilometer hohe Bogenformationen, die anmuteten wie die halb vergrabenen Gebeine gigantischer Tiere. Ich wusste, dass es da unten einzellige Lebensformen gab — sie bedeckten in großen, glänzend purpurnen und smaragdgrünen monomolekularen Schichten die Oberfläche oder durchzogen das Tiefengestein —, aber sie existierten in einer derart eiszeitlichen Starre, dass man kaum von Leben sprechen konnte. Da und dort erhoben sich, von Kuppeln geschützt, kleine Außenposten, die aber niemand als Städte bezeichnet hätte. Auf Yellowstone gab es inzwischen nur noch eine Handvoll Siedlungen, die zumindest ein Zehntel der Größe von Chasm City erreichten; nichts, was der Hauptstadt vergleichbar gewesen wäre. Selbst Ferrisville, die zweitgrößte Stadt, war daneben nur ein kleines Dorf.

»Ganz nett für einen kurzen Besuch«, sagte ich. Quirrenbach verstand sofort, wie die Bemerkung gemeint war.

»Ja… wahrscheinlich haben Sie Recht«, sagte er. »Ich muss für eine Weile eintauchen in die Aura dieser Welt, um meine Komposition gestalten zu können, doch wenn ich genug verdient habe, um von hier wegzufliegen, werde ich mich sicher nicht viel länger aufhalten.«

»Womit wollen Sie Geld verdienen?«

»Für einen Komponisten gibt es immer Arbeit. Man braucht nur einen reichen Mäzen zu finden, der sich gern als Förderer eines großen Kunstwerks sehen möchte. Solche Leute glauben, sich damit ihrerseits ein Stück Unsterblichkeit verdienen zu können.«

»Aber wenn sie bereits unsterblich oder postmortal sind oder wie immer man das nennt?«

»Selbst ein Postmortaler kann nicht sicher sein, dass er nicht irgendwann sterben muss, deshalb ist der Wunsch, in der Geschichte seine Spuren zu hinterlassen, trotzdem noch stark. Außerdem gibt es in Chasm City viele Menschen, die einmal postmortal waren, sich aber jetzt mit ihrem nahen Tod auseinander setzen müssen, wie es uns anderen schon immer auferlegt war.«

»Mir blutet das Herz.«

»Gewiss… nun, sagen wir einfach, für eine ganze Reihe von Menschen steht der Tod heute wieder in einer Weise auf der Tagesordnung wie seit etlichen Jahrhunderten nicht mehr.«

»Trotzdem, was ist, wenn Sie in dieser Gruppe keine reichen Mäzene finden?«

»Oh, die gibt es. Sie haben doch die Palankine gesehen. Chasm City hat immer noch genügend wohlhabende Bürger, auch wenn die so genannte wirtschaftliche Infrastruktur fast völlig zerstört ist. Sie können sicher sein, dass sich Nester von Wohlstand und Macht erhalten haben, ich möchte sogar wetten, dass gewisse Leute heute reicher und mächtiger sind als je zuvor.«

»Das haben Katastrophen so an sich«, bemerkte ich.

»Wie bitte?«

»Sie sind nie für alle schlimm. Irgendein Stück Dreck wird immer an die Oberfläche gespült.«

Während wir weiter in die Tiefe sanken, machte ich mir Gedanken über meine Tarnung und meine ›Geschichte‹. Ich hatte über beides noch nicht weiter nachgedacht, aber das war — von Waffen und Nachschubfragen einmal abgesehen — bei mir immer so. Ich zog es vor, die Dinge auf mich zukommen zu lassen, anstatt alles im Voraus zu planen. Aber was war mit Reivich? Er konnte von der Seuche nicht gewusst haben, das bedeutete, alle seine Pläne mussten ihm zwischen den Fingern zerronnen sein, als er davon erfuhr. Aber zwischen ihm und mir gab es einen entscheidenden Unterschied: Reivich war Aristokrat, und Aristokraten hatten oft auf Grund von Jahrhunderte alten Familienbanden auch Beziehungen zu anderen Welten. Es war möglich — sogar wahrscheinlich —, dass Reivich Verbindungen zur Elite von Chasm City hatte. Auf solche Verbindungen könnte er sich selbst dann berufen, wenn es ihm nicht gelungen wäre, vor seiner Ankunft Kontakt aufzunehmen. Noch nützlicher wären sie freilich, wenn er sein Kommen schon von unterwegs angekündigt — so etwas wie eine Vorwarnung gegeben — hätte. Ein Lichtschiff flog nahe an der Lichtgeschwindigkeit, musste aber zu Beginn der Reise erst beschleunigen und am Ende abbremsen. Ein Funkspruch von Sky’s Edge — unmittelbar vor dem Start der Orvieto abgesetzt — hätte Yellowstone etwa ein Jahr vor dem Schiff selbst erreicht und Reivichs Verbündeten genügend Zeit gegeben, sich auf seine Ankunft vorzubereiten.

Vielleicht hatte er auch gar keine Verbündeten. Oder falls doch, dann war die Nachricht vielleicht nicht angekommen, war im Chaos der systeminternen Kommunikationsnetze verloren gegangen und nun dazu verdammt, in alle Ewigkeit zwischen ausgefallenen Netzwerkknoten hin und her zu wandern. Vielleicht hatte Reivich auch gar keine Zeit gefunden, eine Botschaft abzusetzen, oder er hatte nicht daran gedacht.

Ich hätte mich gern von jeder dieser Möglichkeiten trösten lassen, doch auf eines baute ich nie: dass das Glück auf meiner Seite stand.

Im Allgemeinen machte das vieles einfacher.

Ich sah wieder aus dem Fenster, und als sich die Wolken teilten, zeigte sich Chasm City zum ersten Mal. Und ich dachte: er ist irgendwo da unten…er weiß, dass ich komme, und er wartet. Doch selbst aus dieser Höhe war die Stadt zu groß, sie überwältigte mich, und ich fühlte mich erdrückt von der Last der gewaltigen Aufgabe, die vor mir lag. Gib auf, dachte ich; es ist unmöglich. Du wirst ihn niemals finden.

Doch dann dachte ich an Gitta.

