21. Kapitel

Wenige Minuten später mündete der Stollen in eine Kammer, deren an den Seiten angebrachte Beleuchtungskörper die Felswände und den schrägen, unebenen Boden einer gewaltigen Höhle sichtbar machten, jedoch nicht ausreichten, um die hohe und ungestützte Decke zu erhellen. Ganz offensichtlich hatten die Wemarer die Höhle nicht selbst in den Fels geschlagen, sondern sie sich als natürliche Erweiterung der Mine zunutze gemacht.

Etwa zweihundert Meter voraus stand eine Mauer aus riesigen, unbehauenen Steinen, die mit Mörtel verbunden waren und die Höhlenöffnung verschlossen. In der Mauer befanden sich zehn große Fenster, von denen drei noch Scheiben besaßen, während die Bretter, mit denen die übrigen vernagelt waren, den Eindruck erweckten, auf Dauer angebracht worden zu sein. Durch die verglasten Fenster fiel dennoch genügend Tageslicht in die Höhle, um die künstliche Beleuchtung zu einem trüben gelben Glimmen verblassen zu lassen und die in Reihen aufgestellten bankähnlichen Tische zu erhellen, die durch breite Gänge in Gruppen zu jeweils zwanzig oder mehr geteilt wurden.

Zunächst glaubte Gurronsevas, sich im gemeinschaftlichen Speiseraum zu befinden, doch dann mußte er sich zumindest teilweise korrigieren. Gegenüber jeder rechteckigen Tischgruppe stand nämlich ein Einrichtungsgegenstand, dessen hier an die Größe und Gestalt der Benutzer angepaßte Grundform praktisch jeder intelligenten Spezies in der Föderation vertraut war: es handelte sich um eine Tafel auf einem staffeleiähnlichen Gestell. An den Höhlenwänden standen Beistelltische. Auf einigen waren Teller und Eßgeräte aufgestapelt, auf anderen Bücher, die aussahen, als würden sie jeden Moment vor Altersschwäche auseinanderfallen. An in den Fels getriebenen Nägeln hingen in gesprungenen Glasrahmen zahlreiche große Wandkarten, die fast bis zur Unleserlichkeit ausgeblichen waren.

Offensichtlich handelte es sich bei dieser Höhle also nicht nur um einen Speiseraum, sondern auch um ein Klassenzimmer.

Obwohl die Teammitglieder all das mit eigenen Augen sahen, was ihre Kameras auf Fletchers Schirm übertrugen, schilderte ihnen der Captain laufend, was er erblickte, wahrscheinlich, weil die Bilder für eine Weiterübertragung zur Tremaar aufgezeichnet wurden.

„Die Möbel und die Einrichtung sind alt“, berichtete Fletcher gerade. „Dort, wo ursprünglich Metallbeine befestigt waren, kann man noch die Rostflecken erkennen, und die Ersatzbeine aus Holz sehen ebenfalls nicht besonders neu aus. Auch die Wandstreben sind durch und durch verrostet. Zudem müssen die Wemarer zuwenig Glas haben, denn sonst hätten sie die Fenster nicht an den Stellen mit Brettern vernagelt, wo normalerweise Tageslicht für den Unterricht im Klassenzimmer vorhanden wäre.

Die Mauer vor der Höhlenöffnung habe ich vorhin übersehen“, fuhr Fletcher fort, wobei sich ein entschuldigender Unterton in seine Stimme schlich, „weil sie mit verwitterten Steinen aus hiesigen Vorkommen hochgezogen worden ist, die wegen des zurückgesetzten Standorts der Mauer im Schatten eines Felsüberhangs nur schwer von den Höhlenwänden zu unterscheiden sind. Ich würde sagen, die Mauer dient eher dazu, die jüngeren Bewohner zu schützen als sie einzusperren, denn die Höhlenöffnung befindet sich in einer steilen Felswand einige hundert Meter über der Talsohle. Doch jetzt haben wir die Mauer deutlich im Blick. Sollte im Notfall ein eiliger Rückzug erforderlich werden, können Danalta und Gurronsevas leicht die vernagelten Fenster durchbrechen. Dann kann Doktor Prilicla aus der Höhle hinausfliegen, und für den Rest von Ihnen besteht eine Fluchtmöglichkeit durch Einsatz des.“

