31. Kapitel

Daß offene Feuer auf ihrem keimfrei sauberen Unfalldeck entzündet wurden und Rauch die Atmosphäre verunreinigte, mißbilligte Naydrad als typische, um Ordnung und Sauberkeit in ihrem medizinischen Reich besorgte Oberschwester aufs äußerste. Pathologin Murchison sagte, es sei schon schlimm genug, zum Rückschritt ins medizinische Mittelalter mit Behandlungen durch Krauter und Breipackungen gezwungen zu sein, ohne auch noch mit der Forderung konfrontiert zu werden, zum Bewohner einer verrauchten Höhle zu werden. Dr. Danalta, der sich allen Umweltbedingungen anpassen konnte, in denen Leben möglich war, hielt sich zwar zurück, war aber mit Gurronsevas’ Vorhaben ebenfalls nicht einverstanden, und Chefarzt Prilicla versuchte, den Frieden zu wahren und die emotionale Ausstrahlung in seiner Umgebung so angenehm wie möglich zu gestalten. Dennoch gab es Momente — so wie jetzt—, in denen Gurronsevas nichts unternahm, um das medizinische Team zu besänftigen.

„Jetzt, wo ich Creethar dazu überredet habe, regelmäßig und in für einen genesenden Patienten ausreichendem Maße zu essen.“, begann er.

„Für einen genesenden Schlemmer“, warfNaydrad ein.

„…ist mir gerade ein neuer Einfall gekommen, der — wie Sie sicherlich gerne hören werden — ebenfalls nicht medizinischer Natur ist“, fuhr Gurronsevas fort. „In Ihrem letzten medizinischen Gespräch, das ich wohl oder übel mit anhören mußte, haben Sie behauptet, der Patient mache gute Fortschritte, man seine Genesung jedoch beschleunigen könnte, wenn man das Essen mit winzigen Mengen von tierischem Eiweiß und bestimmten Mineralien anreichern würde, die alle von unserem Essensspender zur Verfügung gestellt werden könnten.

Mein Einfall ist folgender“, erklärte er weiter. „Da Creethar vor allem Angst hat, was aus dem Essensspender kommt, auch wenn er uns oft dabei beobachtet hat, wie wir uns auf dem Unfalldeck aus dem Spender bedient haben, würde es ihn sehr beruhigen, wenn er uns nicht nur Schiffsproviant,

sondern auch einheimische Gerichte essen sehen würde, die ich zubereitet habe. Mit etwas Glück müßten wir ihn davon überzeugen können, daß ihm das Essen aus dem Spender nichts schadet, weil wir wiederum die einheimische Nahrung vertragen. Dann werden Sie in der Lage sein, die notwendigen Veränderungen an Creethars Ernährung vorzunehmen, durch die er.“

Er brach mitten im Satz ab, weil sich Naydrads Fell am ganzen Körper zu ärgerlichen Stacheln aufgerichtet hatte, Priliclas zerbrechlich wirkender Körper von dem Gefühlssturm durchgeschüttelt wurde, der übers Unfalldeck fegte, und Murchison, deren Gesicht ein dunkleres Rosa angenommen hatte, beide Hände hochhielt.

„Jetzt machen Sie aber mal einen Punkt!“ protestierte die Pathologin. „Es ist schon schlimm genug gewesen, daß Sie hier auf dem Unfalldeck gekocht und uns mit dem Rauch halb erstickt haben. Und jetzt verlangen Sie allen Ernstes von uns, Ihre ekelhaft stinkenden einheimischen Gerichte zu essen? Als nächstes sollen wir wohl auch noch rings ums Lagerfeuer sitzen und Wemarer Lieder singen, damit sich der Patient noch mehr wie zu Hause fühlen kann, wie?“

„Bei allem Respekt“, sagte Gurronsevas in einem Ton, der nicht gerade respektvoll war, „die vorübergehende Verunreinigung der Luft mit Rauch ist keineswegs gesundheitsgefährdend für Sie gewesen, und die Oberschwester hat mir gegenüber einmal erwähnt, der Duft von einigen Gerichten sei gar nicht so unangenehm.“

„Er hat den Gestank des Rauchs überlagert, habe ich gesagt“, korrigierte ihn Naydrad.