Die Stadt schmiegte sich an die zerklüfteten Innenwände eines riesigen Kraters, der von einer Seite zur anderen sechzig Kilometer maß und an der höchsten Stelle fast zwei Kilometer hoch war. Als die ersten Forschungsreisenden auf Yellowstone eintrafen, hatten sie in diesem Krater Schutz vor den rauen Winden gesucht. Die dünnen luftgefüllten Kuppeln, die sie er-. richteten, hätten draußen auf den Ödflachen keine fünf Minuten standgehalten. Aber auch der ›Chasm‹, wie der ›Abgrund‹ in ihrer Sprache hieß, die tiefe, schroffe, nebelverhüllte Spalte im geometrischen Zentrum des Kraters, hatte sie angelockt.

Diese Spalte war eine der Austrittsöffnungen für die tektonische Energie, die bei der Annäherung des Gasriesen in den Planetenkern gepumpt worden war. Sie rülpste beständig heiße Dämpfe aus, die zwar noch giftig waren, aber sehr viel mehr freien Sauerstoff, Wasserdampf und andere Spurengase enthielten als alle anderen vergleichbaren Ausgasungen auf Yellowstones Oberfläche. Das Gas musste zwar maschinell gefiltert werden, um es atembar zu machen, aber das war hier viel einfacher als anderswo, und da es glühend heiß war, konnte man damit riesige Turbinen antreiben, die mehr Energie lieferten, als eine aufstrebende Kolonie überhaupt verbrauchen konnte. Die Stadt hatte sich über den gesamten Kraterboden ausgebreitet, hatte den Abgrund in ihrem Herzen eingeschlossen und war sogar ein Stück weit in seine Tiefen hinab geflossen. Hunderte von Metern unterhalb der Kante hatte man auf schwindelerregend schmalen Simsen Gebäude errichtet und sie durch Laufstege und Fahrstühle miteinander verbunden.

Der größte Teil der Stadt lag jedoch unter einem Ring aus riesigen Kuppeln, der den Krater umgab. Dieser Ring, so erzählte mir Quirrenbach, hieß bei den Einheimischen das Moskitonetz. An sich handelte es sich um achtzehn einzelne Kuppeln, doch da sie untereinander verbunden waren, ließ sich nur schwer erkennen, wo die eine aufhörte und die nächste anfing. Die Kuppeln waren seit sieben Jahren nicht gereinigt worden und deshalb mit großen, fast undurchsichtigen Flecken in verschiedenen Gelb- und Brauntönen verunstaltet. Nur wenige Bereiche waren eher durch Zufall so weit sauber geblieben, dass man die Stadt darunter erkennen konnte. Vom Koloss aus wirkte sie nahezu normal: eine wuchernde Masse himmelhoher Gebäude, auf so engem Raum zusammengedrängt, dass man sich an das Innenleben einer verwirrend komplexen Maschine erinnert fühlte. Aber etwas an diesen Gebäuden war unheimlich, ja, erschreckend: sie wirkten unnatürlich verzerrt, ein Sammelsurium von Formen, als hätte es ein verrückter Architekt entworfen. Über dem Boden verzweigten sie sich immer wieder, bis schließlich ein einziges unübersehbares Gewirr bronchialer Verästelungen entstanden war. Bis auf spärliche Lichtpünktchen an den oberen und unteren Ausläufern — die wie kleine Lämpchen durch das bronchiale Netz flimmerten — war alles dunkel und wie ausgestorben.

»Sie wissen ja, was das bedeutet«, sagte ich.

»Nämlich?«

»Man hat uns nicht zum Narren gehalten. Das war bitterer Ernst.«

»Nein«, sagte Quirrenbach. »Zum Narren hat man uns ganz sicher nicht gehalten. Auch ich war so töricht, diese Möglichkeit in Betracht zu ziehen. Sogar, nachdem ich mit eigenen Augen gesehen hatte, was mit dem Rostgürtel geschehen war, redete ich mir noch ein, die Stadt selbst könnte verschont geblieben sein, ein menschenscheuer Einsiedler, der seine Reichtümer vor neugierigen Blicken verbirgt.«

»Immerhin gibt es noch eine Stadt«, sagte ich. »Da unten sind noch Menschen, sie bilden sogar so etwas wie eine Gesellschaft.«

»Nur ist es nicht die Stadt, die wir erwartet hatten.«

Wir flogen jetzt dicht über der Kuppel dahin, einer stellenweise durchhängenden geodätischen Metallkonstruktion mit diamantförmigen Einsätzen, die sich Kilometer weit erstreckte, bis sie schließlich von der bräunlichen Atmosphäre verschluckt wurde. Kleine Reparaturteams in Raumanzügen krochen, erkennbar nur am periodischen Aufflammen ihrer Schweißbrenner, wie Ameisen darauf herum. An einigen Stellen quollen graue Dampfsäulen durch Risse in der Kuppel. Die Innenluft gefror, sobald sie hoch über der Wärmefalle des Kraters mit Yellowstones Atmosphäre in Berührung kam. Wie gichtige Finger schienen die Gebäude an der Unterseite der Kuppel zu scharren. Zwischen den schmerzhaft geschwollenen, verkrümmten Gelenken spannten sich schwarze Netze wie die letzten Reste abgefaulter Handschuhe. Trauben von Lichtern saßen an den Fingerspitzen und zogen sich in langen, vielfach geschwungenen Filamenten an den dicksten Netzmaschen entlang. Jetzt aus der Nähe erkannte ich, wie fein das Netz tatsächlich war. Die Gebäude waren eingehüllt von einem vielschichtigen Gespinst aus feinstem schwarzem Garn, als wäre ein Heer von Spinnen in einen wahren Produktionsrausch verfallen und hätte eine krause Masse loser Fäden erzeugt, über die sich auf trunkenen Bahnen die Lichter bewegten.