„Nicht des Krankentransporters!“ fiel ihm Naydrad ins Wort, deren Fell sich aufgeregt zu Stacheln bündelte. „Der stellt in erster Linie ein Bodenfahrzeug dar. In einer Höhe von mehr als fünfzehn Metern schaukelt er wie ein betrunkener Crrelyin!“

„…durch den Einsatz des Traktorstrahls“, fuhr Fletcher fort. „Die Rhabwar ist nah genug, um Sie alle mit dem Traktorstrahl zu erfassen und nacheinander auf dem Boden abzusetzen.“ „Captain, die Möglichkeit, daß ein lebensgefährlicher Notfall eintritt, ist sehr gering“, beruhigte ihn Prilicla. „Die emotionale Ausstrahlung von Tawsar und den anderen Wemarern in der Mine, denen wir noch nicht begegnet sind, ist keineswegs feindselig, und das sind schließlich diejenigen, die in dieser Einrichtung das Sagen haben. Unsere Freundin empfindet eine Mischung aus Scham, Verlegenheit und großer Neugier. Sie will etwas von uns, doch handelt es sich dabei wahrscheinlich nur um Auskünfte. Auf gar keinen Fall hat sie den Wunsch, uns zur Schnecke zu machen — wie es in Ihrer recht bildhaften, aber biologisch unsinnigen terrestrischen Redensart heißt. Bitte schalten Sie wieder auf den Translatormodus, sonst denkt Tawsar noch, wir sprechen über sie.“

— Prilicla und Tawsar unterhielten sich weiter, wobei die anderen Mitglieder des Teams hin und wieder etwas einwarfen, doch das Gespräch wurde zu medizinisch, um Gurronsevas Interesse wachzuhalten. Er ging zu den Fenstern hinüber, um einen Blick nach unten auf die Rhabwar zu werfen, die unter der Kuppel ihres Meteoritenschilds glitzerte, und um sich die Talsohle und die verstreuten Gruppen von jungen Wemarern anzusehen, die dort arbeiteten. Die am weitesten entfernte Gruppe hatte sich in einer Reihe aufgestellt und trat gerade den Rückweg zur Mine an.

Von diesem Vorgang hatte die Rhabwar bisher nichts berichtet. Da der wachhabende Offizier nicht über Gurronsevas erhöhten Blickwinkel verfügte, dürfte er die Gruppe auch noch nicht gesehen haben.

Der Tralthaner wandte ein Auge zurück, um nach hinten zu sehen, wo Prilicla und Murchison den Gebrauch des Handscanners aus dem Transporter an Naydrad und anderen, nicht aber an Danalta demonstrierten, der seine inneren Organe willkürlich bewegen konnte, die zudem für eine einfache erste Lektion in der Anatomie fremder Spezies viel zu verwirrend waren. Für jemandem in ihrem Alter und mit den unflexiblen Denkgewohnheiten, die normalerweise damit verbunden sind, erfaßte Tawsar den Gedanken, einen lebenden Körper von innen zu untersuchen, ohne ihn zu öffnen und ihm Schmerzen zuzufügen, erstaunlich schnell. Gebannt starrte sie auf die inneren Organe, die schlagenden Herzen, die Lungen in ihren verschiedenen Atmungszyklen und auf den komplizierten Knochenbau des cinrusskischen Chefarzts Prilicla, der terrestrischen Pathologin und der kelgianischen Oberschwester.

Daß Tawsar neugierig wurde und einen Blick auf die Vorgänge in ihrem eigenen Innern werfen wollte, war unvermeidlich. Das verschaffte Prilicla die Gelegenheit, die er benötigte, um weitere persönliche medizinische Fragen zu stellen.

