18. Kapitel

Zum Zeitpunkt der Entdeckung vor drei Monaten hatte man nicht geglaubt, daß der Planet, den die dominante intelligente Lebensform, die auf ihm lebte, „Wemar“ nannte, den Kontaktspezialisten des Monitorkorps irgendwelche ernsthafte Schwierigkeiten hätte bereiten können. Der Planet litt an derart großen Umweltproblemen, daß er im Grunde als unbewohnbar eingestuft werden mußte, und der winzige Rest, der von der Bevölkerung übriggeblieben war, mußte ein Leben dicht am Existenzminimum fristen. In der jüngeren Vergangenheit — nach den Untersuchungen industrieller Überreste aus dem Orbit schätzte man deren Alter auf etwas über vier Jahrhunderte — war die einheimische Zivilisation technisch so weit fortgeschritten gewesen, daß sie Satelliten in die Umlaufbahn geschossen hatte, und zudem waren Spuren eines nicht ständig aufrechterhaltenen Stützpunkts auf dem unbewohnten Planeten vorhanden, der dem System am nächsten lag.

Vor dem Hintergrund der erst vor kurzer Zeit untergegangenen Raumfahrttechnik der Spezies war man von zwei wichtigen Annahmen ausgegangen: Die eine war, daß der Gedanke an eine von anderen intelligenten Wesen bewohnte Galaxie die Wemarer nicht ängstigen würde und sie der Vorstellung, in freundschaftlichen Kontakt mit Besuchern von anderen Spezies zu treten, nicht vollkommen ablehnend gegenüberstünden, auch wenn sie das plötzliche Auftauchen eines Raumschiffs im Orbit ihres Planeten vielleicht überraschen und beunruhigen könnte. Die zweite Annahme lautete, daß die Wemarer einverstanden sein würden, die ihnen angebotene und so dringend benötigte materielle und technische Unterstützung anzunehmen, sobald man erst einmal den Kontakt ausgeweitet und ihre natürlichen Ängste zerstreut hatte.

Beide Annahmen sollten sich als falsch erweisen. Nachdem man Kommunikationsgeräte mit integriertem Translator für Sprech- und Sichtkontakt in beide Richtungen über den wenigen bewohnten Gebieten abgeworfen hatte — die Bild- und Tonübertragung waren Bestandteile der untergegangenen Wemarer Technik gewesen—, sagten die Einheimischen den Fremdlingen nur ein paar böse Worte, bevor sie ihnen befahlen, Wemar und sein Sonnensystem sofort zu verlassen, um kurz darauf sämtliche Geräte der Fremdweltler zu zertrümmern. Nur die Mitglieder einer kleinen, isolierten Gruppe hatten einen Hauch von Abneigung dagegen gezeigt, den Kontakt abzubrechen, doch auch sie zerstörten schließlich die Kommunikatoren, die man ihnen geschickt hatte.

Offensichtlich handelte es sich bei den Wemarern um eine sehr stolze Spezies, die die von den Fremdweltlern angebotene Hilfe unter keinen Umständen annehmen wollte.

Um das Risiko einer weiteren Verschärfung der Lage zu vermeiden, befolgte der Kommandant des Monitorkorpsschiffs, das den Erstkontakt einleiten sollte und sich auf Umlaufbahn um Wemar befand, den ersten Befehl der Wemarer, indem er keine Kommunikatoren mehr abwarf, und mißachtete den zweiten in der Gewißheit, daß die an ihren Planeten gefesselte Spezies nichts gegen das im Orbit befindliche Schiff unternehmen konnte, und setzte die Untersuchung der Planetenoberfläche fort. Kurz darauf hatte man Wemar zum Notstandsgebiet erklärt und die Rhabwar losgeschickt, um die medizinischen Schwierigkeiten abschätzen und sich — falls möglich — eine Lösung vorschlagen zu lassen.

Tatenlos zuzusehen, während eine intelligente Spezies versuchte, geschlossen Selbstmord zu begehen, war noch nie die Politik der Föderation gewesen.