„Bevor Sie ein Gericht nicht probiert haben, können Sie gar nicht wissen, ob es stinkt und ekelhaft ist“, fuhr Gurronsevas fort, ohne den Einwurf zu beachten. „Schließlich weiß jeder, der auch nur über einen einigermaßen kultivierten Gaumen verfügt, daß sich Geschmack und Geruch gegenseitig ergänzen. Ich möchte betonen, daß einige der pflanzlichen Soßen, die ich zu den einheimischen Gerichten kreiert habe und die, wie ich Ihnen versichern kann, eine Kostprobe wert sind, über eine derartige Qualität verfügen, daß ich sie nach meiner Rückkehr in die Speisekarte des Orbit Hospitals aufnehmen werde.“

„Zum Glück kann ich alles essen“, merkte Danalta schnippisch an.

Ungeduldig fuhr Gurronsevas fort: „In meinem ganzen Leben habe ich noch kein Gericht verdorben, und ich habe nicht vor, jetzt damit anzufangen. Sie alle üben einen Beruf aus, für den Objektivität die wichtigste Voraussetzung ist. Weshalb lassen Sie sich also jetzt zu rein subjektiven Urteilen hinreißen? Mein Vorschlag lautet, Sie essen jeden Tag zusammen mit Creethar eine vollständige einheimische Mahlzeit, wobei Sie nicht vergessen sollten, daß jedes Herumspielen mit dem Essen oder andere deutlich erkennbare Zeichen der Abneigung bei der Nahrungsaufnahme für den Patienten keineswegs beruhigend wären. Schließlich sind Sie es, die wollten, daß Creethar etwas zu sich nimmt, und jetzt die Anreicherung der Nahrung mit zusätzlichem Eiweiß und Mineralien für notwendig halten. Ich versuche bloß, Ihnen zu erklären, wie das bewerkstelligt werden kann.“

Um zu spüren, daß von der Pathologin Murchison und von Oberschwester Naydrad ein weiterer Gefühlsausbruch unmittelbar bevorstand, brauchte Gurronsevas kein Empath zu sein. Doch es war Chefarzt Prilicla, der mit seiner entschiedenen, aber sanften Autorität als erster das Wort ergriff.

„Ich spüre, daß es gleich zu einem lebhaften Meinungsaustausch kommen wird“, sagte er, während er sich in die Luft erhob und langsam auf den Ausgang zuflog. „Deshalb möchte ich mich jetzt entschuldigen und mich in meine Unterkunft zurückziehen, wo mich die aus der Auseinandersetzung resultierende emotionale Ausstrahlung wegen der Entfernung nur noch gedämpft erreichen wird. Außerdem habe ich das Gefühl — und meine Gefühle täuschen mich nie—, daß Sie sich bestimmt alle an den Zweck der Rhabwar und des medizinischen Teams erinnern und sich ins Gedächtnis rufen werden, was für seltsame Patienten wir schon gehabt haben und auf welche noch merkwürdigere Art wir gezwungen gewesen sind, uns während der Behandlungen an sie anzupassen, damit wir diesen Zweck besser verfolgen konnten. Ich lasse Sie allein, damit Sie sich streiten und vor allem an das denken können, was ich eben gesagt habe.“

Die Auseinandersetzung ging weiter, wenngleich alle wußten, daß Gurronsevas diese bereits längst gewonnen hatte.

Im Laufe der nächsten vier Tage fanden die Wemarer das letzte der in der Mine zurückgelassenen Kommunikations- und Abhörgeräte und zerstörten es. Aus den wenigen Worten, die man vor dem Abbruch der Verbindung noch hören konnte, wurde deutlich, daß die sogenannten Fremdweltler ein ganz schändliches Verbrechen begangen und nichts als die tiefste Verachtung verdient hätten. Als Gurronsevas frühmorgens Kräuter und andere Pflanzen sammelte, versuchte er, sich mit einer Lehrerin zu unterhalten, die eine der Arbeitsgruppen beaufsichtigte, doch die alte Wemarerin klappte einfach die Ohren zu, und die Kinder hatte man offensichtlich angewiesen, ihn nicht zu beachten. Da jeglicher Kontakt abgerissen war, wußte das medizinische Team nicht, welchen Vergehens es sich schuldig gemacht hatte oder wie es sich dafür entschuldigen sollte. Doch als Gurronsevas anbot, uneingeladen in die Mine zu gehen und Remrath um eine Erklärung zu bitten, sagte Prilicla, die Wut und Enttäuschung der Wemarer seien derart groß, daß er die emotionale Ausstrahlung der Minenbewohner noch auf der einen halben Kilometer entfernt liegenden Rhabwar spüre, und eine weitere Verschlechterung der Situation — sofern das überhaupt noch möglich sei — könne und wolle er nicht riskieren.

Mit Creethar war die einzige Möglichkeit gegeben, den Kontakt wieder voll und ganz herzustellen, dessen war sich der Cinrussker sicher.

