9. Tag Zinj 21. Juni 1979

1. Der Tigerschwanz

Ihr Einzug in die tote Stadt Zinj am Vormittag des 21. Juni geschah ohne eine Spur der Romantik, die in den Berichten aus dem 19. Jahrhundert über vergleichbare Reisen durchschimmert. Die Forscher des 20. Jahrhunderts schwitzten und stöhnten unter der schweren Last ihrer technischen Geräte -optische Entfernungsmesser, Kompasse mit Datenspeicher, Hochfrequenz-Richtfunkgeräte mit angeschlossenen Sendeempfängern, die im Mikrowellenbereich arbeiteten. All das schien unerläßlich für die heutzutage übliche superschnelle Beurteilung einer archäologischen Fundstätte.

Sie waren ausschließlich an Diamanten interessiert. Heinrich Schliemann war bei der Ausgrabung Trojas anfangs nur auf Gold ausgewesen, und er hatte drei Jahre darauf verwendet. Karen Ross rechnete damit, ihre Diamanten im Verlauf von drei Tagen zu finden.

Nach dem vom Computer bei der ERTS durchgespielten Programm fingen sie am besten damit an, daß sie einen Grundriß der Stadt anfertigten. Mit einem solchen Plan in der Hand müßte es verhältnismäßig einfach sein, von der Anlage der Stadt auf die Lage der Stollen zu schließen.

Sie hofften, innerhalb von sechs Stunden einen brauchbaren Plan der Stadt zu haben. Sie brauchten sich lediglich mit Hochfrequenz-Transpondern nacheinander an die vier Ecken eines Gebäudes zu stellen und an jeder Ecke den Sendeknopf zu drücken. Im Lager zeichneten zwei weit voneinander entfernt stehende Empfangsgeräte ihre Signale auf, die der Computer dann in eine zweidimensionale Zeichnung umsetzen konnte. Allerdings bedeckten die Ruinen eine große Fläche, mehr als drei Quadratkilometer. Bei einer Funkvermessung würden sie sich in dichtem Gebüsch und Blattwerk weit voneinander trennen müssen, und das schien ihnen angesichts dessen, was der vorigen Expedition widerfahren war, unklug.

Die einzige andere Möglichkeit war das bei der ERTS als unsystematische Aufnahme oder »Tigerschwanzmethode« bekannte Verfahren. (Es war ein Standardwitz zu sagen, man könne einen Tiger auch dadurch aufspüren, daß man immer weiterging, bis man ihm auf den Schwanz trat.) Sie gingen durch die verfallenen Bauten, vorbei an züngelnden Schlangen und Riesenspinnen, die in dunkle Ecken davoneilten. Die Spinnen hatten die Größe einer Männerhand und gaben zu Karen Ross' Verblüffung ein lautes, knackendes Geräusch von sich.

Sie stellten fest, daß die Mauern mit großem handwerklichem Geschick ausgeführt waren, wenn auch der Kalkstein inzwischen an vielen Stellen ausgewaschen war und zerbröckelte. Überall sahen sie die Halbmondform von Türbogen und Fenstern, die ein besonderes Merkmal der hier untergegangenen Kultur zu sein schien.

Davon abgesehen aber fiel ihnen an den Räumen, durch die sie streiften, so gut wie nichts sonderlich auf. Sie waren im allgemeinen rechteckig und alle etwa gleich groß. Die Wände waren nackt und ohne jeden Schmuck. Sie fanden nach all den Jahrhunderten keinerlei von Menschenhand hergestellte Gegenstände mehr - bis schließlich Elliot ein Paar mit kurzen Griffen versehene, scheibenförmige Steinplatten entdeckte, zwischen denen die Bewohner wahrscheinlich Gewürze oder Getreide gemahlen hatten.

Die Leere, die seltsame Unauffälligkeit der Stadt erschien ihnen immer beunruhigender, je weiter sie vorankamen. Außerdem war sie auch unbequem, da sie so keine rechte Möglichkeit hatten, eine Stelle von der anderen genau zu unterscheiden. Schließlich verfielen sie darauf, den verschiedenen Gebäuden willkürliche Namen zu geben.