Ich rekapitulierte, was ich aus der Grußbotschaft an Bord der Strelnikov über die Schmelzseuche erfahren hatte. Die Transformationen waren außerordentlich schnell vonstatten gegangen — so schnell, dass die Gebäude im Zuge ihrer Verwandlung viele Menschen auf weitaus primitivere Weise getötet hatten, als die Seuche selbst das getan hätte. Die Gebäude waren darauf ausgelegt, sich selbst zu reparieren und sich nach neuen architektonischen Vorstellungen, über die demokratisch entschieden wurde, beliebig umzugestalten. Wenn also eine hinreichende Anzahl von Bewohnern es wünschte, dass ein Gebäude seine Gestalt veränderte, dann gehorchte das Gebäude. Doch die durch die Seuche ausgelösten Veränderungen waren unkontrolliert und ohne jede Vorwarnung eingetreten, eher wie eine Reihe von abrupten seismischen Verschiebungen. Hier lagen die heimlichen Gefahren einer Stadt von so utopischer Flexibilität, dass sie jederzeit umgestaltet oder wie eine Eis-Skulptur eingefroren, aufgetaut und erneut eingefroren werden konnte. Niemand hatte dieser Stadt gesagt, dass in ihr Menschen lebten, die sie zerdrücken könnte, sobald sie anfinge, sich umzubilden. Unter den monströsen Gebilden, die jetzt die Straßen beherrschten, lagen immer noch viele von den Toten begraben.

Dann ließen wir Chasm City hinter uns und überflogen den zerklüfteten Rand des Kraters; der Koloss schob sich durch einen Einschnitt, der gerade breit genug erschien, um ihn aufzunehmen.

Vor uns erschien eine Gruppe von gepanzerten Gebäuden am Rand eines karamellbraunen Sees. Der Koloss sank auf die Wasserfläche zu und bemühte sich mit heulenden Schubdüsen, die Höhe zu halten und dem natürlichen Auftrieb entgegenzuwirken, der ihn nach oben tragen wollte.

»Zeit zum Aussteigen«, sagte Quirrenbach. Er stand auf und zeigte auf einen Strom von Menschen, der sich durch die Halle bewegte.

»Wo wollen die denn alle hin?«

»Zu den Landekapseln.«

Ich folgte ihm. Auf der anderen Seite der Halle führte ein Dutzend Wendeltreppen in die ein Stockwerk tiefer gelegene Ausschiffungszone hinab. Vor gläsernen Schleusen warteten die Menschen darauf, eine von mehreren Dutzend tränenförmigen Kapseln zu besteigen, die langsam auf Führungsschienen vorbeiglitten. Vorne angekommen, rutschten die Kapseln über eine kurze Rampe aus dem Bauch des Kolosses und stürzten aus zwei- bis dreihundert Metern Höhe spritzend in den See.

»Sie meinen, das Ding landet gar nicht wirklich?«

»Du lieber Himmel, nein.« Quirrenbach lächelte. »Eine Landung kann man unmöglich riskieren. Nicht in der heutigen Zeit.«

Unsere Kapsel glitt aus dem Bauch des Raumkolosses. Wir saßen zu viert darin: Quirrenbach und ich mit zwei fremden Passagieren. Die beiden unterhielten sich angeregt über eine lokale Berühmtheit mit Namen Voronoff, aber ihr Norte hatte einen so starken Akzent, dass ich nur etwa jedes dritte Wort verstand. Der Sturz aus dem Raumkoloss beeindruckte sie überhaupt nicht; auch als wir tief in den See eintauchten und durchaus die Gefahr bestand, nicht wieder aufzutauchen, verloren sie ihre Gelassenheit nicht. Endlich wurden wir doch nach oben getragen, und da die Wände durchsichtig waren, konnte ich ringsum andere Kapseln im Wasser schwimmen sehen.

Zwei gigantische Maschinen kamen durch den See gewatet, um uns in Empfang zu nehmen. Jede hatte drei dünne, mechanische Beine mit pneumatischem Kolbenantrieb und überragte uns turmhoch. Die schwimmenden Kapseln wurden mit einer Art von Kranarmen eingesammelt und in einem Netz verstaut, das unter dem Körper des Dreibeins hing. Ganz oben hockte in einer winzigen Druckkabine ein Fahrer, der hektisch irgendwelche Hebel bewegte.

Dann stakten die Maschinen ans Ufer und kippten ihren Fang auf ein Förderband. Das brachte uns in eines der Gebäude, die ich vom Koloss aus gesehen hatte.

In einem belüfteten Empfangsraum wurden die Kapseln von gelangweilten Arbeitern vom Förderband genommen und geöffnet. Sobald sie leer waren, wurden sie in einen Verladebereich gebracht, der ähnlich aussah wie die Einschiffungszone auf dem Raumkoloss. Dort warteten schon neue Passagiere mit ihrem Gepäck. Vermutlich wurden die Kapseln anschließend von den Dreibeinen wieder in die Mitte des Sees gebracht und dann so hoch hinauf gehoben, dass der Koloss sie aufnehmen konnte.

Quirrenbach und ich stiegen aus und folgten dem Strom von Reisenden in ein Labyrinth kalter düsterer Gänge. Die Luft roch so abgestanden, als hätte jeder Atemzug bereits mehrere Lungen durchflutet, bevor er die meine erreichte. Aber sie war atembar, und die Schwerkraft war nicht merklich höher als in der Rostgürtel-Station.

»Ich weiß nicht genau, was ich erwartet hatte«, sagte ich. »Aber das ganz sicher nicht. Keinerlei Begrüßung; keine Sicherheitskontrolle, nichts. Man fragt sich, wie die Einwanderungs- und Zollbehörde aussehen wird.«

»Die Frage erübrigt sich«, sagte Quirrenbach. »Sie haben sie soeben verlassen.«

Ich dachte an die Diamantpistole, die ich Amelia gegeben hatte, weil ich es für ausgeschlossen hielt, sie mit nach Chasm City nehmen zu können.

»Das war alles?«

»Überlegen Sie doch. Es würde Ihnen sehr schwer fallen, irgendetwas nach Chasm City zu bringen, was nicht schon hier ist. Wozu sollte man Reisende auf Waffen kontrollieren? Es gibt so viele in der Stadt, dass es auf eine mehr oder weniger nicht ankommt. Wahrscheinlich würde man eine mitgebrachte Waffe eher beschlagnahmen, um Ihnen gegen Aufpreis ein neueres Modell anzubieten. Auch eine Untersuchung auf Krankheiten hätte wenig Sinn. Zu kompliziert, Besucher stecken sich eher hier an, als dass sie neue Keime einschleppen würden. Vielleicht täten uns ein paar kräftige neue Stämme sogar ganz gut.«

»Uns?«

»Ihnen. Ich habe mich versprochen.«

Wir betraten einen hellen Raum mit großen Fenstern, aus denen man auf den See sah. Der Raumkoloss wurde jetzt mit neuen Kapseln beladen. Über der Rückenflosse des Manta-Schiffes leuchteten die Schubdüsen, die ständig gezündet werden mussten, um die Position zu halten. Jede Kapsel passierte einen violetten Flammenring und wurde sterilisiert, bevor sie im Bauch des Kolosses verschwand. Die Stadt mochte sich nicht dafür interessieren, was hereinkam, aber dem Universum war es offenbar nicht egal, was nach draußen ging.