Bei dem Patienten erzielte man gute Fortschritte. Nach Prilicla, der wie stets die Ansicht vertrat, er müsse mit gutem Beispiel vorangehen, nahmen auch die übrigen Mitglieder des medizinischen Teams Gurronsevas’ einheimische Gerichte als Hauptmahlzeit des Tages ein. Sie hatten sich bereit erklärt, seine Kochkünste nicht in Gegenwart des Patienten zu kritisieren. Und wenn Gurronsevas morgens von Creethars Seite wich, um schnell einige Krauter und andere Pflanzen zu sammeln, war er sich keiner negativen Kritik bewußt.

Doch als man Creethar schließlich dazu bewegt hatte, tatsächlich ein wenig Nahrung mit den notwendigen Heilmitteln aus dem Essensspender zu sich zu nehmen, und wegen der ständigen Zunahme seines Körperumfangs die Haltegurte lockern mußte, machte man dem Chefdiätisten sogar so etwas wie Komplimente.

„Das heutige Essen war gar nicht schlecht, Gurronsevas“, gab Murchison widerwillig zu. „Und an dem Lutij- und Yant-Dessert könnte ich mit der Zeit noch Geschmack finden.“

„So wie an bitterer Medizin“, merkte Naydrad an. Da ihr Fell jedoch glatt blieb, wie Gurronsevas feststellte, konnte der Kelgianerin das Dessert nicht allzu sehr mißfallen haben.

„Die Art, auf die Sie das Hauptgericht zubereitet haben, hat mir sehr gefallen“, lobte ihn Prilicla, der immer schwieg, wenn er nichts Schmeichelhaftes sagen konnte. „Obwohl der Geschmack und die Beschaffenheit vollkommen anders sind, würde ich es in der Nähe meines anderen nichtcinrusskischen Lieblingsgerichts, terrestrischen Spaghetti mit Tomatensoße und Käse, einstufen. Aber im Moment habe ich ein starkes Völlegefühl und muß unbedingt noch ein paar Flugübungen draußen vorm Schiff unternehmen. Hätte jemand von Ihnen Lust, mich zu begleiten?“

Er blickte einzig und allein Gurronsevas an.

Prilicla sprach kein weiteres Wort mit ihm, bis sie sich beide außerhalb des Schiffs befanden und der Schutzschirm kurz ausgeschaltet worden war, um sie hindurchzulassen. Zusammen mit dem Empathen, der dicht über seiner Schulter flog, entfernte sich Gurronsevas langsam vom Mineneingang und ging ins Tal hinunter. Der eingeschlagene Weg mußte ihn in einer Entfernung von hundert Metern an einer Arbeitsgruppe von Weimarern vorbeiführen, doch er wußte, daß ihn die aufsichtsführende Lehrerin nicht beachten würde.

„Freund Gurronsevas“, sagte der Empath plötzlich, „allmählich gewinnen wir — doch in noch größerem Maße Sie — Creethars Vertrauen, und da wäre es nicht gerade förderlich, wenn wir ihn von unseren Gesprächen ausschließen, indem wir seinen Translator abschalten. Deshalb wollte ich mich mit Ihnen allein unterhalten.

Sie müssen bereits vermutet haben, daß wir Creethar jetzt aus der Behandlung entlassen können“, fuhr Prilicla fort. „Abgesehen von einem ruhiggestellten Bein, dessen Gipsverband in zwei Wochen abgenommen werden soll, wenn die gebrochenen Knochen wieder vollständig zusammengewachsen sind und das Körpergewicht tragen können, hat sich Creethar gut von seinen Verletzungen erholt. Eigentlich müßte er über die Aussicht, ins normale Leben zurückkehren zu können, glücklich, erleichtert und zufrieden sein, aber das ist er keineswegs. Über die Gemütsverfassung unseres Patienten bin ich alles andere als froh. Irgend etwas mit ihm stimmt ganz und gar nicht, und ich wüßte gerne, was es ist, bevor ich Creethar zu seinen Freunden zurückschicke. Das werde ich in spätestens zwei Tagen tun, denn es liegt kein medizinischer Grund vor, ihn noch länger an Bord zu behalten.“

Gurronsevas blieb stumm. Der Cinrussker formulierte ein bestehendes Problem neu, stellte aber keine Frage.