„Wenn Sie sich die Hüfte und das Knie hier und hier genau ansehen, können Sie die Knorpelscheiben erkennen, die zwischen den einzelnen Gelenkteilen liegen und dort ein dünnes, reibungsminderndes Polster bilden sollen. In Ihrem Fall sind diese Zwischenflächen jedoch nicht mehr glatt und geschmeidig. Die Knochen sind spröde und uneben geworden, und durch die Bewegung der Gliedmaßen und die zusätzliche Last des Körpergewichts auf nicht mehr glatte Gelenkflächen sind die Knorpel eingerissen, haben sich entzündet und den Zustand allgemein verschlimmert, indem sie die Beweglichkeit eingeschränkt und praktisch jede körperliche Regung zur Qual gemacht haben.“

„Erzählen Sie mir mal etwas, das ich noch nicht weiß“, schlug Tawsar vor.

„Das werde ich schon“, entgegnete Prilicla freundlich. „Doch vorher muß ich Ihnen noch etwas sagen, das Ihnen bereits bekannt ist: Ihre Verfassung ist auf den Alterungsvorgang zurückzuführen, dem alle Spezies unterworfen sind. Mit der Zeit werden sämtliche Lebewesen altern, die Sie hier um sich herum sehen, wobei es bei jedem unterschiedlich lange dauert, weil wir nicht dieselbe Lebenserwartung haben. Unsere körperlichen Fähigkeiten — manchmal auch die geistigen — werden abnehmen, bis wir zu guter Letzt sterben. Niemand von uns ist in der Lage, den natürlichen Alterungsprozeß umzukehren, doch bei richtiger Medikation und Behandlung können die Symptome vermindert oder ihr Auftreten hinausgezögert und die körperlichen Beschwerden somit beseitigt werden.“

Für einen Moment sagte Tawsar nichts, und Gurronsevas brauchte kein Empath zu sein, um die Zweifel der Wemarerin zu spüren. „Ihre Medikamente würden mich vergiften oder mir irgendeine gefährliche fremdweltlerische Krankheit aufhalsen. Mein Körper muß trotz seiner Gebrechlichkeit gesund und innerlich rein bleiben. Nein!“

„Meine Freundin, wir würden nicht einmal versuchen, Ihnen zu helfen, wenn für Sie dabei auch nur das geringste Risiko bestünde“, versicherte ihr Prilicla. „Weil Sie bislang keine Möglichkeit hatten, das zu erfahren, ist Ihnen nicht klar, daß es zwischen den Wemarern und den hier vertretenen Fremdweltlern viele Gemeinsamkeiten gibt. Wir atmen bis auf geringfügige Unterschiede in der Zusammensetzung dieselbe Luft und essen die gleichen Grundformen von Nahrungsmitteln.“

Die bleistiftdünnen Beine und die langsam schlagenden Flügel des Cinrusskers begannen zu zittern, doch nur für einen Augenblick.

„Aus diesem Grund sind sich die Funktionsweise unserer Körper, der Atmungsvorgang, die Verdauung und Ausscheidung, die Fortpflanzung und das körperliche Wachstum sehr ähnlich. Doch es gibt einen wichtigen und entscheidenden Unterschied: Wir können uns nicht gegenseitig anstecken — weder wir uns bei Ihnen noch Sie sich bei uns. Das liegt daran, daß die Krankheitserreger, die Keime, die sich auf einem Planeten entwickelt haben, nicht die Macht haben, die Lebensformen von einem anderen zu befallen. Nach Jahrhunderten engen und ununterbrochenen Kontakts mit verschiedenen Spezies auf vielen unterschiedlichen Planeten hat sich das als Regel bestätigt, von der wir bis heute keine einzige Ausnahme gefunden haben.“

Prilicla schaltete erneut den Translator ab und sagte schnell: „Bei der Erwähnung von Essen ist eine starke emotionale Ausstrahlung zu spüren gewesen. Ich habe wieder dieselben Gefühle — Scham, Neugier und großen Hunger — wahrgenommen. Weshalb sollte sich eine Bewohnerin eines von Hunger geplagten Planeten schämen, hungrig zu sein?“

Indem er den Translator wieder anschaltete, fuhr er an Tawsar gewandt fort: „Wir können Ihnen zwar nicht versprechen, daß Sie jemals wieder wie eine junge Wemarerin laufen und hüpfen können, doch sollten wir imstande sein, Sie zu behandeln, werden sich Ihre Beschwerden spürbar verringern. Falls nicht, werden sich weder Veränderungen Ihres Zustands noch zusätzliche Schmerzen einstellen. Auch die Entnahme der Proben, die wir brauchen, um sicherzugehen, daß unsere Medikamente Ihnen nicht schaden, tut nicht weh.“

Wie Gurronsevas wußte, war das nicht bloß eine therapeutische Lüge, denn in diesem Fall spürte der Arzt alles, was seine Patientin fühlte. Nach dem schwachen Zittern zu urteilen, das an Priliclas Beinen zu beobachten war, merkte er außerdem, daß sich die Patientin zu einer schwierigen Entscheidung durchrang.