»Sie können mir vermutlich sagen, wie man von hier in die Stadt kommt?«

»So viel ich weiß, gibt es nur eine Möglichkeit, und das ist der Chasm City-Zephyr.«

Quirrenbach und ich zwängten uns an einem Palankin vorbei, der sich langsam durch den nächsten Verbindungstunnel schob. Der aufrecht stehende Quader war mit schwarzen Halbreliefs geschmückt, die Szenen aus der glorreichen Vergangenheit der Stadt zeigten. Als wir die träge Maschine überholt hatten, warf ich vorsichtig einen Blick zurück und sah in die angstvollen Augen des darin sitzenden Hermetikers: ein bleiches Gesicht hinter dickem grünem Glas.

Einige Servomaten waren als Gepäckträger unterwegs, aber sie wirkten ziemlich primitiv, keine blitzenden Intelligenzmaschinen, sondern klobige, pannenanfällige Roboter mit der Empfindungsfähigkeit eines Hundes. Wirklich intelligente Maschinen gab es außerhalb der Enklaven im Orbit, wo so etwas noch möglich war, nicht mehr. Aber selbst diese plumpen Servomaten galten offensichtlich als wertvoll: sie waren ein Zeichen von noch verbliebenem Wohlstand.

Ich sah auch die Wohlhabenden selbst, so weit sie nicht im Schutz eines Palankins unterwegs waren. Wahrscheinlich hatte keiner von ihnen Implantate von besonderer Komplexität; ganz sicher nichts, was durch Seuchensporen zerstört werden konnte. Dennoch wirkten sie nervös, hasteten in Rudeln vorwärts und verschanzten sich hinter ihren Servomaten.

Vor uns mündete der Tunnel in eine unterirdische Höhle. Hunderte von flackernden Lampen, die in Wandleuchtern steckten, spendeten ein schwaches Licht. Ein warmer, nach Maschinenöl riechender Luftzug strich durch den Raum.

Hier wartete ein schreckliches Ungeheuer.

Es fuhr in vier Doppelgeleisen, die in einem Winkel von neunzig Grad angeordnet waren: eins unten, eins oben, und eins an jeder Seite. Die Geleise hingen ihrerseits in einem Gestell aus dünnen Streben, verschwanden aber an beiden Enden der Höhle in kreisrunden Gängen, wo sie direkt an den Wänden verankert waren. Ich musste unwillkürlich an die Züge auf der Santiago denken, die ich in einem von Skys Träumen gesehen hatte. Sie waren in einem ähnlichen Schienensystem gefahren — nur hatten die Geleise dort zur Ausrichtung von Induktionsfeldern gedient.

Hier war das anderes.

Auch der Zug selbst war vierfachsymmetrisch gebaut. Im Zentrum befand sich ein Zylinder mit einem projektilförmigen Bug, an dem wie ein Zyklopenauge ein einzelner Scheinwerfer angebracht war. An diesem Kern hingen vier Doppelschienen mit riesigen Eisenrädern, jede Schiene hatte zwölf Achsen und war fest mit einem Gleis verbunden. Zwischen den zwölf Haupträdern waren jeweils drei Paar riesiger Zylinder eingesetzt, die über eine verwirrende Konstruktion aus blitzenden Kolben und schenkeldicken Pleuelstangen mit gut geschmierten Gelenken wiederum mit je vier Räderpaaren verbunden waren. Ein unübersehbares Gewirr von Rohrleitungen umschlang die ganze Maschine; scheinbar willkürlich angeordnete Austrittsöffnungen, aus denen dicke Dampfwolken zur Höhlendecke emporstiegen, zerstörten auch den letzten Rest von Symmetrie und Eleganz, der im Entwurf noch vorhanden gewesen sein mochte. Die Maschine zischte wie ein feuerspeiender Drache kurz vor einem Wutausbruch und wirkte erschreckend lebendig.

Hinter ihr hing in denselben Schienen eine Reihe von ebenfalls vierfachsymmetrischen Personenwagons.

»Das ist der…?«

»… Chasm City-Zephyr«, nickte Quirrenbach. »Grässliches Ungetüm, wie?«

»Wollen Sie behaupten, das Ding fährt tatsächlich irgendwo hin?«

»Wozu sollte es sonst gut sein?« Er bemerkte meinen Blick und fuhr fort: »Früher fuhren angeblich Magnetschwebebahnen nach Chasm City und hinaus zu den anderen Kolonien. Sie bewegten sich durch Vakuumtunnel. Aber nach der Seuche funktionierten sie wohl nicht mehr richtig.«

»Und dieses Monstrum hielt man für einen angemessenen Ersatz?«

»Die Auswahl dürfte nicht allzu groß gewesen sein. Ich schätze, die Leute haben es heute mehr so eilig, irgendwohin zu kommen, es macht also nichts aus, wenn die Züge nicht mehr wie früher mit Überschallgeschwindigkeit fahren. Zweihundert Stundenkilometer ist selbst auf den längeren Strecken zu anderen Siedlungen mehr als ausreichend.«

Quirrenbach ging auf den hinteren Teil des Zuges zu. Dort konnte man über Rampen die Wagons besteigen.