In einer Entfernung, die mehr als zehnmal so groß wie der Durchmesser Wemars war, tauchte die Rhabwar aus dem Hyperraum auf. Aus dieser Distanz erschien Wemar wie jeder andere normale bewohnte Planet: Die Umrisse der Kontinente und der polaren Eisflächen wurden von geschlossenen oder zerzausten Wolkendecken und den dicken weißen Spiralen der Tiefdruckgebiete verwischt und teilweise unterbrochen. Erst als sich die Rhabwar auf den Abstand von einem Planetendurchmesser genähert hatte, wurden die anomalen Einzelheiten deutlich sichtbar.

Obwohl überall genügend Regenwolken über den Himmel zogen, wies die Oberflächenvegetation lediglich in einem schmalen Streifen rings um den Äquator Spuren normalen Wachstums auf. Ober- und unterhalb des Grüngürtels nahm die Färbung zu den nördlichen und südlichen gemäßigten Zonen hin zunehmend Gelb- und Brauntöne an, bevor sie sich in der Tundra am Rande der polaren Eisgebiete ganz verlief. Ausgedehnte Wüstenflächen waren in diesen Gebieten nicht zu entdecken; es war einfach so, daß die einst dichten Wälder und welligen Wiesen abgestorben und verdorrt oder aufgrund wetterbedingter Blitzeinschläge in großen Feuersbrünsten verbrannt waren, die sich durch ganze Landschaften gefressen haben mußten — und die neue Vegetation kämpfte sich noch immer durch die Asche der alten ans Licht.

Auf dem Unfalldeck war man nach wie vor in diesen Anblick versunken, ohne ihn jedoch zu genießen, als der Captain auf dem Bildschirm des Kommunikators erschien.

„Doktor Prilicla, wir haben eine Nachricht von Captain Williamson von der Tremaar erhalten“, meldete Fletcher. „Wie er sagt, ist es für den Einsatz nicht erforderlich, daß die Rhabwar an seinem Schiff ankoppelt, aber er würde gern gleich mit Ihnen sprechen.“

Nach Gurronsevas Auffassung bekleidete der Kommandant eines Vermessungs- und Erstkontaktschiffs des Monitorkorps bestimmt einen sehr viel höheren Rang als der Captain eines Ambulanzschiffs, und dieser hier hatte offenbar vor, nun davon Gebrauch zu machen.

„Chefarzt Prilicla“, meldete sich Williamson ohne Einleitung, „ich möchte niemanden persönlich beleidigen, aber ich bin ganz und gar nicht erfreut, Sie hier zu sehen. Das liegt daran, daß ich nicht glücklich mit einer Einsatzphilosophie bin, der fast so etwas wie Verzweiflung zugrunde liegt und die anscheinend von der Annahme ausgeht, daß, wenn Ihre Anwesenheit hier nicht schadet, sie vielleicht etwas nützen könnte. Aus Ihren Anweisungen wissen Sie ja bereits, daß die Lage hier ziemlich vertrackt ist, und für eine Verbesserung gibt es keinerlei Anzeichen. Zwar überwachen wir den Planeten ständig mit Kameras und Oberflächensensoren, aber wir stehen mit niemandem auf Wemar in direkter Verbindung. Dort unten gibt es eine kleine Gruppe von Wemarern, die möglicherweise etwas weniger stolz und halsstarrig oder einfach intelligenter als die anderen ist und von der wir den Eindruck gewonnen haben, daß ein paar von ihren Mitgliedern durchaus der Auffassung waren, von unseren Hilfsangeboten profitieren zu können. Doch auch diese Wemarer haben schließlich aufgehört, mit uns zu sprechen, und die Translatoren zerstört. Ich persönlich glaube nach wie vor an die Möglichkeit, daß diese Gruppe die Verbindung wiederaufnimmt — vorausgesetzt, wir unterlassen alles, was sie kränken könnte — und uns, wenn wir vorsichtig vorgehen, in die Lage versetzt, erneut in Kontakt mit den anderen, weniger zugänglichen Gruppen zu treten, die mit der Zeit die umfangreiche Katastrophenhilfe akzeptieren werden, die sie so dringend benötigen.“