„Es könnte gut sein, daß all unsere Probleme gelöst sind, wenn wir Creethar zu seinen Freunden zurückschicken“, setzte der Empath seine Ausführungen fort. „Wenn nicht alle Hoffnung trügt, verringert sich dadurch die momentane Feindseligkeit der Wemarer gegen uns. Zudem könnte diese Maßnahme Ihre persönliche Freundschaft mit Remrath wiederherstellen und es uns ermöglichen, den freundschaftlichen Kontakt fortzusetzen. Aber die Wemarer haben irgend etwas an sich, das wir noch nicht ganz begreifen und das bei unserem Patienten unerklärliche Gefühlsreaktionen hervorruft. Bevor wir die Ursachen für diese unnatürlichen Empfindungen nicht vollkommen verstanden haben, ist es vielleicht ein weiterer und noch größerer Fehler, ihn nach Hause zu schicken. Was Sie sagen oder fragen könnten, weiß ich nicht, denn schon ganz allgemeine und flüchtige Erwähnungen seines Vaters Remrath, der Jagdfreunde und des Lebens in der Mine rufen bei Creethar eine unverhältnismäßig starke Gefühlsreaktion hervor, die Ähnlichkeit mit der eines verängstigten Wesens hat, dessen tiefste Überzeugungen unter Beschüß stehen.

Ich weiß, daß Sie kein ausgebildeter Psychologe sind, mein Freund, aber glauben Sie, Sie könnten sich die nächsten zwei Tage ausführlich mit Creethar unterhalten? Sprechen Sie über ungefährliche Gemeinplätze und lauschen Sie dabei — wie wir es alle tun werden — auf die typischen Kleinigkeiten, die meiner Erfahrung nach viele Wesen, die unter dieser Art der emotionalen Anspannung leiden, insgeheim verraten wollen. Falls sich im Gesprächsverlauf etwas ergibt, das das medizinische Team tun oder unterlassen sollte, oder Ihnen ein Einfall kommt, der hilfreich sein könnte, dann setzen Sie uns davon in Kenntnis. Für die nichtmedizinische Behandlung übertrage ich Ihnen hiermit die rechtskräftige Leitung.

Creethar vertraut Ihnen“, schloß Prilicla. „Es ist wahrscheinlicher, daß er Ihnen seine Schwierigkeiten erzählt als uns. Würden Sie mir den Gefallen tun und mit ihm sprechen, mein Freund?“

„Habe ich das nicht schon die ganze Zeit inoffiziell getan?“ antwortete Gurronsevas mit einer Gegenfrage.

„Ja, aber jetzt handelt es sich um ein offizielles Gesuch des Leiters des medizinischen Teams um fachliche Unterstützung in der entscheidenden Phase des Kontakts zu den Wemarern“, entgegnete Prilicla. „Das muß so sein, damit ich allein die Verantwortung trage, falls Sie keinen Erfolg haben. Sie dürfen sich nicht selbst die Schuld geben, wenn etwas schiefgeht, und das übrige medizinische Team wird Ihnen unter diesen äußerst ungewöhnlichen Umständen ebenfalls nichts vorwerfen. Es ist nicht leicht, Sie zu mögen, mein Freund. Sie haben allzu große Ähnlichkeit mit einigen Ihrer neuesten einheimischen Gerichte, und zwar insofern, als man erst Geschmack an Ihnen finden muß. Doch durch Ihre Unterstützung bei Creethar haben Sie sich unsere Achtung und Dankbarkeit erworben, und niemand von uns wird Ihnen auch nur das Geringste vorwerfen, wenn es Ihnen nicht gelingt, ein Problem zu lösen, an dem wir selbst auch schon gescheitert sind. Wie denken Sie darüber, mein Freund?“

Gurronsevas schwieg einen Augenblick lang und antwortete dann: „Ich fühle mich geschmeichelt, ermutigt und beruhigt und möchte gerne alles tun, was in meinen Kräften steht, um zu helfen. Doch da Sie ein Empath sind, kennen Sie ja meine Gefühle schon, und ich glaube, Sie haben von Anfang an vorgehabt, diese Empfindungen in mir hervorzurufen.“

„Da haben Sie allerdings recht“, gestand Prilicla und stieß einen kurzen, gerollten, unübersetzbaren Laut aus, bei dem es sich möglicherweise um die cinrusskische Variante des Lachens handelte. „Aber ich habe nicht an Ihrer emotionalen Ausstrahlung herumgedoktert. Der Wunsch zu helfen war bei Ihnen bereits vorhanden. Jetzt spüre ich, daß Sie noch etwas sagen möchten.“