»Warum Dampf?«

»Weil es auf Yellowstone keine fossilen Brennstoffe gibt. Einige Atomkraftwerke sind zwar noch in Betrieb, aber im Großen und Ganzen ist der Abgrund die einzige brauchbare Energiequelle weit und breit. Deshalb läuft heutzutage vieles in der Stadt mit Dampf.«

»Mir will das immer noch nicht in den Kopf, Quirrenbach. Man dreht doch die Uhr nicht einfach um sechshundert Jahre zurück, nur weil man keine Nanotechnik mehr hat.«

»Vielleicht doch. Die Seuche hat viel weitere Kreise gezogen, als Sie denken. Seit Jahrhunderten war fast die gesamte Produktion mit Nanotechnik gesteuert worden. Materialherstellung, Materialformung — alles wurde auf einen Schlag viel primitiver. Sogar Dinge, die selbst kein Nano verwendeten, waren damit gebaut worden; mit unglaublich engen Toleranzen. Das alles war nicht mehr zu kopieren. Es ging also nicht nur darum, sich mit einer etwas einfacheren Technik zufriedenzugeben. Man musste so weit zurückgehen, bis man eine Stufe erreichte, auf der man mit dem Wiederaufbau beginnen konnte. Konkret bedeutete das, mit grob geschmiedetem Metall und mit entsprechenden Verfahren zur Metallverarbeitung zurechtzukommen. Und vergessen Sie nicht, dass viele der dazu erforderlichen Fertigkeiten ebenfalls verloren gegangen waren. Man tappte im Dunkeln. Es war, als wollte man im einundzwanzigsten Jahrhundert ein mittelalterliches Schwert schmieden, ohne eine Ahnung von Eisenverhüttung zu haben. Zu wissen, dass etwas primitiv war, hieß nicht zwangsläufig, dass man es so ohne weiteres wiederentdecken konnte.«

Quirrenbach war außer Atem gekommen und verstummte. Er stand unter einer klappernden Tafel, die Fahrten nach Chasm City, Ferrisville, Loreanville, New Europa und noch weiter anzeigte, aber nur etwa ein Zug pro Tag fuhr in eine andere Stadt als Chasm City.

»Man behalf sich also, so gut man konnte«, sagte Quirrenbach. »Natürlich hatten manche technischen Errungenschaften die Seuche überdauert. Deshalb finden Sie selbst hier noch einige Relikte — Servomaten, Fahrzeuge —, aber die meisten sind im Besitz reicher Leute. Denen gehören auch sämtliche Atomkraftwerke und die wenigen Antimaterie-Kraftwerke, die es in der Stadt noch gibt. Unten im Mulch sieht es sicher anders aus. Und dort lebt man auch gefährlich.«

Ich studierte die Anzeigetafel, ohne ihn zu unterbrechen. Es hätte mir meine Aufgabe sehr erleichtert, wenn Reivich einen Zug zu einer der kleineren Siedlungen genommen hätte, wo er nicht nur auffiele, sondern auch festsäße, aber wahrscheinlicher war wohl doch, dass er mit dem ersten Zug nach Chasm City gefahren war.

Quirrenbach und ich entrichteten den Fahrpreis und stiegen ein. Die Wagons hinter der Lokomotive sahen sehr viel älter und damit sehr viel moderner aus als alle anderen. Man hatte sie von der alten Schwebebahn abgekoppelt und auf Räder gesetzt. Die irisförmige Tür schloss sich, dann fuhr das Ungetüm ratternd an, kroch im Schritt-Tempo vorwärts und kam mühsam auf Geschwindigkeit. Immer wieder hörte man es quietschen, wenn ein Rad durchdrehte. Doch dann wurde die Fahrt ruhiger, draußen zogen Dampfschwaden vorbei. Der Zug fuhr durch einen der schmalen Tunnel und passierte eine gigantische Irisblende und eine weitere Serie von Druckschleusen, bis wir vermutlich fast im Vakuum fuhren.

Es wurde gespenstisch still.

Das Fahrgastabteil war so überfüllt wie bei einem Gefangenentransport, und auch die Fahrgäste waren kleinlaut bis zur Schläfrigkeit wie Gefangene, die unter Beruhigungsmitteln in eine Strafanstalt geschafft wurden. An der Decke hatten sich Bildschirme ausgeklappt, auf denen nun Werbung gezeigt wurde, wobei ich mir nicht vorstellen konnte, dass die angepriesenen Produkte und Dienstleistungen die Seuche überdauert haben sollten. An einem Ende des Raums stand eine Gruppe von Palankinen so dicht beieinander wie ein Sortiment von Särgen im Lagerraum eines Leichenbestatters.

»Als Erstes müssen wir unsere Implantate los werden«, sagte Quirrenbach und beugte sich verschwörerisch zu mir. »Die Vorstellung, die Dinger noch in meinem Kopf zu haben, ist mir jetzt schon unerträglich.«

»Bestimmt lässt sich jemand finden, der das rasch erledigt«, beruhigte ich ihn.

»Rasch und sicher — das eine wäre ohne das andere nicht ratsam.«

Ich lächelte. »An die Sicherheit hätten Sie doch besser etwas früher denken sollen.«

Quirrenbach kräuselte nur die Lippen.

Auf dem Bildschirm vor uns lief ein Werbespot für eine besonders schnittige Flugmaschine, vergleichbar unseren Volantoren, nur schien sie aus Insektenteilen gemacht zu sein. Doch dann flimmerte der Bildschirm, und eine Frau erschien, die aussah wie eine Geisha.

»Willkommen an Bord des Chasm City-Zephyr.« Ihr Gesicht mit den geschminkten Lippen und den rosigen Wangen erinnerte an eine Porzellanpuppe. Sie trug ein Silbergewand von geradezu lächerlicher Eleganz, mit einem hohen Kragen, der sich hinter ihrem Kopf nach oben wölbte. »Im Moment durchfahren wir den Trans-Caldera-Tunnel und werden in acht Minuten das Grand Central Terminal erreichen. Wir wünschen Ihnen eine angenehme Fahrt und einen erholsamen und erfolgreichen Aufenthalt in Chasm City. Um sie auf die Ankunft einzustimmen, laden wir Sie nun ein, sich einige Attraktionen unserer schönen Stadt anzusehen.«

»Das ist interessant«, sagte Quirrenbach.