Williamson holte tief Luft und fuhr fort: „Unabhängig von Ihren guten Absichten, Doktor, könnte das ungebetene Hereinplatzen der Rhabwar in eine derartige Situation all diese schwachen Hoffnungen für die Zukunft zunichte machen. Und falls Sie in einem Gebiet in Äquatornähe landen sollten, wo die politische Macht und die Überreste der Verteidigungstechnik der Wemarer konzentriert sind, könnte das sogar zu Schäden an Ihrem Schiff und zu Opfern unter der Besatzung führen. Die Bemühungen eines kleinen medizinischen Teams werden sich nicht wesentlich auf die hiesigen Umstände auswirken, außer vielleicht zum Schlechten.“

Während der Captain der Tremaar all das sagte, verfolgte Gurronsevas mit prüfendem Blick dessen Verhalten und die kleinen Veränderungen im Gesichtsausdruck. Bei Williamson handelte es sich um einen Terrestrier, der in vieler Hinsicht Chefpsychologe O’Mara ähnelte. Die buschigen Sicheln über den Augen und der Kopfbewuchs, der unter der Uniformmütze hervorlugte, wiesen dieselbe metallisch graue Tönung auf, die Augen wandten sich niemals ab und blinzelten nicht, und die Äußerungen des Captains waren von jener Selbstsicherheit erfüllt, die aus der Gewohnheit, Befehle zu erteilen, resultierte. Vom Auftreten her war Williamson jedoch wesentlich höflicher als O’Mara.

Schon die zuvor erhaltenen Instruktionen hatten angedeutet, daß sich das medizinische Team auf einige Auseinandersetzungen mit den vor Ort befindlichen Autoritäten gefaßt machen konnte, aber das hier klang nach Gurronsevas Dafürhalten nach einer wirklich ernsthaften Meinungsverschiedenheit. Er fragte sich, was ein schüchterner und zurückhaltender Empath wie Prilicla gegen einen derart starken Widerstand ausrichten konnte.

„Leider kann ich Ihnen nicht befehlen, zurück zum Orbit Hospital zu fliegen, weil Sie theoretisch an jedem Katastrophenort automatisch die Einsatzleitung übernehmen, und die hiesige Lage könnte sich schnell zu einer Katastrophe von ungeahnter Größenordnung entwickeln. Doch bei den Wemarern handelt es sich um eine stolze Spezies, deren Zivilisation zwar untergeht, aber — wie es in solchen Situationen oft der Fall ist — noch viel von der Waffentechnik bewahrt hat. Wir wollen hier keinen weiteren Zwischenfall wie den auf Cromsag riskieren. Um der Sicherheit Ihrer Besatzung willen und zur Vermeidung des seelischen Schocks, den ein Empath durch einen Fehlschlag mit Opfern erleiden könnte, den er zu verantworten hätte, möchte ich Ihnen dringend raten, sofort zum Orbit Hospital zurückzukehren.

Bitte denken Sie ernsthaft über meinen Ratschlag nach, Doktor, und lassen Sie mich Ihre Absichten so bald wie möglich wissen“, schloß Williamson.

Prilicla schwebte weiterhin ruhig vor der Kamera des Kommunikators in der Luft und ließ, wie Gurronsevas sah, keinerlei Anzeichen einer Einschüchterung erkennen — vielleicht kannte er auch nur eine einzige Art, auf die er einem anderen denkenden Wesen, ungeachtet dessen hohen Rangs oder schlechter Manieren, gegenübertrat. „Captain, für die Sorge um die Sicherheit meiner Besatzung und für die ganz richtige Befürchtung, ich persönlich würde psychisch darunter leiden, falls jemand Verletzungen davontrüge, bin ich Ihnen dankbar“, antwortete der Empath. „Nachdem Ihnen das bekannt ist, müssen Sie ebenfalls wissen, daß ich zur körperlich zerbrechlichsten, schüchternsten und unabänderlich feigsten Spezies der Föderation gehöre. Wir Cinrussker schrecken vor nichts zurück, um körperliche Schmerzen oder emotionales Unbehagen von uns selbst und denjenigen, die sich gerade in unserer Nähe befinden, abzuhalten, was für einen Empathen ein und dasselbe ist. Mein Freund, daß ich keine unnötigen Risiken eingehe, ist ein Naturgesetz, ein Gebot der Evolution.“