„Ja, ich möchte ein paar Vorschläge machen“, sagte Gurronsevas. „Ich glaube, Sie sollten den genauen Ort und Zeitpunkt für Creethars Rückkehr festlegen und Remrath und die anderen davon in Kenntnis setzen, falls die irgendwelche Vorbereitungen treffen wollen. Wie wir wissen, sind die Wemarer ganz wild darauf, Creethar wiederzubekommen, und sie über den Zeitpunkt der Übergabe zu informieren wäre ein Akt der Freundlichkeit, durch den sie uns gegenüber vielleicht weniger feindselig auftreten würden. Ich denke, der beste Moment für die Übergabe wäre am frühen Vormittag, wenn die Arbeitsgruppen und die Lehrerinnen zum Mittagessen in die Mine zurückkehren. Das würde viele Zuschauer und die größtmögliche Wirkung garantieren, doch ob diese Wirkung gut oder schlecht sein wird, kann ich nicht sagen.“

„Ich auch nicht“, räumte Prilicla ein. Schnell gab er den Zeitpunkt und die Umstände, unter denen Creethars Entlassung erfolgen sollte, bekannt und fuhr dann fort: „Aber wie wollen Sie die Wemarer davon unterrichten, wo die doch immer gleich die Ohren zumachen, wenn wir mit ihnen zu sprechen versuchen? Haben Sie das Problem schon vergessen? Zumindest spüre ich nicht, daß Sie sich darüber Sorgen machen.“

Gurronsevas hatte sich schon immer bemüht, nichts zu verschwenden, ob es sich nun um Zeit, Material oder Atem handelte. Anstatt die Frage zu beantworten, blieb er stehen, wandte sich mit seinem gewaltigen Körper ein wenig zur Seite, um den Mund auf die Arbeitsgruppe von Wemarern zu richten, die sich weniger als zweihundert Meter entfernt befand, und holte tief Luft.

„Dies ist eine Bekanntmachung der Bewahrer von Creethar auf dem außerplanetarischen Schiff!“ rief er langsam und deutlich und sehr laut. „Der Jäger Creethar wird seinen Freunden übermorgen eine Stunde vor der Mittagszeit am Mineneingang übergeben werden.“

Gurronsevas konnte sehen, wie die Lehrerin gleich bei den ersten Worten die Ohren zuklappte, und die Wut in ihrer Stimme hören, als sie versuchte, die Schüler zu bewegen, ihrem Beispiel zu folgen, während er die Bekanntmachung wiederholte. Doch die Lehrerin hatte keinen Erfolg, weil die Kinder in kleinen Kreisen um sie herumhüpften und sich aufgeregt etwas zuriefen. Wie Gurronsevas wußte, hatten die erwachsenen Wemarer zwar den Fremdweltlern gegenüber die Ohren verschlossen, aber den eigenen Kindern nicht mehr zuzuhören, das konnten sie unmöglich tun.

Bis zum Einbruch der Dunkelheit würde sich die Nachricht von Creethars Rückkehr in der gesamten Mine herumgesprochen haben.

„Gut gemacht“, lobte Prilicla den Tralthaner, wobei er eine elegante Kurve flog, bis er mit dem Kopf wieder dem Schiff zugewandt war. „Aber jetzt müssen Sie Ihre Stimme noch ein ganzes Stück mehr strapazieren. Kehren wir zum Patienten zurück.“

Es war fast so, als wäre Creethar Gurronsevas’ Patient geworden. Man ließ die beiden immer für lange Zeit auf dem Unfalldeck allein, während sich das medizinische Team in den Unterkünften oder auf dem winzigen Deck mit den Speise- und Aufenthaltsräumen der Rhabwar aufhielt. Gurronsevas war bewußt, daß jedes einzelne Wort, das zwischen ihm und Creethar fiel, von Wiliamson auf der Tremaar aufgezeichnet wurde, doch die Kommentare oder die Kritik des Captains verschwieg man ihm, so daß er sich ohne Ablenkung mit dem Patienten unterhalten konnte.

Zu Creethar zu sprechen fiel ihm zwar nicht schwer, aber es war gar nicht so einfach, bei einem Thema zu bleiben, das den Wemarer nicht schnell dazu veranlaßte, nichts mehr zu entgegnen. Wie Prilicla berichtete, war Creethars häufiges Schweigen unweigerlich von einer starken emotionalen Anspannung begleitet, in der Angst, Wut und Verzweiflung vorherrschten. Und noch immer konnten Gurronsevas und der zuhörende Empath keinen Grund für diese Anfälle von Schweigsamkeit entdecken.