Die Fenster des Wagons flackerten und verwandelten sich in holographische Displays. Nun zeigten sie nicht länger die vorbeirasenden Tunnelwände, sondern ein eindrucksvolles Bild der Stadt. Es war, als hätte sich der Zug durch sieben Jahre Geschichte getunnelt. Zu beiden Seiten ragten traumhaft schöne Gebäude schwindelerregend himmelwärts wie Berge aus massivem Opal oder Obsidian. Nach unten fiel das Gelände terrassenförmig ab, dort sah man Gärten und Seen und dazwischen Gehwege und Hängeröhren für den städtischen Verkehr. Das alles verlor sich in einem bläulichen Nebel, der immer wieder zerrissen wurde von Abgründen voller Neonlicht, riesigen vielstöckigen Kaufhäusern und schroffen Felswänden. Schwärme farbenfroher Luftfahrzeuge erfüllten die Luft, einige sahen aus wie exotische Libellen oder Kolibris. Passagierluftschiffe glitten träge durch das Gedränge; in den Gondeln standen Dutzende von winzigen Nachtschwärmern und schauten über den Rand. Über ihnen türmten sich die höchsten Gebäude auf wie geometrische Wolkenberge. Vor dem reinen Stahlblau des Himmels glänzte das feine, regelmäßige Metallgerüst der Kuppel.

Und die Stadt schien sich nach allen Seiten bis ins Unendliche fortzusetzen, auch wenn es in Wirklichkeit nur sechzig Kilometer waren. Wunder über Wunder, so weit das Auge reichte. Chasm City bot offenbar genügend Sensationen für ein ganzes Leben. Sogar für einen modernen Menschen.

Von der Seuche hatte dieser Simulation noch niemand erzählt. Ich musste mir erst in Erinnerung rufen, dass wir immer noch durch den Tunnel unter der Kraterwand rasten; dass wir in Wirklichkeit noch gar nicht in der Stadt angekommen waren.

»Jetzt verstehe ich, warum man von der Belle Epoque spricht«, sagte ich.

Quirrenbach nickte. »Die Menschen hier hatten alles. Und wissen Sie, was das Schlimmste ist? Es war ihnen völlig bewusst. Anders als jemals zuvor in der Geschichte… wussten sie, dass sie in einem goldenen Zeitalter lebten.«

»Sie müssen ziemlich unausstehlich gewesen sein.«

»Sie haben teuer genug dafür bezahlt.«

In diesem Augenblick sahen wir plötzlich das Tageslicht von Chasm City, Der Zug war wohl unter dem Kraterrand hindurch in die Kuppel eingefahren und raste nun durch eine der Hängeröhren, die wir im Hologramm gesehen hatten, nur war diese Röhre mit Schmutz bedeckt und ließ nur hin und wieder einen flüchtigen Ausblick zu; immerhin konnten wir sehen, dass wir durch einen dicht bevölkerten Slum nach dem anderen sausten. Die holographische Aufzeichnung lief noch immer, sodass die alte Stadt der neuen wie ein Geisterbild überlagert war. Vor uns machte die Röhre einen Bogen und verschwand in einem zylindrischen Gebäude mit vielen Stockwerken, aus dem von allen Seiten Röhren heraus kamen und sich durch die Stadt zogen. Je näher wir dem Gebäude kamen, desto mehr verlangsamte der Zug seine Fahrt.

Wir hatten das Grand Central Terminal erreicht, den Hauptbahnhof von Chasm City.

Als wir in den Bahnhof einfuhren, verblasste das holographische Bild und mit ihm die letzte schwache Erinnerung an die Belle Epoque. Trotz aller Pracht hatten offenbar nur Quirrenbach und ich der Vorführung ein gewisses Maß an Aufmerksamkeit geschenkt. Die anderen Passagiere starrten stumm auf den mit Abfällen und Brandspuren übersäten Fußboden.

»Glauben Sie immer noch daran, hier den großen Durchbruch zu schaffen?«, fragte ich Quirrenbach. »Nach allem, was Sie jetzt gesehen haben?«

Er antwortete erst nach langem Überlegen.

»Wer weiß, warum nicht? Vielleicht sind die Chancen heute sogar besser als je zuvor. Vielleicht ist alles nur eine Frage der Gewöhnung. Eines steht jedenfalls fest.«

»Und das wäre?«

»Die Musik, die ich hier schreibe, wird niemanden aufheitern können.«


Im Grand Central Terminal war es so feucht wie im Dschungel auf der Halbinsel und so düster wie im tiefsten Wald. Ich war im Nu in Schweiß gebadet, zog Vadims Mantel aus, rollte ihn zusammen und klemmte ihn mir unter den Arm.

Quirrenbach zupfte mich am Ärmel. »Wir müssen diese Implantate los werden«, drängte er. »Keine Sorge«, sagte ich. »Das hatte ich nicht vergessen.« Das Dach wurde von kannelierten Säulen getragen, die wie Hamadryadenbäume in die Höhe ragten und ihre Äste durch das Dach in die bräunliche Atmosphäre streckten. Zwischen die Säulen hatte sich ein orientalischer Basar gezwängt: eine bunte Stadt aus Zelten und Buden, durch die sich nur ganz schmale und gewundene Pfade zogen. Bisweilen waren die Buden so übereinander gebaut oder geschachtelt, dass die Durchgänge dazwischen eher niedrigen, schlecht beleuchteten Tunneln glichen, die man nur mühsam in geduckter Haltung passieren konnte. Etliche Dutzend Verkäufer kamen auf Hunderte von Besuchern. Nur wenige wurden von Servomaten begleitet. Ich sah auch exotische Haustiere, die an der Leine geführt wurden; genetisch aufgerüstete Diener; Käfige mit Vögeln und Schlangen. Einige Hermetiker hatten den Fehler begangen, sich ins Gewühl zu stürzen, anstatt den Basar irgendwie zu umgehen, nun steckten sie mit ihren Palankinen fest und waren von Händlern und Spitzbuben umlagert.

»Nun?«, fragte ich. »Wollen wir es wagen, oder nehmen wir einen Umweg?«

Quirrenbach drückte seine Reisetasche noch fester an sich. »So sehr sich alles in mir dagegen sträubt, ich finde, wir sollten es wagen. Ich habe eine Ahnung — wohlgemerkt, nicht mehr als eine Ahnung —, dass wir hier finden könnten, was wir beide so dringend benötigen.«

»Es könnte ein Fehler sein.«

»Und wahrscheinlich nicht der erste des heutigen Tages. Aber ich bin außerdem fast am Verhungern. Hier gibt es sicher irgendwo etwas zu essen — und wenn wir Glück haben, ist es nicht einmal giftig.«

Wir drängten uns durch die Menge. Bevor wir ein Dutzend Schritte gemacht hatten, waren wir schon von Kindern und mürrischen Bettlern umringt, die sich Hoffnung auf ein Almosen machten.