Williamson schüttelte ungeduldig den Kopf. „Sie sind der ranghöchste medizinische Offizier auf der Rhabwar, dem Ambulanzschiff, das mehr hoch gefährliche Rettungseinsätze durchgeführt hat als jedes andere Schiff des Monitorkorps“, entgegnete er. „Natürlich können Sie behaupten, daß diese Risiken zum jeweiligen Zeitpunkt notwendig und unvermeidlich gewesen sind, und zwar selbst für ein Wesen, für das Feigheit lebensnotwendig ist. Aber bei allem Respekt, Doktor, die Gefahren, die Sie auf Wemar auf sich nehmen würden, sind überflüssig, vermeidbar und dumm.“

Prilicla zeigte keinerlei körperliche Reaktion auf die barschen Worte des Captains, und das mußte, wie Gurronsevas schlagartig klar wurde, daran liegen, daß sich die Tremaar viele tausend Kilometer entfernt auf der Umlaufbahn um Wemar befand und selbst für einen Empathen von Priliclas Feinfühligkeit zu weit entfernt war, um Williamsons emotionale Ausstrahlung noch wahrzunehmen. In freundlichem Ton antwortete Prilicla: „Als erstes habe ich die Absicht, mir selbst ein Bild von der Lage in der gemäßigten Zone im Norden zu machen, wo die Technik und die Lebensbedingungen primitiv und die Wemarer hoffentlich geistig flexibler sind. Danach werde ich mich entscheiden, ob wir landen oder nicht und ob wir den Einsatz abbrechen.“

Captain Williamson atmete hörbar aus, sagte aber nichts.

„Falls wir landen, wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie das betreffende Gebiet weiterhin aus dem Orbit beobachten würden, damit Sie uns vor feindlichen Aktionen warnen können, die die Einheimischen eventuell gegen uns starten“, fuhr Prilicla fort. „Der Meteoritenschild der Rhabwar wird das Schiff zwar vor allen Gegenständen schützen, mit denen uns die Wemarer angreifen könnten, doch selbstverständlich liegt es nicht in meiner Absicht, gar einen Krieg anzufangen, nicht einmal einen Verteidigungskrieg. Deshalb werde ich in einem solchen Fall sofort starten und woanders hinfliegen, bevor es zu einem Konflikt kommen kann. Außerdem hätte ich gern alle neuen Informationen, die in unseren vorläufigen Instruktionen noch nicht enthalten gewesen sind. Mir wäre es sehr lieb, diese Informationen zu erhalten, sobald Sie es einrichten können.

Unser Hauptinteresse gilt den Gebieten, in denen es nur wenig oder gar keine Waffentechnik gibt und wo die dicht am Existenzminimum lebende Bevölkerung einen überdurchschnittlich hohen Anteil an Kindern aufweist“, erläuterte Prilicla weiter. „Wir gehen davon aus, daß die Wemarer Eltern insofern anderen zivilisierten Lebewesen ähneln, als daß sie bereit sein werden, den Stolz ihrer Spezies und die Wut über Einmischungen von außen zurückzustellen, wenn sie dadurch den Hunger ihrer Kinder lindern können. Falls dieser erste Schritt verwirklicht werden kann und die Eltern dahingehend beeinflußt werden können, unsere Hilfe anzunehmen, wäre es ratsam, deren Scham auf das Mindestmaß zu reduzieren, indem man den Einsatz zur Versorgung der Einheimischen mit Nahrungsmitteln nicht allzu auffällig durchführt.“

Für einen Moment drehte Williamson den Kopf zur Seite, um jemandem, der sich außerhalb des Blickwinkels der Kamera befand, leise eine Anweisung zu geben. Dann wandte er sich wieder Prilicla zu und sagte: „Wir wissen beide, daß Sie das Sagen haben, sobald Sie in einem Katastrophengebiet gelandet sind — das sich in diesem Fall über den ganzen verdammten Planeten erstreckt. Also schön, im Moment brauchen Sie die ständige Versorgung mit den neuesten Nachrichten, die schützende Überwachung aus dem Orbit und — falls erforderlich — heimliche nächtliche Abwürfe von Lebensmitteln zur rechten Zeit. Das alles sollen Sie bekommen. Benötigen Sie sonst noch etwas?“

„Danke, nein, mein Freund“, antwortete Prilicla.