Über die Wemarer und ihren jahrhundertelangen Überlebenskampf auf einem Planeten zu sprechen, den man in ferner Vergangenheit durch die unkontrollierte Verschmutzung beinahe in den Untergang getrieben hatte, war ein ungefährliches, wenn auch nicht gerade angenehmes Thema. Gefährlich wurde es nur immer dann, wenn sich Gurronsevas und Creethar nicht über die Bedeutung des Fleischverzehrs für die erfolgreiche Fortpflanzung einig waren. In den alten Zeiten, schwärmte Creethar, als noch gewaltige Tierherden durch die Wiesen und Wälder gestreift seien, habe man noch in Hülle und Fülle über Fleisch verfügt. „Heutzutage sind diese Herden und die unzähligen Tiere des Dschungels zwar schon lange verschwunden“, fuhr der Wemarer fort, „doch dafür hat sich der Verzehr von Fleisch — auch das der winzigen und seltenen Stückchen, die man nach einer erfolglosen Jagd besitzt — zu einer Art nichtgeistlichen Religion entwickelt.“

In seiner Entgegnung darauf räumte Gurronsevas ein, daß die Jäger es verdient hätten, das Fleisch zu essen, da es ihnen erst nach langen Wanderungen und Mühen und unter großen Gefahren für Leib und Leben zur Beute werde. Doch die Gemüsebauern, die zu Hause bleiben müßten, würden unter geringeren Risiken mehr Nahrungsmittel erzeugen und nichts von der Achtung abbekommen, die man den Jägern entgegenbringe. So sehe es nach seiner Auffassung momentan auf Wemar aus, und genauso hätten die Dinge auch auf unzähligen anderen Planeten jahrhundertelang gestanden.

Von Prilicla souffliert erklärte Gurronsevas dem Anführer der Jäger, daß der Verzehr von Fleisch in der fernen Vergangenheit eher eine Frage der Verfügbarkeit, der Annehmlichkeit und der persönlichen Vorliebe gewesen sei als eine physiologische Notwendigkeit. Er hielt Creethar vor Augen, daß die ausschließlich von Gemüse lebenden Kinder und die ganz alten Wemarer im allgemeinen gesünder und besser ernährt seien als die Fleischesser, die sich wegen ihres Stolzes als Jäger oftmals unnötig krank hungern würden. Die Folge dieser Erklärungen war ein ärgerliches Schweigen von Creethar, das fast eine ganze Stunde lang anhielt.

Der Anführer der Jäger war immer noch nicht ganz davon überzeugt, daß Fleisch für die sexuelle Potenz keineswegs notwendig war, doch nachdem er einige Tage lang die von Gurronsevas zubereiteten Gemüsegerichte gegessen hatte, geriet seine Überzeugung — wie sich der Tralthaner sicher war — allmählich ins Wanken.

Essen war ein ziemlich ungefährliches Thema, besonders das Gespräch darüber, wie Gurronsevas seine neuesten einheimischen Gerichte zubereitete und anrichtete, doch sowie der Chefdiätist versuchte, das Thema zu wechseln, um über Creethars Jagdfreunde oder über Remrath oder die gute Arbeit zu sprechen, die die anzulernenden Jungköche in der Mine leisteten, verfiel der Wemarer in Schweigen. Einmal behauptete der Anführer der Jäger wütend, die Küche sei nicht der geeignete Ort für einen jungen Wemarer und Kochen keine angemessene Arbeit. Als Gurronsevas sich nach dem Grund erkundigte, warf ihm Creethar Dummheit und Mangel an Feingefühl vor.

Kurz bevor Gurronsevas aus der Mine geworfen worden war, hatte ihn Remrath der Gefühllosigkeit bezichtigt und ihm ebenfalls keine Erklärung dafür gegeben. Verwirrt und äußerst frustriert kehrte Gurronsevas wieder zum Thema Essen zurück.

Das war der eine Gesprächsgegenstand, den er mit vollkommenem Sachverstand erörtern konnte. Gurronsevas war imstande, über Gerichte in all den vielen verschiedenen Formen und Geschmacksrichtungen zu sprechen und zugleich über die seltsame und noch außergewöhnlichere Vielfalt an Lebewesen, die seine kulinarischen Schöpfungen serviert bekommen hatten. Das wiederum führte zwangsläufig zu einer Erörterung der Fremdweltler, ihrer Überzeugungen, Philosophien und gesellschaftlichen Bräuche, wobei Gurronsevas auch die persönlichen Vorlieben und Eßgewohnheiten der mehr als sechzig verschiedenen Spezies nicht ausklammerte, aus denen sich die Galaktische Föderation zusammensetzte.

Mit aller Kraft bemühte er sich, Creethar begreiflich zu machen, daß Wemar nur ein bewohnter Planet von vielen hundert war. Gleichzeitig hoffte er, daß sich unter den fremden intelligenten Spezies, die er beschrieb, eine befand, die den Wemarern von der Gesellschaft her so ähnlich war, daß der Anführer der Jäger emotional oder verbal auf eine Weise reagierte, durch die Prilicla oder er selbst einen Riß in die Mauer des Schweigens schlagen konnten.