Als Karen Ross in der Wand eines Raums eine Reihe von Öffnungen entdeckte, die wie Brieffächer aussahen, erklärte sie, dies müsse ein Postamt sein -und von da an hieß das Gebäude bei ihnen »das Postamt«.

Sie stießen auch auf eine Reihe kleiner Räume mit Löchern für Holzstangen.

Munro nahm an, dies seien Gefängniszellen -wenn auch äußerst kleine - gewesen. Karen Ross sagte, vielleicht seien die Menschen kleinwüchsig gewesen, oder man habe die Zellen absichtlich klein gehalten, um so die Strafen zu verschärfen. Elliot meinte, vielleicht seien es die Käfige eines Zoos gewesen. Aber warum waren die Käfige dann alle gleich groß? Munro wiederholte unter Hinweis darauf, daß nichts zum Betrachten von Tieren vorgesehen sei, seine Überzeugung, es müsse ein Gefängnis gewesen sein -und so wurden die Räume »das Gefängnis« genannt. In seiner Nähe fanden sie auch einen großen, freien Hof, den sie »Stadion« nannten. Offensichtlich hatte er als Sport- oder Exerzierplatz gedient. In dem »Stadion« standen vier hohe Steinsäulen mit einem zerbröckelnden, steinernen Ring an der Spitze. Allem Anschein nach waren sie für ein Ballspiel wie Schlagball gebraucht worden. In einer Ecke des Platzes befand sich eine Art Reckstange - allerdings nur anderthalb Meter über dem Boden. Was Elliot zu der Annahme veranlaßte, daß es sich um einen Kinderspielplatz handelte. Karen Ross erinnerte an ihre Theorie von der Kleinwüchsigkeit der Bewohner, während Munro der Ansicht zuneigte, der Hof müsse ein militärischer Exerzierplatz gewesen sein.

Während sie weitersuchten, waren sie sich alle darüber im klaren, daß ihre Reaktionen lediglich ihre vorgefaßten Meinungen widerspiegelten. Die Stadt war so neutral, die Ruinen, sie verrieten so wenig, daß sie wie auf einen Rorschach-Test reagierten. Sie brauchten jedoch objektive Informationen über die Menschen, die die Stadt gebaut hatten, und über ihre Lebensgewohnheiten.

Daß es solche Angaben in Hülle und Fülle gab, merkten sie erst sehr spät. In vielen Räumen war die eine oder andere Wand mit schwarzgrünem Schimmel überzogen. Munro stellte fest, daß der Schimmel nicht in irgendeinem Verhältnis zum Licht, das durch ein Fenster fiel, oder zu Luftströmungen oder anderen erkennbaren Faktoren wuchs. In manchen Räumen überzog er eine Wand in einer dicken Schicht halb bis zum Boden und hörte dann in einer scharfen horizontalen Linie auf, als hätte man ihn mit einem Messer abgeschnitten.

»Sehr sonderbar«, sagte Munro, während er den Schimmelbewuchs näher ins Auge faßte und mit dem Zeigefinger darüberfuhr. Sein Finger war mit Spuren blauer Farbe bedeckt. So entdeckten sie schließlich die kunstvollen, einst bemalten BasReliefs, die überall in der Stadt vorhanden waren. Doch der Schimmelbelag auf den unregelmäßigen Oberflächen und die Auswaschung des Kalksteins vereitelte jeden Versuch einer Deutung.

Beim Lunch im Lager sagte Munro, es sei zu schade, daß sie nicht ein paar Kunsthistoriker mitgebracht hätten, die diese Bilder hätten sichern können. »Mit ihren Lampen und ihren technischen Geräten würden sie sofort sehen, was da war«, sagte er. Das brachte Karen Ross auf einen Gedanken. Die neuesten Untersuchungsmethoden für Kunstwerke, wie sie von Degusto und anderen angewendet wurden, arbeiteten mit Infrarotlicht und Bildverstärkung - und sie verfügte über die notwendigen Geräte, um auf der Stelle nach diesem Verfahren vorzugehen. Zumindest war es einen Versuch wert. Nach dem Essen machten sie sich wieder auf den Weg zu den Ruinen und schleppten die Videokamera, eine der Infrarotleuchten und den kleinen Computer-Anzeigeschirm mit. ' Nach einer Stunde Basteln hatten sie ein System ausgearbeitet. Sie konnten die Darstellungen an den Wänden rekonstruieren, indem sie die Wände mit Rotlicht abtasteten und das Bild mit der Videokamera aufnahmen. Dann schickten sie es über Satelliten durch digital arbeitende Computer nach Houston und ließen es sich auf ihren tragbaren Bildschirm zurücksenden.