»Steht auf meiner Stirn etwa in riesigen Neonlettern ›Reicher Dummkopf‹ geschrieben?«, fragte Quirrenbach.

»Es liegt an der Kleidung«, sagte ich und stieß das nächste Balg zurück, das sich an mich herangemacht hatte und an mir herumfingerte. »Mir ist sofort aufgefallen, dass Sie Sachen von den Eisbettlern tragen, und ich hatte nicht einmal sonderlich auf Sie geachtet.«

»Und warum hat das eine solche Wirkung?«

»Es signalisiert, dass wir Fremde sind«, sagte ich. »Von außerhalb des Systems. Wer liefe sonst in Eisbettlerkleidung herum? Und das gewährleistet automatisch einen gewissen Wohlstand oder ist zumindest ein Hinweis darauf.«

Quirrenbach umklammerte seine Tasche noch ängstlicher als bisher. Wir schoben uns weiter, bis wir einen Stand fanden, der genießbar aussehende Speisen verkaufte. Im Hospiz Idlewild hatte man meine Darmflora auf Yellowstone-Verhältnisse eingestellt, aber die Behandlung war relativ breit angelegt, und es gab keine Garantie, dass sie auch gegen spezifische Erreger wirkte. Jetzt konnte ich testen, wie unspezifisch sie tatsächlich war.

Wir kauften heiße, fettige Pasteten, die mit einer unbestimmbaren, halbgaren Fleischmasse gefüllt waren. Das Fleisch war stark gewürzt, wahrscheinlich, um den ranzigen Geschmack zu übertönen. Aber ich hatte auf Sky’s Edge schon unappetitlichere Dinge gegessen, die mir mehr oder weniger gut geschmeckt hatten. Quirrenbach schlang seine Pastete hastig hinunter, kaufte eine zweite und vertilgte auch die ganz ohne Bedenken.

»He, ihr«, sagte eine Stimme. »Implantate raus?«

Ein Junge hatte Quirrenbach am Saum seiner Eisbettlerjacke gepackt und zerrte ihn tiefer in den Basar hinein. Seine Kleidung war im Moment noch an der Grenze zur Verwahrlosung, würde ihm aber in ein bis zwei Wochen in Fetzen vom Leibe hängen.

»Implantate raus«, wiederholte der Junge. »Ihr hier neu, Implantate hier nicht gut, Misters. Madame Dominika holen alles raus, guter Preis, schnell, wenig Blut, wenig Schmerzen. Du auch, Großer.«

Der Junge hatte die Hand unter meinen Gürtel gesteckt und zerrte auch an mir.

»Das ist… hm… nicht nötig«, sagte Quirrenbach. Ein aussichtsloser Versuch.

»Ihr neu hier, Eisbettleranzug, Implantate müssen raus, knallen sonst durch. Wisst ihr, was das heißt, Misters? Lauter Schrei, Kopf zerplatzt, Gehirn spritzt, Kleider versaut… ihr das bestimmt nicht wollen.«

»Nein, vielen Dank.«

Ein zweiter Junge war aufgetaucht und zog an Quirrenbachs anderem Ärmel. »He, Mister, du nicht auf Tom hören — du gehen besser zu Doktor Jackal! Der bringt nur jeden zwanzigsten um! Niedrigste Sterblichkeitsrate im ganzen Grand Central! Nicht durchknallen — zu Jackal gehen.«

»Ja, mit Hirnschaden als Zugabe«, sagte Dominikas Junge. »Nicht auf ihn hören; Dominika ist die Beste in Chasm City! Jeder wissen das!«

»Warum zögern Sie noch?«, fragte ich Quirrenbach. »Das war es doch, was Sie gesucht hatten?«

»Schon!«, zischte er. »Aber doch nicht so! Nicht in irgendeiner dreckigen Bude, verdammt! Ich dachte an eine halbwegs sterile und gut ausgerüstete Klinik. Ich weiß definitiv, dass es bessere Möglichkeiten gibt, Tanner, vertrauen Sie mir…«

Ich zuckte die Achseln und ließ mich von Tom weiterziehen. »Vielleicht ist so eine Bude das Beste, was wir kriegen können, Quirrenbach.«

»Nein! Das kann nicht sein. Es muss doch…« Er flehte mich mit einem stummen Blick an, die Sache in die Hand zu nehmen und ihm aus der Patsche zu helfen, aber ich nickte nur lächelnd zu dem Zelt hin: ein blau-weißer Kasten mit leicht gewölbtem Dach, die Spannleinen mit eisernen Heringen im Boden verankert.

»Hinein mit Ihnen«, sagte ich und ließ ihm den Vortritt. Wir betraten ein Vorzelt. Dort waren wir mit dem Jungen allein. Jetzt sah ich erst, dass Tom so hübsch war wie ein Elfenkind; das Geschlecht war unter den zerlumpten Kleidern nicht zu erkennen, das Gesichtchen wurde von dichtem, strähnigem, schwarzem Haar umrahmt. Der Name mochte eine Kurzform von Thomas oder von Thomasina sein, aber ich tippte auf Ersteres. Aus einem Malachitkästchen, das mit einigen Duftkerzen auf einem Tisch stand, drang Sitarmusik. Tom wiegte sich im Takt dazu.