Doch Creethars emotionale und verbale Reaktionen blieben unverändert.

„Ich spüre und teile Ihre Enttäuschung ebenfalls, Freund Gurronsevas“, meldete sich Prilicla. „Creethar verfolgt Ihre Erzählungen mit starkem Interesse und großer Neugier. Zudem nehme ich bei ihm ein noch stärkeres Gefühl der Dankbarkeit Ihnen gegenüber wahr, weil Sie ihn von einigen ernsthaften persönlichen Problemen ablenken. Doch seine Verzweiflung, Wut und Angst sind noch immer vorhanden und durch alles, was Sie gesagt haben, zwar verringert, aber nicht verändert worden.

Die stärkste Empfindung des Patienten ist im Moment die der Freundschaft mit Ihnen“, fuhr der Empath fort. „Sie sind sich dessen vielleicht gar nicht bewußt, aber Sie haben für ihn dasselbe Gefühl entwickelt, genauso, wie es Ihnen nach längerem Kontakt mit seinem Vater Remrath passiert ist. Doch jetzt spüre ich sowohl beim Patienten als auch bei Ihnen eine zunehmende Müdigkeit. Nach einer Pause ergibt sich vielleicht von selbst eine neue Herangehensweise an das Problem.“

„Creethar soll in weniger als sieben Stunden entlassen werden“, gab Gurronsevas zu bedenken. „Ich glaube, es ist übertrieben vorsichtig von uns gewesen, ihm seine bevorstehende Entlassung zu verheimlichen. Jetzt ist der Moment, um es ihm mitzuteilen. Wir haben nur wenig zu verlieren.“

In einem freundlich tadelnden Ton entgegnete Prilicla: „Ich kann Ihre Enttäuschung spüren und nachempfinden, mein Freund, aber jedes Mal, wenn Sie das Thema seiner Rückkehr zur Mine auch nur angedeutet haben, ist es bei Creethar zu einer ablehnenden Gefühlsreaktion gekommen, an die sich ein langes, verärgertes Schweigen angeschlossen hat. Wir haben sehr wohl viel zu verlieren.“

Einen Augenblick lang schwieg Gurronsevas, dann sagte er: „Sie behaupten, Creethar und ich empfinden freundschaftliche Gefühle füreinander. Aber können Sie mir auch sagen, ob wir gut genug befreundet sind, um uns gegenseitig vaser schlechtes Benehmen, die Beleidigungen oder die unbeabsichtigten verletzenden Worte zu verzeihen?“

Ohne Zögern antwortete der Empath: „Ich kann Ihre Entschlossenheit spüren. Sie werden Creethar über seine Entlassung informieren, egal, was ich antworte. Viel Glück, mein Freund.“

Einen Augenblick lang sagte Gurronsevas nichts und versuchte, Worte zu finden, die passend waren und schon im voraus alles entschuldigten, womit er diesen seltsamen Wemarer, der sein Freund geworden war, möglicherweise verletzte. Dann sagte er: „Es gibt vieles, das ich Ihnen sagen möchte, Creethar, und eine Menge Fragen, die ich Ihnen gerne stellen würde. Das habe ich bisher noch nicht getan, weil Sie jedes Mal, wenn ich es versucht habe, wütend geworden sind und nicht mehr mit mir sprechen wollten. Auch Remrath will kein Wort mehr mit mir wechseln und hat den Fremdweltlern aus Gründen, die wir nicht verstehen, sogar verboten, die Mine noch einmal zu betreten. Doch jetzt bleiben uns nur noch wenige Stunden, um uns zu unterhalten und um uns gegenseitig Fragen zu stellen und Antworten zu geben.“

„Seien Sie vorsichtig“, warnte ihn Prilicla. „Creethars emotionale Ausstrahlung verändert sich, und zwar nicht zum Besseren.“

„Ihre Verletzungen und Infektionen sind geheilt beziehungsweise abgeklungen“, fuhr Gurronsevas vorsichtig fort, „und Ihre körperliche Verfassung ist so gut, wie es in unseren Kräften steht. Sie werden noch vor der Mittagszeit zu Ihren Freunden zurückkehren können.“

Plötzlich warf sich Creethar mit dem Körper gegen die Haltegurte — das hatte er schon seit vielen Tagen nicht mehr getan—, und wurde dann wieder ruhig. Ruckartig wandte er Gurronsevas das Gesicht zu, hielt die Augen dabei jedoch fest geschlossen. Der Tralthaner fragte sich, was für eine dumme fremdenfeindliche Regung oder kulturelle Geisteshaltung eine derart heftige Reaktion in einem Kopf hervorrufen konnte, den er als intelligent und kultiviert kannte und in vieler Hinsicht bewunderte. Er war zwar kein Empath, doch Priliclas nächste Bemerkung bestätigte nur, was er bereits wußte.