Diese Art, die Bas-Reliefs zu betrachten, erinnerte Peter Elliot an die Nachtsichtbrillen. Wenn man geradeaus auf die Wand sah, erkannte man nichts als mit dunklem Moos und Flechte bedeckte ausgewaschene Steine. Auf dem kleinen ComputerSchirm aber sah man durch all das hindurch auf die ursprüngliche Malerei, die ein lebendiges Bild vermittelte. Er berichtete später darüber: »Es war sehr seltsam. Da waren wir mitten im Dschungel und konnten dennoch unsere unmittelbare Umgebung nur mittelbar durch technische Einrichtungen wahrnehmen. Wir brauchten Brillen, um nachts, und Videogeräte, um tagsüber zu sehen. Wir benutzten Maschinen, um Dinge zu sehen, die wir sonst nicht hätten sehen können, und wir waren ganz und gar von ihnen abhängig.«

Er fand es auch seltsam, daß die von der Videokamera aufgezeichneten Informationen weit über dreißigtausend Kilometer um den Erdball hin-und zurückwandern mußten, bevor sie wieder auf dem Bildschirm, knapp einen Meter von ihnen entfernt, landeten. Später sagte er, es sei »die längste Nervenbahn der Welt« gewesen, und das habe sich sehr merkwürdig ausgewirkt. Obwohl die Übertragung der Bilder mit Lichtgeschwindigkeit erfolgte, dauerte sie eine zehntel Sekunde, und da auch der Computer in Houston eine kurze Verarbeitungszeit brauchte, erschienen die Bilder auf dem Bildschirm nicht sofort, sondern mit einer kaum wahrnehmbaren Zeitversetzung von etwa einer halben Sekunde. Was sie dann aber auf dem Bildschirm sahen, vermittelte ihnen eine erste Vorstellung von der Stadt und ihren früheren Bewohnern.

In Zinj hatten offenbar hochgewachsene Schwarze mit runden Schädeln und muskulösen Körpern gelebt. Äußerlich ähnelten sie dem Volk, das vor zweitausend Jahren erstmals aus der nördlich gelegenen Hochlandsavanne in den Kongo eingedrungen war und eine der Bantu-Sprachen sprach. Die Menschen wurden hier lebhaft und munter gezeigt: trotz des vorherrschenden Klimas trugen sie am liebsten reichverzierte, bunte, wallende Gewänder. Ihre Haltung und ihre Gesten wirkten freundlich, und alles in allem bestand ein schroffer Gegensatz zwischen ihnen und den nackten, verfallenen Überresten, die von ihrer Kultur geblieben waren.

Die ersten entschlüsselten Fresken zeigten Marktszenen: Verkäufer hockten neben wunderschönen Flechtkörben voller runder Gegenstände auf dem Boden, während Käufer vor ihnen standen und offensichtlich mit ihnen um den Preis feilschten. Zuerst hatten sie die runden Gegenstände für Obst gehalten, aber Karen Ross kam zu dem Schluß, daß es Steine waren. »Es sind ungeschliffene Diamanten, von Ganggestein umschlossen«, sagte sie, ohne vom Bildschirm aufzublicken. »Sie handelten mit Diamanten.«

Durch die Fresken angeregt, überlegten sie, welches Schicksal die Einwohner von Zinj wohl ereilt haben mochte, denn die Stadt war eindeutig nicht zerstört, sondern verlassen worden -es gab kein Zeichen für kriegerische Auseinandersetzungen oder eine Besetzung durch fremde Eindringlinge, keine Spuren einer Naturkatastrophe oder irgendeines gewaltsamen Untergangs.

