5. Tag Moruti 17. Juni 1979

1. Zaire

Fünf Stunden nach ihrem Start von Rawamagena veränderte sich das Gesicht der Landschaft. Als sie Goma, in der Nähe der Grenze von Zaire, hinter sich hatten, flogen sie über die östlichsten Ausläufer des Regenwalds am Kongo. Elliot sah fasziniert aus dem Fenster.

Hier und da hingen flockige Fetzen von Nebel wie Watte im Blätterdach der Bäume, und gelegentlich überflogen sie die dunkle Windung eines schlammigen Flusses oder die tief ins Land schneidende, pfeilgerade Trasse einer Straße. Doch meist sahen sie auf ein ununterbrochenes Ganzes aus dichtem Wald hinab, das sich unter ihnen erstreckte, so weit das Auge reichte.

Der Anblick war langweilig und zugleich furchteinflößend. Es war furchteinflößend, sich dem gegenüberzusehen, was Stanley »die gefühllose Unermeßlichkeit der natürlichen Welt« genannt hatte. Sie konnten aus dem bequemen Sessel der klimatisierten Flugzeugkabine unmöglich übersehen, daß neben diesem weiten eintönigen Wald als einer riesigen Schöpfung der Natur die größten Städte und alle anderen Werke des Menschen von unbedeutender Winzigkeit waren. Jeder einzelne grüne Klecks einer Baumkrone ruhte auf einem Stamm von zwölf Meter Durchmesser, der sechzig Meter emporragte. Unter seinem Blätterdach lag ein Baum von der Größe einer gotischen Kathedrale verborgen. Elliot wußte, daß der Wald sich rund dreitausend Kilometer weit nach Westen erstreckte, bis er schließlich am Atlantik, an der Westküste von Zaire, aufhörte.

Elliot lag viel an Amys Reaktion auf diesen ersten Anblick des Dschungels, ihres natürlichen Lebensraums. Sie sah interessiert aus dem Fenster und teilte ihm mit Hier Dschungel, mit der gleichen distanzierten Haltung, mit der sie Farbkarten oder Gegenstände bezeichnete, die man auf dem Fußboden ihres Wohnwagens in San Francisco vor ihr ausbreitete. Sie identifizierte den Dschungel und gab damit der Sache, die sie sah, einen Namen, aber von einem tieferen Erkennen merkte Elliot nichts. Elliot fragte sie: »Amy mögen Dschungel?«

Dschungel hier, gab sie zurück. Ist Dschungel.

Er beharrte auf seiner Frage und suchte nach den Gefühlsregungen, die es in diesem Zusammenhang in ihr geben mußte. »Amy mögen Dschungel?«

Hier Dschungel. Ist Dschungel. Hier Amy Dschungel sehen. Hier Dschungel sehen.

Er versuchte einen neuen Weg. »Amy leben Dschungel hier?« Nein. Ausdruckslos'. »Wo leben Amy?«

Amy Amy-Haus leben. Damit meinte sie ihren Wohnwagen in San Francisco.

Elliot sah, wie sie ihren Sitzgurt öffnete, das Kinn in die Hand stützte und träge aus dem Fenster sah. Plötzlich bat sie Amy Zigarette wollen. Sie hatte gesehen, daß Munro rauchte. »Später, Amy«, sagte Elliot. »Später.«

Um sieben Uhr morgens flogen sie über die glänzenden Metalldächer der Zinn- und TantalAbbauanlage in Masisi. Munro ging mit Kahega und den anderen Trägern ins Heck der Maschine, wo sie sich an der Ausrüstung zu schaffen machten und sich erregt auf Swahili miteinander unterhielten.