Williamson schüttelte bedächtig den Kopf und fuhr fort: „Man hat mich von vornherein davor gewarnt, daß der Versuch, Sie umzustimmen, wie ein Kampf gegen Spinnweben sein würde — ein Maximum an Energieaufwand bei einem Minimum an Erfolg. Alles, was ich sagen konnte, um Sie von Ihrem Vorhaben abzubringen, habe ich gesagt. Ich wollte Ihnen lediglich einen guten Rat geben, Doktor, auch wenn ich Sie nicht zwingen kann, ihn anzunehmen, aber. Seien Sie dort unten ganz vorsichtig, mein Freund.“

Bevor Prilicla etwas entgegnen konnte, verschwand Williamsons Gesicht vom Schirm, auf dem jetzt das von Captain Fletcher auftauchte. „Die Tremaar übermittelt uns bereits die neuesten Informationen, um die Sie gebeten haben. Wie mir der Kommünikationsofllizier der Tremaar mitteilt, sind ein paar schöne Nahaufnahmen von jungen und erwachsenen Wemarern dabei sowie eine Aufstellung der Verteidigungsanlagen und einige Angaben zur Sozialstruktur und zum sozialen Verhalten, die zum Großteil auf Vermutungen beruhen — letzteres ist jedoch inoffiziell. Sobald wir die neuen Informationen haben, werde ich sie über Ihren Repeaterschirm abspielen. Unterdessen nähern wir uns Wemar mit Reisegeschwindigkeit und werden schätzungsweise in zweiunddreißig Stunden und zwei Minuten in die niedrige Umlaufbahn eintreten.“

„Danke, mein Freund“, entgegnete der Empath. „Dann bleibt uns ja reichlich Zeit, um uns noch vor der Landung die neuen Informationen anzusehen.“

„Oder unsere Meinung über die Landung zu ändern“, warf Naydrad ein.

Murchison lachte leise und meinte: „Das glaube ich nicht, das wäre viel zu vernünftig.“

Wenige Minuten später liefen die Neuigkeiten über den Hauptschirm, und während der Diskussion, die sich daran anschloß, mußte Gurronsevas rasch feststellen, wie man sich als unbeteiligter Beobachter fühlte.

Überraschenderweise war es gerade der Nichtmediziner Fletcher, der die Diskussion eröffnete, indem er sagte, sein Kollege auf der Tremaar habe mit der Bedrohung, die von den schweren Waffen der Wemarer ausgehe, bei allem Respekt absichtlich übertrieben. Diese Waffen seien, wie man an Bord der Rhabwar selbst gesehen habe, sehr alt und stark verrostet und würden keinerlei Anzeichen eines kürzlichen Gebrauchs aufweisen, während die Geschützstellungen und das Verbindungssystem aus Schützengräben entweder überwuchert oder durch natürliche Erosion stark abgetragen seien.

Zwar gehörten die weitreichenden Waffen zu dem Typ mit chemischer Zündung, aus dem man massive oder explodierende Projektile abfeuere, doch nach Fletchers Ansicht stellten die Waffen für die Schützen eine größere Gefahr dar als für die Beschossenen. Da die abgeworfenen Kameras nicht in ein Gebäude oder unterirdisches Waffenlager der Wemarer gelenkt werden könnten, ohne sofort gesehen und zerstört zu werden, sei es zwar möglich, daß die Wemarer über versteckte Arsenale mit tragbaren Waffen verfügten, aber auch das sei unwahrscheinlich.