Karen Ross sprach ihre schlimmsten Befürchtungen aus, als sie erklärte, sie vermute, die Diamantminen.seien erschöpft gewesen, und so sei Zinj - wie so viele andere Bergbaustädte im Verlauf der Geschichte - zu einer Geisterstadt geworden. Elliot vermutete, die Bewohner seien einer Epidemie oder dergleichen zum Opfer gefallen, während Munro die Gorillas für die eigentliche Ursache hielt.

»Lachen Sie nicht«, sagte er. »Das hier ist ein vulkanisches Gebiet. Vulkan-Ausbrüche, Erdbeben, Dürre, Steppenbrände -die Tiere spielen verrückt und führen sich völlig anders auf als gewöhnlich.«

»Das Wüten der Natur?« fragte Elliot und schüttelte den Kopf. »Hier gibt es alle paar Jahre Vulkan-Ausbrüche, und wir wissen, daß die Stadt jahrhundertelang bestanden hat. Daran kann es nicht liegen.«

»Vielleicht hat es einen Staatsstreich gegeben, eine Palastrevolution.«

»Und welche Rolle könnten die Gorillas dabei gespielt haben?« fragte Elliot lachend.

»So etwas kommt vor«, sagte Munro. »In Afrika benehmen die Tiere sich immer seltsam, wenn es Krieg gibt, müssen Sie wissen.« Er erzählte ihnen Geschichten von Pavianen, die in Südafrika Farmgebäude und in Äthiopien Busse angegriffen haben sollten. Elliot ließ sich davon nicht beeindrucken. Im übrigen war die Vorstellung, daß die Natur das Tun des Menschen widerspiegelt, sehr alt - mindestens so alt wie Äsop und von etwa der gleichen naturwissenschaftlichen Stichhaltigkeit. »Die natürliche Welt läßt sich vom Menschen nicht beeindrucken«, sagte Elliot. »Sehr richtig«, gab Munro zur Antwort, »aber es gibt nicht mehr so viel natürliche Welt.«

Elliot stimmte ihm nur widerwillig zu, doch tatsächlich behauptete eine wohlbekannte wissenschaftliche These eben das. 1955 hatte der französische Anthropologe Maurice Cavalle einen umstrittenen Aufsatz mit dem Titel »Der Tod der Natur« veröffentlicht. Darin hieß es:

»Vor einer Million Jahren war eines der hervorstechenden Merkmale der Erde eine überall herrschende Wildnis, die wir >Natur< nennen mögen. Inmitten dieser wilden Natur gab es kleine Enklaven, die von Menschen bewohnt wurden. Ob es sich um Höhlen mit einem künstlich unterhaltenen Feuer handelte, das den Menschen wärmen sollte, oder später um Städte mit Wohnungen und künstlich angelegten Ackerflächen

- alle diese Enklaven waren ihrem ganzen Wesen nach unnatürlich. In den darauffolgenden Jahrtausenden verminderte sich die Fläche unberührter Natur, die diese künstlichen Enklaven umgab, in zunehmendem Maße, auch wenn diese Entwicklung jahrhundertelang nicht erkennbar war.

Noch vor dreihundert Jahren lagen zwischen den großen Städten Frankreichs oder Englands weite Flächen unberührter Wildnis, in der sich wie schon Jahrtausende zuvor wildes Getier tummelte. Doch unaufhaltsam dehnte der Mensch seinen Einflußbereich aus.

Vor hundert Jahren, gegen Ende der Epoche der großen europäischen Forscher, war die Natur so radikal vermindert, daß sie als etwas Neues empfunden wurde: daher der nachhaltige Eindruck, den die Erforschung Afrikas auf die Menschen des 19. Jahrhunderts ausübte. In eine wahrhaft natürliche Welt einzudringen war exotisch, ging über den Erfahrungsbereich der meisten Menschen hinaus, die von der Wiege bis zum Grabe in einer ganz und gar vom Menschen bestimmten Umgebung lebten. Im 20. Jahrhundert hat sich das Ungleichgewicht so weit verlagert, daß man getrost sagen kann, die Natur ist verschwunden. Wildpflanzen werden in Gewächshäusern erhalten und Wildtiere in zoologischen Gärten und Wildparks: künstliche Umgebungen, die der Mensch zur Erinnerung an die einst vorherrschende natürliche Welt geschaffen hat. Doch lebt ein Tier in einem Zoo oder in einem Wildpark nicht sein natürliches Leben - so wenig wie ein Mensch in der Stadt ein natürliches Leben lebt. Heute sind wir vom Menschen und dem, was er geschaffen hat, umgeben. Man kann dem Menschen nicht mehr ausweichen, nirgendwo auf dein Erdball, und die Natur ist nur noch eine Vorstellung, ein längst verblaßter Traum von Vergangenem.«