„Ich muß geistesgestört sein“, sagte Tawsar plötzlich. „Also gut, ich bin einverstanden. Aber lassen Sie sich nicht zu lange Zeit, sonst überlege ich es mir vielleicht noch anders.“

Das medizinische Team versammelte sich rings um die Wemarerin, die noch immer auf der Trage saß.

„Danke, meine Freundin, wir werden keine Zeit verlieren“, versicherte ihr Prilicla.

„Der Scanner ist auf Registrierung geschaltet“, meldete Murchison, und danach wurde das Gespräch fast durchweg technisch. Gurronsevas wandte den äußerst langweiligen medizinischen Maßnahmen den Rücken zu und kehrte an die Fenster zurück.

Die vier am weitesten entfernten Arbeits- oder Unterrichtsgruppen hatten sich auf dem Rückweg zur Mine zusammengeschlossen, in der vermutlich das Mittagessen auf sie wartete, und die weiter vorne beschäftigten Gruppen würden sich ihnen später anschließen, so daß mit einem gleichzeitigen Eintreffen aller zu rechnen war. Die Wemarer rannten und hüpften nicht vorwärts, sondern gingen im langsamen Schrittempo der Lehrerinnen, und Gurronsevas schätzte, daß sie in etwas weniger als einer Stunde ankommen müßten. Schon sehr bald dürften sie sich im Blickfeld der Rhabwar befinden. Er fragte sich, ob die mangelnde Eile auf die von den Lehrerinnen auferlegte Disziplin oder auf das Desinteresse an der wartenden Mahlzeit zurückzuführen war. Der Küchengeruch, der vom Eingangsstollen herüberzog, machte ihn immer neugieriger. Zu seinem Erstaunen mußte er feststellen, daß Prilicla gerade über ihn sprach.

„Daß er sich von uns entfernt hat, stellt keine Respektlosigkeit dar“, erklärte der Empath. „Aufgrund seines Fachgebiets ist Gurronsevas neugieriger darauf, was Sie in Ihren Körper hineinstecken, als darauf, was wir aus ihm herausbekommen. Wann immer Sie die Zeit erübrigen können, wäre er wesentlich stärker daran interessiert, die Essensvorbereitungen der Wemarer zu untersuchen als.“

„Unsere Küche kann er sich gerne gleich ansehen“, unterbrach ihn Tawsar. „Der Chefkoch ist über den Besuch von Fremdweltlern längst unterrichtet und würde sich freuen, Sie kennenzulernen, Gurronsevas. Brauchen Sie jemanden, der Ihnen den Weg zeigt?“

„Nein danke“, antwortete Gurronsevas und fügte leise hinzu: „Ich kann ja immer der Nase nach gehen.“

„Sobald dieses seltsame Treiben hier vorbei ist, werde ich zu Ihnen in die Küche kommen“, entschied Tawsar mit einem Blick auf den Scanner.

Gurronsevas ging bereits auf den Ausgangsstollen zu, als Prilicla von den Translatorkanälen auf die interne Funkfrequenz wechselte und sagte: „Freund Gurronsevas, ich habe Ihren Namen nur deshalb erwähnt, um Tawsar von der Untersuchung abzulenken. Doch dabei habe ich bei ihr eine Gefühlsreaktion gespürt, wie ich sie schon einmal vorher wahrgenommen habe. Empfindungen wie Hunger, Neugier und starke Scham oder Verlegenheit, aber viel intensiver. Seien Sie äußerst umsichtig und wachsam, denn ich habe das Gefühl, Sie könnten etwas entdecken, das für uns von größter Wichtigkeit ist. Bleiben Sie in ständigem Sprechkontakt, und sehen Sie sich bitte vor.“

„Ich werde vorsichtig sein, Doktor“, versprach ihm Gurronsevas, während er sich ungeduldig den zickzackartigen Weg zwischen den Tischen hindurch bahnte. Wer wußte besser als er, wie viele Unfälle sich in einer Küche ereignen konnten und wie man sie vermied?