„Der Grund für diese Annahme beruht auf den heimlichen Beobachtungen der jungen Wemarer“, fuhr Fletcher fort. „Wie die meisten Kinder spielen sie Jäger oder Soldat, wobei sie die Spielzeugspeere oder die Pfeile und Bogen benutzen, bei denen es sich um die harmlosen, verkleinerten Nachbildungen der Waffen der Erwachsenen handelt. Aber kein einziges Kind ist gesehen worden, das eine Spielzeugwaffe auf etwas gerichtet und dazu „Peng!“ gerufen hätte — dieses lautimitierende Wort scheint ja zufällig in den Sprachen aller Spezies ähnlich zu klingen. Deshalb ist es unwahrscheinlich, daß der Gebrauch von Waffen mit chemischer Zündung bei den Eltern weit verbreitet ist. Außerdem hat die Bevölkerung der befestigten Dörfer, wie wir gesehen haben, dermaßen abgenommen, daß die Verteidigungsanlagen gar nicht mehr vollständig besetzt werden können. Meiner Ansicht nach sind die frühen Befestigungen angelegt worden, um Angreifer abzuwehren, die auf Nahrungssuche gewesen sind. Doch heutzutage sind die überlebenden Wemarer so weit verstreut und ihre Anzahl und die der Tiere, die auf ihrem Speiseplan stehen, hat derart abgenommen, daß sie nicht mehr imstande sind, für einen Angriff weite Strecken zurückzulegen, weil sie wahrscheinlich verhungern würden, bevor sie das Dorf erreichen, das sie angreifen wollen.

Ich glaube, Captain Williamson hat versucht, uns zu verscheuchen, bevor wir uns einen genauen Überblick über die Lage verschaffen konnten“,

schloß Fletcher. „Meinem Eindruck nach stellen die Wemarer keine Bedrohung für Leib und Leben dar. Was ich nicht verstehe, ist, weshalb diese Wesen beim Essen so wählerisch sind, obwohl sie kurz vorm Verhungern stehen.“

„Vielen Dank, mein Freund“, sagte Prilicla. „Ihre Ausführungen haben uns sehr beruhigt. Außerdem stellen wir uns dieselben Fragen. Freund Danalta, ich spüre, daß Sie etwas sagen wollen.“

Der Gestaltwandler, der zur Zeit wie ein grüner organischer Klumpen aussah, erbebte, bildete zusätzlich zu dem einzelnen Auge einen beweglichen, unförmigen Mund aus und sagte: „Ich habe festgestellt, daß ein zivilisiertes Lebewesen durch Hunger dazu getrieben werden kann, sich auf äußerst unzivilisierte Weise zu verhalten, insbesondere dann, wenn die Nahrungspalette des Betreffenden sehr begrenzt ist. Glücklicherweise konnte meine eigene Spezies überleben und Intelligenz entwickeln, indem sie einfach alles gefressen hat, was nicht versucht hat, sie zu fressen. Aber können wir entscheiden, ob das auf eine Tradition, auf eine Form der frühen Glaubensausrichtung oder auf eine grundlegende physiologische Notwendigkeit zurückzuführen ist?“

„Bisher sind auf Wemar keine Gräber entdeckt worden“, gab Fletcher zu bedenken. „Das äußere Zeichen der Ehrung oder des Gedenkens an die Toten kann auf den Glauben an ein Leben nach dem Tod hindeuten. Natürlich können wir das nicht mit Sicherheit sagen, doch nach den bisherigen Informationen scheinen die Wemarer nicht religiös zu sein.“

„Danke, Doktor“, sagte Murchison, als ihr Prilicla das Wort erteilte. Dann ging sie zur Computerkonsole, rief über die Tastatur noch einmal die von der Tremaar übermittelten Informationen ab und hielt die Aufzeichnungen an, als auf dem Schirm die erste der vielen Nahaufnahmen der Einheimischen erschien. „Die Wemarer Lebensform gehört zur physiologischen Klassifikation DHCG. Für die Nichtmediziner unter uns: Es handelt sich also um eine warmblütige sauerstoffatmende Spezies, deren ausgewachsener Körper knapp dreimal so schwer wie der eines Terrestriers und in gesundem Zustand verhältnismäßig muskulös ist, da die Schwerkraft auf Wemar an der Oberfläche eins Komma drei acht Ge beträgt.“