Karen Ross rief Elliot von seinem Abendessen weg. »Für Sie«, sagte sie und deutete auf den neben der Antenne stehenden Computer. »Ihr Freund wieder.«

Munro grinste: »Nicht einmal im Dschungel ist man vor dem Telefon sicher.«

Elliot ging zum Bildschirm hinüber. COMPUTR SPRACHANLYSN UNGENUEGN BRAUCHN MER MATRIAL KOEN SI LIFRN?

WAS FR MATRIAL? fragte Elliot zurück.

MER TONMAT-SNDET TONAUFNAM.

Elliot gab ein: Ja, falls vorhanden. JA FALS VOBH.

FREQNZ 22-50 KHZ KRITSCH.

Elliot tastete zurück: Verstanden. VRSTNDN.

Es folgte eine Pause. Dann hieß es: WIGEZ AMY?

Elliot zögerte kurz. BESTENS.

GRUS VONUNS ALN kam die Antwort. Dann wurde die Sen dung für einen Augenblick unterbrochen. MOMNT NCH.

Es entstand eine längere Pause. SNSATION, schrieb Seamans dann. WIR HABN SWENSN.

2. SNSATION SWENSN

Zuerst sagte Elliot die Mitteilung nichts. Swensn? Was bedeutete Swehsn? Möglicherweise ein Übertragungsfehler? Und dann fiel ihm ein: Mrs. Swenson! Amys Entdeckerin, die Frau, die sie aus Afrika mitgebracht und dem Zoo von Minneapolis geschenkt hatte. Die Frau, die sich in den letzten Wochen auf Borneo aufgehalten hatte. HAETN WIRS NUR GWUST: AMYS MUTR NICHT VN EINGEB GETOETET.

Elliot wartete ungeduldig auf Seamans nächste Mitteilung. Er starrte fassungslos auf die Nachricht. Man hatte ihm immer gesagt, Eingeborene hätten Amys Mutter getötet, und zwar in einem Dorf, das Bagimindi hieß. Eingeborene hätten die Mutter verzehrt, und so sei Amy Waise geworden ... WISO?

MUTR WAR SHON TOT NICHT GGESN. Die Eingeborenen hatten Amys Mutter nicht getötet? Sie war schon tot? WIBITE?

SWENSN HAT BILD KOEN WIR SENDN? Elliot tippte so hastig, daß seine Finger förmlich über die Tasten stolperten. SNDET.

Es folgte eine Pause, die ihm endlos vorkam. Dann zeichnete der Bildschirm von oben nach unten die Angaben auf. Lange bevor das Bild den Schirm füllte, war Elliot klar, was es zeigte.

Ein Amateur-Schnappschuß von einem toten Gorilla mit zerschmettertem Schädel. Das Tier lag auf dem Rücken in einer Lichtung, deren Boden festgestampft war, vermutlich in einem Eingeborenendorf.

In diesem Augenblick hatte Elliot das Gefühl, als sei das Rätsel, das ihn beschäftigte und ihm schon seit so vielen Monaten zu schaffen machte, nunmehr gelöst. Hätten sie Mrs. Swenson nur früher erreichen können ...

Das flimmernde elektronische Bild schrumpfte zusammen, und der Bildschirm wurde dunkel.