Prilicla nahm seine Bemühungen wieder auf, Tawsars Gedanken von Murchisons und Naydrads Tätigkeit abzulenken, deren Stimmen klar und deutlich im Kopfhörer des Tralthaners zu hören waren.

„Um die besten Ergebnisse zu erzielen, sollten wir auch einen gesunden und aktiven jungen Wemarer untersuchen, im Idealfall einen, der kurz vorm Erwachsenenalter steht“, schlug der Empath gerade vor. „Das würden wir nur zum Vergleich machen, nicht, um ihn zu behandeln. Wäre das möglich?“

„Alles ist möglich“, antwortete Tawsar. „Kinder neigen dazu, Gefahren einzugehen, entweder als Mutprobe oder aus Neugier oder um zu zeigen, daß sie besser als andere Kinder sind. Vielleicht ist das auch der Grund, weshalb ich mich selbst dieser Prozedur unterziehe; wahrscheinlich bin ich nur zu dumm, um zu merken, daß meine zweite Kindheit schon längst begonnen hat.“

„Nein, nein, meine Freundin“, widersprach Prilicla in bestimmtem Ton. „In Ihrem alternden Körper steckt zwar ein junger und anpassungsfähiger Geist, aber der ist keineswegs dumm. Es gibt nicht viele Wesen, die wie Sie einer Gruppe von Aliens ohne Argwohn gegenübergetreten wären — Wesen, die Ihnen völlig fremdartig und äußerlich erschreckend erscheinen mußten — und uns bei unserer Untersuchung geholfen hätten. Das war und ist eine äußerst mutige Tat. Aber sind Sie wirklich nur neugierig auf uns gewesen, oder hat es noch andere Gründe gegeben, uns hierher einzuladen?“

Eine lange Pause trat ein, dann antwortete Tawsar: „Ich bilde diesbezüglich keine Ausnahme. Hier gibt es noch andere, die genauso mutig oder dumm sind wie ich. Die meisten von denen sind gewillt, Sie kennenzulernen und jeden möglichen Nutzen aus Ihnen zu ziehen, und ein paar andere — die meisten der abwesenden Jäger — wollen nichts von Ihnen wissen. Als oberste Lehrerin war ich verpflichtet, Sie in die Mine einzuladen. Daß ich bei Ihnen nur so wenig Überredungskünste aufwenden mußte, hat mich überrascht, folglich sind Sie vielleicht ebenfalls mutig oder dumm. Daß ich Ihnen das Versprechen gegeben habe, mich bei Ihnen zu bedanken, wenn Sie meine Schmerzen in den Gelenken lindern können, ist unfair gewesen, denn ich kann mich bei Ihnen gar nicht.“

„Meine Freundin“, unterbrach Prilicla die Wemarerin, „es gibt nichts, wofür Sie sich revanchieren müßten. Doch wenn es für Ihre Spezies wichtig ist, daß niemand dem anderen etwas schuldig bleibt, dann kann ich Sie beruhigen. Sie haben uns erlaubt, unsere medizinische Neugier gegenüber den Wemarern zu befriedigen, und Ihre Schuld damit doppelt und dreifach zurückgezahlt. Was Ihre steif gewordenen Gelenke betrifft, die Schmerzsymptome können leicht gemindert werden, auch wenn eine Behandlung, die Ihnen wieder eine uneingeschränkte Bewegung ermöglicht, vielleicht schwieriger sein dürfte, weil das Leiden in Ihrem Fall bereits weit fortgeschritten ist. Möglicherweise müßten wir die beschädigten Gelenke vollständig entfernen und Prothesen aus Metall oder gehärtetem Kunststoff einpassen.“

„Niemals!“

Das einzelne Wort klang derart zornig, daß es von einer starken emotionalen Ausstrahlung begleitet gewesen sein mußte, und Gurronsevas war heilfroh, Priliclas Reaktion nicht gesehen zu haben. Er war inzwischen weiter den Stollen entlanggegangen und nur noch wenige Schritte vom Kücheneingang entfernt, als der Empath die Sprache wiederfand.