Falls überhaupt, dachte Gurronsevas, als Murchison die übrigen Fotos und Filmaufnahmen von Wemarern über den Schirm laufen ließ, dann ähnelten die DHCGs einem seltenen terrestrischen Tier namens Känguruh, von dem er einmal ein Bild gesehen hatte. Die Unterschiede bestanden darin, daß der Kopf der Wemarer größer war und ein Maul mit wirklich furchterregenden Zähnen besaß; die kurzen Vorderglieder endeten in sechsfingrigen Händen, deren Daumen den Fingern gegenübergestellt werden konnten, und der Schwanz war größer und schwerer und verjüngte sich zu einer breiten, flachen, dreieckigen Spitze, die aus einer starren knöchernen Substanz bestand, die wiederum von einer dicken Muskelschicht umgeben war. Die Abflachung am Ende des Schwanzes erfüllte, wie Murchison erklärte, einen dreifachen Zweck: Sie diente als wichtigste natürliche Waffe, als Behelfsorgan zur schnellen Fortbewegung, wenn sich der DHCG auf der Jagd befand oder selbst gejagt wurde, und als Transportmittel für Kinder, die noch zu klein zum Laufen waren.

Unter den Aufnahmen befand sich eine reizende Szene mit zwei Erwachsenen — Gurronsevas war sich immer noch nicht sicher, welcher Wemarer zu welchem Geschlecht gehörte—, die ihre Schwänze und zwei ihrer vergnügt quiekenden Nachkommen hinter sich herzogen, sowie eine weniger entzückende Sequenz, in der sie sich auf der Jagd befanden. Damit begannen sie, indem sie mit fest verschränkten Armen eine unbeholfene, fast lächerlich wirkende Stellung einnahmen: dabei berührte das Kinn den Boden, und die langen Beine waren weit gespreizt, damit sich der Schwanz zwischen ihnen scharf nach oben und unten krümmen und so den Gleichgewichtspunkt des Körpers bilden konnte. Wurde der Schwanz plötzlich zu voller Länge gestreckt, diente er als kräftiges drittes Bein, durch das die Wemarer imstande waren, sich fünf oder sechs Körperlängen nach vorne zu schnellen.

Wenn der Jäger nicht direkt auf seiner Beute landete und das Tier mit den Füßen bewußtlos trat, bevor er es mit einem tiefen Biß in die Halswirbel und die darunterliegenden Nervenstränge lahmte, dann drehte er sich schnell auf einem Bein um die eigene Achse und erschlug das Opfer auf diese Weise mit der abgeflachten Schwanzspitze wie mit einer stumpfen organischen Axt.

„Obwohl der Schwanz nach unten und nach vorne äußerst biegsam ist, kann er nicht über die Horizontale des Rückgrats gehoben werden“, fuhr Murchison fort. „Genaue Einzelheiten werden wir erst erfahren, wenn wir in der Lage sind, eine Untersuchung mit dem Innenscanner vorzunehmen, doch aus dem äußerlich sichtbaren Bau der Rücken- und Schwanzwirbel und der mit ihnen verbundenen Muskulatur können Sie erkennen, daß es unmöglich ist, den Schwanz ohne eine schwerwiegende Wirbelverschiebung nah an den Rücken zu biegen. Daher sind der Rücken und die oberen Flanken die einzigen Körperbereiche der Wemarer, die nicht gegen Angriffe durch natürliche Feinde geschützt sind, die zusätzlich allerdings noch über ein Überraschungsmoment verfugen müssen, wenn sie nicht selbst zum Opfer werden wollen.“

Nun folgte eine Szene, die einen Vierbeiner zeigte, der sich von einem überhängenden Ast auf einen Wemarer stürzte und dessen Fell so schwarz war, daß vom Körper außer den langen, scharfen Zähnen und den noch längeren Krallen nur wenige Einzelheiten zu erkennen waren. Das Tier schlug dem DHCG die Krallen tief in den von einem Mantel bedeckten Rücken und riß ihm an der Seite den Hals auf, während der Wemarer mit Hilfe seines Schwanzes wie wild umhersprang und versuchte, das Tier abzuschütteln, damit er seinen Speer einsetzen konnte. Entweder durch Zufall oder mit Absicht stieß der DHCG schließlich bei einem seiner fast senkrechten Sprünge gegen die Unterseite eines anderen überhängenden Asts und zerquetschte das Raubtier, wobei ihm selbst eine große Menge Blut und innere Organe durch den Mund herausgepreßt wurden. Danach stürzten beide zu Boden, wo sie, wie Murchison erklärte, wenige Minuten später starben.