Elliot sah sich von einer Vielzahl plötzlicher Fragen bestürmt. Es ging um zerschmetterte Schädel in einer fernen - und wie man annahm, unbewohnten - Region des Kongo, Kanyamagufa, Knochenstätte. Bagimindi aber war ein Handelsplatz am Ufer des Lubula, über hundertfünfzig Kilometer von dort entfernt. Wie waren Amy und ihre tote Mutter nach Bagimindi gekommen? Karen Ross fragte: »Haben Sie Schwierigkeiten?« »Ich verstehe etwas nicht. Ich muß rückfragen -« »Bevor Sie das tun«, sagte sie, »sehen Sie sich die Sendung noch einmal an, sie ist gespeichert.« Sie drückte einen mit R bezeichneten Knopf.

Die zuvor gesendete Unterhaltung wurde auf dem Bildschirm wiederholt. Während Elliot Seamans' Antwort durchging, fiel ihm eine Zeile auf: MUTR WAR SHON TOT WICHT GGESN. Wieso war die Mutter nicht verzehrt worden? Gorillafleisch galt in diesem Teil des Kongo-Beckens nicht nur als eßbar, sondern geradezu als Delikatesse. Er gab eine Frage ein: WISO MUTR NICHTGGESN?

MUTR&KND VN EINGEB PATRTJLJE AUS SUDAN GEFUNDN TRUGEN KADAVR & KND 5 TAGE BIS DORF BAGMINDI ZUM VRKAUF AN TURISTN. SWENSN WARD A. Fünf Tage! Rasch gab Elliot die wichtige Frage ein: WO GFUNDN?

Die Antwort lautete: UNBKANT WO - KNGO. LAGE?

NICHT BKANT. Dann, nach einer kurzen Pause: NOCH MER BLDR? SNDET, bat er.

Das Bild verschwand, dann erschien ein neues Bild auf dem Schirm, so wie die Abtastvorrichtung es erfaßte. Jetzt sah er in Nahaufnahme den zerschmetterten Schädel eines Gorillaweibchens. Neben dem riesigen Schädel lag ein winziges schwarzes Geschöpf auf dem Boden, mit verkrampften Händen und Füßen, den Mund zu einem Schrei geöffnet. Amy.

Karen Ross ließ die Sendung mehrere Male durchlaufen, jedesmal bis zu dem Bild von Amy als Säugling - klein, schwarz, schreiend.

»Kein Wunder, daß sie Alpträume hatte«, sagte sie. »Vermutlich hat sie gesehen, wie ihre Mutter umgebracht wurde.« Elliot sagte: »Wenigstens dürfen wir als sicher annehmen, daß es keine Gorillas waren. Gorillas bringen sich nicht gegenseitig um.«

»Gerade jetzt«, sagte Karen Ross, »dürfen wir überhaupt nichts als sicher annehmen.«

Der Abend des 21. Juni war so still, daß sie gegen zehn Uhr die Infrarotlampen ausschalteten, um Energie zu sparen. Fast im gleichen Augenblick merkten sie, daß sich im Blattwerk um das Lager herum etwas regte. Munro und Kahega brachten ihre Gewehre in Anschlag. Das Rascheln verstärkte sich, und sie hörten ein seltsames, seufzendes Geräusch, eine Art Keuchen. Auch Elliot hörte es und spürte einen Schauder: es war dasselbe Keuchen, das auf den Bändern von der ersten Kongo-Expedition zu hören gewesen war. Er schaltete den Kassettenrekorder ein und hielt das Mikrofon in die Richtung, aus der die Geräusche kamen. Alle warteten angespannt und wachsam. Doch in der nächsten Stunde geschah nichts. Zwar bewegte sich das Laub rings um sie her, aber sie sahen nichts. Dann, kurz vor Mitternacht, rührte sich etwas am Elektrozaun. Munro richtete sein Gewehr auf die Stelle und schoß, Karen Ross schaltete die Nachtbeleuchtung ein, so daß das Lager in dunkelrotes Licht getaucht wurde.

»Haben Sie etwas gesehen?« fragte Munro. »Haben Sie gesehen, was es war?«

Sie schüttelten den Kopf. Niemand hatte etwas gesehen. Elliot hörte sein Band ab: außer dem scharfen Bellen eines Gewehrs war nichts darauf zu hören. Keine Atemgeräusche.

Der Rest der Nacht verging ohne besondere Vorkommnisse.

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