„Der Patient ist sehr beunruhigt“, erklärte der Cinrussker in eindringlichem Ton. „Die freundschaftlichen Gefühle, die er Ihnen entgegenbringt, werden durch den Ausbruch eines Gefühlsgemischs aus Angst, Wut und Verzweiflung verdrängt, das Creethar schon vorher einmal zu schaffen gemacht hat. Doch er bemüht sich mit aller Kraft, diese negativen Empfindungen Ihnen gegenüber zu überwinden. Können Sie nicht irgend etwas sagen, das ihm dabei hilft? Seine Anspannung nimmt ständig zu.“

Unhörbar stieß Gurronsevas ein Wort aus, das in den Mund zu nehmen ihm als Kind verboten worden war und das er auch als Erwachsener nur selten gebraucht hatte. Auf die eigentlich gute Nachricht reagierte der Patient völlig verkehrt, und plötzlich war der Tralthaner nicht nur völlig verunsichert, sondern auch wütend darüber, daß er einen Freund quälte, ohne zu wissen wie und weshalb. In jeder anderen Hinsicht verliefen Creethars Gedankengänge und das Gespräch mit ihm ganz normal, doch in dieser einen Beziehung war der Wemarer Gurronsevas vollkommen fremd. Oder waren es die medizinischen Mitarbeiter und sogar er selbst, die in dieser Hinsicht etwas Fremdes an sich hatten? Und wenn ja, warum?

Er übersah etwas, dessen war er sich ganz sicher — irgendeinen grundlegenden Unterschied, der sowohl einfach als auch äußerst wichtig war. In den Tiefen seines Gehirns begann ihm eine Ahnung aufzusteigen, doch der Versuch, sie ans Licht zu zerren, schien sie nur wieder weiter zurückzudrängen. Er wollte Prilicla um Rat bitten, doch ihm war klar, daß Creethar denken würde, er habe Geheimnisse vor ihm, wenn er den Translator zu diesem Zweck abschaltete — und das wäre im Moment genau das Falsche gewesen.

Da Gurronsevas nicht wußte, was er sagen sollte, sprach er einfach das aus, was er empfand.

„Creethar“, fuhr er fort, „ich bin verwirrt und habe Schuldgefühle, weil ich Ihnen solche psychischen Qualen bereite. Es tut mir sehr, sehr leid. Irgendwie ist es mir nicht gelungen, Sie zu verstehen. Aber glauben Sie mir bitte, es ist weder jetzt noch früher meine Absicht oder die der anderen auf dem Schiff gewesen, Sie zu verletzen. Trotzdem haben wir und insbesondere ich Ihnen aus Unwissenheit und mangelnder Sensibilität damals wie heute psychischen Kummer bereitet. Kann ich mich dafür irgendwie entschuldigen oder etwas sagen oder tun, um Sie davon zu befreien?“

Creethars Körper spannte sich zwar an, zerrte diesmal aber nicht an den Haltegurten. „Für ein derart furchteinflößendes Lebewesen können Sie in manchen Momenten ganz schön sensibel sein, wenn Sie auch in anderen wieder schrecklich gefühllos sind. Es gibt etwas, das Sie für mich tun können, Gurronsevas, aber ich schäme mich, es auszusprechen. Der Gefallen gehört nicht zu denen, um die man einen Verwandten oder einen engen Freund bittet, ja nicht einmal einen außerplanetarischen Freund wie Sie, denn er wäre für den Betreffenden zu bedrückend.“

„Nennen Sie ihn mir, mein Freund, und ich werde Ihnen den Gefallen tun“, versprach Gurronsevas in bestimmtem Ton.

„Wenn. wenn meine Zeit kommt“, sagte Creethar mit kaum vernehmbarer Stimme, „würden Sie mir dann weiterhin von den Wundern erzählen, die Sie auf anderen Planeten gesehen haben, und bis zum Ende bei mir bleiben?“

Die kurze Stille, die sich nun anschloß, wurde von Prilicla unterbrochen. „Gurronsevas, warum sind Sie so. so froh?“ fragte er.

„Lassen Sie mir ein paar Minuten Zeit, um mich mit Creethar zu unterhalten“, bat Gurronsevas. „Dann werden Creethar und Sie alle ebenfalls froh sein.“

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