Bevor ihm von dem Anblick übel werden konnte, richtete Gurronsevas die Augen auf den nächsten Bildschirm.

„Das Tier mit dem schwarzen Fell ist wahrscheinlich das gefährlichste Tier, auf das die DHCGs wegen seines Fleisches Jagd machen, und man kann sich auf jeden Fall darüber streiten, wer eigentlich wen frißt“, setzte Murchison ihre Ausführungen fort. „Doch genug von dieser blutigen Angelegenheit. Die habe ich Ihnen nur gezeigt, um Sie sowohl gegenüber den intelligenten als auch den nichtintelligenten Lebewesen auf Wemar bewußter und vorsichtiger zu machen und um einen wichtigen Punkt in der Anatomie der DHCG zu betonen. Die Bestätigung wird bis zu einem Innenscannen des Magens und Verdauungstrakts der Wemarer warten müssen, doch gestützt auf das, was wir von außen gesehen haben, können wir jetzt schon sagen.“

Für mehrere Minuten verfiel die Pathologin in eine dermaßen massive Fachsprache, daß Gurronsevas nur noch jedes zweite Wort verstand. Doch ihre Schlußzusammenfassung war, vielleicht mit Rücksicht auf den Tralthaner, klar verständlich und schlicht.

„…folglich kann es keinen Zweifel daran geben, daß sich die DHCG-Lebensform als Allesfresser entwickelt hat und dies bis heute geblieben ist“, sagte Murchison. „Dafür, daß sie in ihrer Entwicklung jemals den für wiederkäuende Pflanzenfresser charakteristischen mehrteiligen Magen besessen hätte, gibt es keinerlei äußere Anzeichen, und ich möchte behaupten, ihr Verdauungssystem ist nicht spezialisiert und unserem nicht unähnlich — das heißt natürlich mit Ausnahme von Danalta. Rechnen Sie den Umstand hinzu, daß die ganz jungen Wemarer dabei beobachtet worden sind, wie sie eine Mischung aus pflanzlichen und tierischen Stoffen gegessen haben, wobei sich der Anteil des Verzehrs von Fleisch mit Erreichen der Pubertät erhöht. Bei einer vernunftbegabten Spezies bedeutet das, die Gewohnheit, Fleisch zu essen, ist eher eine Sache der persönlichen Entscheidung als eine physiologische Notwendigkeit. In der Vergangenheit der Wemarer hat es vielleicht einmal Umweltfaktoren oder soziale Umstände gegeben, durch die sie bei dieser Entscheidung beeinflußt worden sind, doch in der momentanen Situation ist sie, aus welchem Grund auch immer, falsch. Wenn wir die Wemarer nicht dazu bringen können, ihre derzeitigen Eßgewohnheiten zu ändern, werden sie ihre Beutetiere bis zur völligen Ausrottung jagen, während sie selbst verhungern, weil sie das Jagen nicht lassen können. Als Bauern wären sie vielleicht imstande, gerade so eben zu überleben.“

Murchison hielt inne, blickte alle Anwesenden der Reihe nach mit unbeweglicher und ernster Miene an und sagte dann grimmig: „Irgendwie müssen wir einen ganzen Planeten von Fleischessern davon überzeugen, Vegetarier zu werden.“

Auf ihre Worte folgte eine lange Stille. Weder die Pathologin noch Danalta rührten sich, doch Prilicla wurde von der starken emotionalen Ausstrahlung auf dem Unfalldeck regelrecht durchgeschüttelt, und über Naydrads silbriges ausdrucksfähiges Fell liefen plötzlich kleine Strudel und Wellen, als ob es ebenfalls von einem nicht spürbaren Wind aufgewühlt würde.

Mit lauter Stimme fragte sie: „Ist das etwa der Grund, weshalb Gurronsevas mit an Bord ist?“

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