„Es gibt nichts, wovor Sie Angst haben müßten, meine Freundin“, sagte er. „Künstliche Gelenke werden ganz routinemäßig hergestellt, auf einigen Planeten täglich zu Tausenden, und in der Mehrzahl der Fälle ist der Ersatz leistungsfähiger als das Original. Schmerzen treten nicht auf. Während die Operation durchgeführt wird, ist der Patient bewußtlos und.“

„Nein“, lehnte Tawsar erneut ab, dieses Mal allerdings weniger heftig. „So etwas dürfen Sie mit mir nicht machen. Dadurch würde mein Körper zum Teil ungenießbar.“

Gurronsevas ging langsam in eine kleine Kammer, bei der es sich offenbar um einen Abstellraum neben der eigentlichen Küche handelte, die hinter einer doppelten, nur für Blicke, nicht aber für Gerüche undurchdringlichen Schwingtür lag. Er konnte lange Bänke sehen, auf denen Tabletts aufgestapelt waren, ordentlich in Fächer einsortierte Eßgeräte und Regale, in denen Kochtöpfe, unterschiedlich große Schüsseln und Tassen standen, von denen die meisten gesprungen waren oder die Henkel eingebüßt hatten. Als ihm allmählich die Bedeutung dessen dämmerte, was Tawsar gerade gesagt hatte, blieb er ruckartig stehen.

Wie das medizinische Team und der das Gespräch verfolgende Fletcher auf der Rhabwar reagierten, konnte er sich nur ausmalen — sie mußten wie Gurronsevas selbst vor Entsetzen sprachlos sein. Es war die Pathologin, die ihre Stimme zuerst wiederfand.

„W. w. wir, das heißt, alle intelligenten Spezies, die wir kennen, begraben oder verbrennen ihre Toten oder beseitigen sie auf andere Weise, aber niemand verwendet sie als Nahrungsmittel.“

„Es ist sehr dumm von Ihnen, eine wichtige natürliche Nahrungsquelle so zu vergeuden“, entgegnete Tawsar. „Auf Wemar können wir uns solch eine kriminelle Verschwendung nicht leisten. Wenn das Leben und die Taten unserer Toten dazu berechtigen, ehren wir sie und behalten sie in guter Erinnerung, doch selbst so hat die Vergangenheit von jemandem nur wenig Einfluß auf seinen Geschmack, vorausgesetzt, er bleibt gesund. Selbstverständlich würden wir niemanden essen, der an einer Krankheit gestorben ist oder schon zu lange tot ist oder dessen Körper schädliche Substanzen wie Metalloder Kunststoffgelenke enthalten hat. Wenn wir uns sicher sind, daß uns das Fleisch nicht schadet, essen wir alles. Wegen meines hohen Alters werde ich selbst wahrscheinlich zäh und sehnig, aber trotzdem nahrhaft sein.

Die schmackhaftesten Stücke stammen von den jungen oder gerade herangereiften Erwachsenen, die durch einen Unfall oder auf der Jagd ums Leben gekommen sind.“

Plötzlich flog die doppelte Schwingtür zur Hauptküche auf und zeigte die Gestalt eines in Dampf gehüllten Wemarers sowie zwei weitere DHCGs, die in einiger Entfernung dahinter arbeiteten. Alle drei trugen locker umgebundene Schürzen aus einem Stoff, der schon zu oft gewaschen war, um noch die ursprüngliche Farbe aufzuweisen. Der Wemarer in der Schwingtür sprach Gurronsevas zuerst an. „Offensichtlich sind Sie einer der Fremdweltler“, sagte er höflich. „Ich heiße Remrath. Treten Sie bitte ein.“

Für einen Moment kam es Gurronsevas vor, als wären seine sechs massiven Beine an den Steinboden angewachsen, denn er erinnerte sich wieder daran, was Tawsar vorhin gesagt hatte.

Der Chefkoch würde sich freuen, Sie kennenzulernen, Gurronsevas.

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