Amy sah sie vorbeigehen und teilte Elliot mit: Männer Sorge. »Weswegen, Amy?«

Männer Sorge Schwierigkeiten Sorge machen. Nach einer Weile ging Elliot ins Heck der Maschine, wo er Munros Leute fand, die, halb begraben unter großen Strohhaufen, Ausrüstungsteile in längliche, torpedoförmige Behälter aus Musselin packten und alles sorgfältig mit Stroh polsterten. Elliot deutete auf die Musselin-Torpedos. »Was ist das?«

»Versorgungsbomben«, sagte Munro mürrisch. »Sehr zuverlässig.«

»Ich habe noch nie gesehen, daß man Ausrüstung so verpackt«, sagte Elliot und sah den Männern bei der Arbeit zu. »Die Männer scheinen unsere Sachen sorgfältig zu schützen.» »Das sollen sie auch«, sagte Munro. Und er ging durch die Maschine nach vorn, um sich mit dem Piloten zu besprechen. Amy machte Zeichen: Nasen-Haar-Mann Peter lügen. Sie nannte Munro »Nasen-Haar-Mann«. Elliot schenkte ihr keine Aufmerksamkeit, sondern sprach mit Kahega. »Wie weit ist es bis zum Landeplatz?«

Kahega sah auf. »Landeplatz?« »Nahe dem Muhavura.«

Kahega machte eine Pause und dachte nach. »Zwei Stunden«, sagte er und kicherte dann drauflos. Er sagte etwas auf swahili zu seinen Brüdern, worauf alle lachten. »Was ist daran so lustig?« fragte Elliot.

»Ach, Doktor«, sagte Kahega und schlug ihn mit der flachen Hand auf den Rücken, »Sie sind so ein lustiger Mensch.« Die Maschine neigte sich seitwärts und flog langsam eine große Schleife. Kahega und seine Brüder sahen aus den Fenstern, und Elliot stellte sich zu ihnen. Er sah nichts als ununterbrochenen Dschungel - und dann eine Kolonne schmutziggrüner Geländefahrzeuge, die sich weit unten auf einer Schlammpiste vorwärts bewegten. Es sah aus wie eine militärische Formation. Mehrfach hörte er das Wort »Muguru«.

»Worum geht es?« fragte Elliot. »Ist das hier Muguru?« Kahega schüttelte heftig den Kopf. »Nein. Dieser verdammte Pilot. Ich habe Captain Munro gewarnt. Dieser verdammte Pilot hat sich verflogen.«

»Verflogen?« wiederholte Elliot. Das Wort allein schon jagte ihm einen Schauer den Rücken hinunter.

Kahega lachte. »Captain Munro sagt es ihm schon, er zeigt es ihm.«

Die Maschine drückte jetzt die Nase nach Osten, entfernte sich vom Dschungel und nahm Kurs auf eine waldbestandene Hochfläche mit welligen Hügeln und vereinzelten Gruppen von Laubbäumen. Kahegas Brüder plapperten erregt miteinander, lachten und schlugen sich krachend gegenseitig auf die Schultern. Sie schienen sich großartig zu amüsieren.

Dann kam Karen Ross mit angespanntem Gesicht raschen Schritts den Gang herunter. Sie packte Kartons aus und entnahm ihnen mehrere Kugeln aus fest eingewickelter Metallfolie, etwa so groß wie Basketbälle.

Die Folie erinnerte Elliot an Lametta. »Wozu ist das?« fragte er. Dann hörte er die erste Detonation, und die Fokker schwankte leicht in der Luft.

Er lief zum Fester und sah eine weiße dünne Linie rechts von ihnen, die in einer schwarzen Rauchwolke endete. Die Fokker ging über die Tragfläche und nahm wieder Kurs auf den Dschungel. Elliot sah jetzt, wie aus dem grünen Wald unter ihnen eine zweite Spur zu ihnen heraufkam.

Er sah, daß es sich um eine ferngelenkte Rakete handelte.

»Schnell!« rief Munro Karen Ross zu.

»Fertig!« rief sie zurück.

Vor seinen Augen detonierte etwas mit rotem Schein, dann nahm dichter Rauch ihm die Sicht. Die Maschine wurde von der Druckwelle geschüttelt, flog aber ihre Kurve weiter. Elliot konnte es nicht glauben: Sie wurden mit Raketen beschossen!

»Radar!« schrie Munro. »Sie zielen nicht mit optischen Einrichtungen, sondern mit Radar!«

Ross nahm die silbernen Basketbälle auf und ging durch den Gang zurück. Kahega öffnete die hintere Tür, so daß der Wind durch die Kabine pfiff. »Was zum Teufel ist hier los?« fragte Elliot. »Machen Sie sich keine Sorgen«, sagte Karen Ross über die Schulter zu ihm. »Wir holen die Zeit schon wieder rein.« Sie hörten ein lautes Schwellgeräusch, auf das eine weitere Detonation folgte. Während die Maschine immer noch scharf auf der Seite lag, riß Karen Ross die Umhüllung von den Basketbällen ab und warf sie aus der Tür.