»Das macht ja einen ganz passablen Eindruck«, sagte ich. »Ich meine, man sieht kein Blut, und es ist auch nirgendwo Hirnmasse verspritzt.«

Quirrenbach fasste einen jähen Entschluss. »Nein«, sagte er. »Nicht hier; nicht so. Ich gehe wieder, Tanner. Sie können sich aussuchen, ob Sie bleiben oder mir folgen wollen.«

Ich flüsterte möglichst leise: »Tom hat Recht. Sie müssen sich die Implantate jetzt herausnehmen lassen, wenn die Eisbettler das noch nicht für Sie erledigt haben.«

Er fuhr sich mit der Hand über die kratzigen Stoppeln. »Vielleicht wollten sie mit ihren Schauergeschichten nur das Geschäft ankurbeln.«

»Schon möglich — aber wollen Sie es wirklich darauf ankommen lassen? Die Dinger sitzen in ihrem Kopf wie eine Zeitbombe. Ich finde, sie sollten so schnell wie möglich raus. Sie können sie sich ja später wieder einsetzen lassen.«

»In einem Zelt und von einer Frau, die sich Madame Dominika nennt? Dann noch lieber eigenhändig mit einem rostigen Federmesser und einem Spiegel.«

»Wie auch immer. Aber tun Sie etwas, bevor sie durchknallen.«

Der Junge zerrte Quirrenbach bereits durch die Trennwand in den dahinter liegenden Raum. »Noch etwas, Tanner — wir schwimmen alle beide nicht gerade im Geld. Wer sagt Ihnen denn, dass wir uns Dominikas Dienste überhaupt leisten können?«

»Ein sehr gutes Argument.« Ich packte Tom am Kragen und zog ihn behutsam in den Vorraum zurück. »Mein Freund und ich müssen sehr schnell ein paar Sachen verkaufen, oder arbeitet deine Madame Dominika etwa für Gotteslohn?« Tom reagierte nicht, also öffnete ich meine Tasche und ließ ihn hineinsehen. »Verkaufen, gegen Bargeld. Wo?«

Das schien zu wirken. »Zelt mit grünen und silbernen Streifen, andere Seite von Markt. Du sagen, Dominika dich schicken, dann er haut dich nicht zu sehr übers Ohr.«

»He, Moment mal.« Quirrenbach war schon fast im Hauptraum. Durch die Tür sah ich eine lange Operationsliege und dahinter eine unglaublich dicke Frau, die angelegentlich ihre Fingernägel betrachtete. Über der Liege hingen vielgliedrige Teleskoparme mit chirurgischen Instrumenten, die im Kerzenschein blitzten.

»Was?«

»Warum soll eigentlich ich das Versuchskaninchen spielen? Sagten Sie nicht, Sie hätten auch Implantate, die entfernt werden müssen?«

»Das stimmt. Ich komme auch bald wieder. Ich muss nur zuerst einen Teil meiner Habe zu Geld machen. Tom sagte, das lässt sich im Basar erledigen.«

Seine Ratlosigkeit schlug um in Wut.

»Aber Sie können jetzt nicht einfach weglaufen! Ich dachte, wir stehen das gemeinsam durch! Wir sind schließlich Reisegefährten! Verraten Sie doch unsere Freundschaft nicht, bevor sie überhaupt angefangen hat, Tanner…«

»He, ganz ruhig. Von Verrat kann nicht die Rede sein. Bis sie mit Ihnen fertig ist, habe ich genug Bares beisammen.« Ich schnippte mit den Fingern zu der fetten Frau hin. »Dominika!«

Sie drehte sich gemächlich zu mir um. Ihre Lippen formten eine stumme Frage.

»Wie lange wird es bei ihm dauern?«

»Eine Stunde«, antwortete sie. »Dominika richtig schnell.«

Ich nickte. »Das ist mehr als reichlich, Quirrenbach. Legen Sie sich zurück und lassen Sie Dominika ihre Arbeit tun.«

Er sah der dicken Frau ins Gesicht und wurde ein wenig ruhiger.

»Sie kommen wirklich wieder?«

»Natürlich. Ich bin doch nicht wahnsinnig und laufe in der Stadt herum, so lange ich noch Implantate im Kopf habe. Aber ich brauche Geld.«

»Was wollen Sie denn verkaufen?«

»Ein paar von meinen eigenen Sachen. Und etwas von dem Zeug, das ich unserem gemeinsamen Freund Vadim abgenommen habe. Es muss für solche Dinge einen Markt geben, sonst hätte er sie nicht gehortet.«

Dominika wollte ihn auf ihre Liege zerren, aber noch hielt sich Quirrenbach auf den Beinen. Ich erinnerte mich, wie er plötzlich umgeschwenkt war, als wir Vadims Kabine plünderten — zuerst hatte er sich gegen den Diebstahl gewehrt, dann hatte er begeistert mitgemacht. Jetzt erlebte ich wieder einen Gesinnungswandel.

»Verdammt«, murmelte er, schüttelte den Kopf und sah mich merkwürdig an. Dann öffnete er seine Tasche, schob mehrere Stapel mit Notenblättern beiseite, bis er an die darunter liegenden Fächer kam, und fischte einige von den Empirika heraus, die er Vadim gestohlen hatte. »Ich bin sowieso nicht gut im Feilschen. Nehmen Sie die und verkaufen Sie sie für einen guten Preis, Tanner. Ich nehme an, das müsste die Kosten für die Operation decken.«

»Haben Sie so viel Vertrauen zu mir?«

Er sah mich mit schmalen Augen an. »Holen Sie einen guten Preis heraus.«

Ich nahm die Stäbe und legte sie zu meinen eigenen.

Hinter ihm schwebte die dicke Frau durch den Raum wie ein unvertäutes Luftschiff. Ihre Füße befanden sich mehrere Zentimeter über dem Boden. Sie steckte in einem schwarzen Metallharnisch, der über einen ausfahrbaren pneumatischen Arm, aus dem bei jeder Bewegung zischend eine Dampfwolke entwich, an einer Wand befestigt war. Ihr Hals verschwand fast völlig unter dicken Fettwülsten. Die Finger waren gespreizt, als müssten die Nägel nach dem Lackieren noch trocknen. Auf jeder Fingerspitze steckte eine Kappe — vielleicht wuchs sie auch aus dem Finger. Und jede Kappe endete in einem anderen chirurgischen Instrument.

»Nein; du zuerst«, sagte sie und deutete mit dem kleinen, mit einer winzigen, sterilen Harpune bewehrten Finger auf mich.

»Danke, Dominika«, sagte sie. »Aber Sie nehmen sich besser erst Quirrenbach vor.«

»Du kommen zurück?«

»Ja — aber ich muss mich erst um die Finanzen kümmern.«

Lächelnd verließ ich das Zelt. Hinter kam mit schrillem Winseln eine Bohrmaschine allmählich auf Touren.

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