Mit voller Motorleistung drehte die Fokker fast fünfzehn Kilometer nach Süden ab, stieg auf eine Höhe von gut dreitausendsechshundert Meter und kreiste abwartend über dem Wald. Elliot konnte die Lamettafäden wie eine glitzernde Metallwolke in der Luft hängen sehen. Zwei weitere Raketen detonierten in der Wolke. Noch aus der Entfernung beunruhigten der Lärm und die Druckwellen Amy. Sie schaukelte in ihrem Sitz hin und her und grunzte leise vor sich hin.

»Das sind Düppel«, erklärte Karen Ross, während sie vor ihrem tragbaren Computer saß und Eingaben machte. »Diese Stanniolstreifen stören Radarsysteme. Die mit ihren Boden-Luft-Raketen da unten nehmen an, daß wir irgendwo in der Wolke sitzen.« Elliot hörte ihre Worte, sie drangen langsam wie in einer Traumwirklichkeit an sein Ohr. Sie erschienen ihm keinen Sinn zu geben. »Aber wer schießt denn auf uns?«

»Vermutlich die FAZ«, sagte Munro. »Forces Armees Zai'roises -die Streitkräfte von Zai're.« »Die Streitkräfte von Zai're? Und warum?« »Sie haben uns verwechselt«, sagte Karen Ross und tastete ungerührt weiter, ohne aufzublicken.

»Uns verwechselt? Sie beschießen uns mit Raketen, weil sie uns verwechselt haben! Sollten wir ihnen das nicht besser mitteilen?«

»Das geht nicht«, sagte Ross. »Warum nicht?«

»Weil wir«, sagte Munro, »in Rawamagena keine genaue Flugroute angegeben haben. Das heißt, theoretisch verletzen wir den Luftraum über Zai're.« »Gott im Himmel«, sagte Elliot.

Karen Ross sagte nichts. Sie arbeitete weiter an ihrem Computer, versuchte, die atmosphärischen Bildstörungen zu beseitigen, drückte eine Taste nach der anderen.

»Als ich zustimmte, bei dieser Expedition mitzumachen«, sagte Elliot und wurde dabei immer lauter, »bin ich nicht davon ausgegangen, daß wir in einen Krieg hineingezogen würden.« »Ich auch nicht«, sagte Karen Ross. »Da scheinen wir ja beide mehr zu bekommen, als wir haben wollten.« Bevor Elliot etwas sagen konnte, legte Munro ihm einen Arm um die Schultern und nahm ihn beiseite. »Das ist schon in Ordnung«, sagte er. »Das sind veraltete Raketen aus den sechziger Jahren. Die meisten gehen nur los, weil der Festtreibstoff nichts mehr taugt. Es besteht keine Gefahr. Kümmern Sie sich einfach um Amy, sie braucht ihre Hilfe. Lassen Sie mich jetzt mit Karen Ross in Ruhe arbeiten.«

Karen Ross stand unter ungeheurem Druck. Während die Maschine fünfzehn Kilometer von der Düppelwolke entfernt Schleifen flog, mußte sie in größter Eile eine Entscheidung treffen. Dabei hatte sie gerade einen verheerenden - und völlig unerwarteten - Fehlschlag erlebt. Das europäische Konsortium hatte von Anfang'an einen Vorsprung von etwa achtzehn Stunden und zwanzig Minuten vor ihnen gehabt. In Nairobi hatte Munro mit ihr einen Plan ausgearbeitet, der diesen Vorsprung zunichte machen und es der ERTS-Expedition gestatten würde, vierzig Stunden vor dem Team des Konsortiums an Ort und Stelle zu sein. Dieser Plan -den sie aus naheliegenden Gründen .Elliot nicht mitgeteilt hatte - verlangte, daß sie mit dem Fallschirm über den unbewachsenen Südhängen des Muhavura absprangen. Munro schätzte, daß sie von dort aus lediglich sechsunddreißig Stunden bis zu der toten Stadt brauchten. Karen Ross war davon ausgegangen, daß sie um zwei Uhr nachmittags abspringen konnten, je nachdem, wie die Wolkendecke über dem Muhavura und dem Absprunggebiet aussah. Sie konnten dann bereits am 19. Juni mittags die Stadt erreichen.

Der Plan war überaus gefährlich. Sie würden mit dafür nicht ausgebildeten Leuten über der Wildnis abspringen, mehr als drei Tagemärsche von der nächsten größeren Ortschaft entfernt. Wenn jemand eine ernsthafte Verletzung erlitt, waren seine Überlebensaussichten sehr gering. Auch die Ausrüstung war gefährdet, denn in Höhen von rund dreitausend Metern an den Vulkanhängen war die Luftdichte geringer, so daß die Versorgungsbomben möglicherweise nicht gut genug gepolstert waren. Anfangs hatte Karen Ross Munros Plan als zu gefährlich abgelehnt. Aber er hatte sie davon überzeugt und darauf hingewiesen, daß die Gleitschirme mit einer automatischen Höhenauslösung versehen und die Geröllhalden im oberen Teil der Vulkanhänge so nachgiebig waren wie ein Sandstrand, daß die Versorgungsbomben eine Sicherheitsreserve boten und daß er Amy beim Absprung selber halten konnte.

Karen Ross hatte den wahrscheinlichen Ausgang vom Computer in Houston berechnen lassen und eine Gegenkontrolle angefordert. Die Ergebnisse waren klar. Die Aussichten eines erfolgreichen Absprungs wurden mit 0,7980 angegeben, das heißt, es stand eins zu vier, daß jemand schwer verletzt wurde. Vorausgesetzt aber, der Absprung gelang, betrug die Erfolgsaussicht der Expedition 0,9943, das heißt, es war dann praktisch sicher, daß sie vor dem Konsortium an Ort und Stelle ankommen würden. Kein anderer Plan bot eine so hohe Erfolgsaussicht. Sie hatte sich alle Daten angesehen und gesagt: »Ich denke, wir springen.« »Habe ich ja gleich gesagt«, sagte Munro.

Der Absprung löste eine ganze Reihe von Schwierigkeiten, da die durchgegebenen Berichte über geopolitische Neuentwicklungen immer unerfreulicher klangen. Die Kigani waren tatsächlich auf dem Kriegspfad, die Pygmäen völlig unzuverlässig, und die Streitkräfte von Zai're hatten Panzereinheiten in das östliche Grenzgebiet entsandt, um den Kigani-Aufstand niederzuschlagen. Es war bekannt, daß afrikanische Feldsoldäten den Finger rasch am Abzug hatten. Sie durften hoffen, durch ihren Absprung am Muhavura all diesen Gefahren aus dem Weg zu gehen. So war die Lage gewesen, bevor die Boden-Luft-Raketen rund um ihr Flugzeug detonierten. Sie befanden sich immer noch gut einhundertdreißig Kilometer südlich von dem vorgesehenen Absprunggebiet und verschwendeten mit dem Kreisen über dem Kigani-Gebiet Zeit und Treibstoff. Es sah aus, als sei der kühne Plan, den Munro so raffiniert erdacht und den der Computer für so aussichtsreich befunden hatte, plötzlich bedeutungslos. Und um ihre Schwierigkeiten noch zu vergrößern, konnte sie keine Verbindung mit Houston bekommen, der Computer kam über Satellit nicht durch. Karen Ross verbrachte eine volle Viertelstunde mit dem Versuch, sie verstärkte die Leistung und schaltete verschiedene Verwürflerschlüssel ein, bis sie sich schließlich darüber klarwurde, daß andere Sender ihre Versuche absichtlich auf elektronischem Wege störten. Zum erstenmal, so weit sie zurückdenken konnte, war Karen Ross den Tränen nahe.

»Ruhig Blut«, sagte Munro gelassen und zog ihre Hände von der Konsole. »Eines nach dem anderen, es hat keinen Zweck, sich aufzuregen.« Sie hatte immer wieder auf den Tasten herumgehackt, ohne zu merken, was sie tat.

Munro merkte, daß Elliots und Karen Ross' Stimmung sich verschlechtert hatte. Er kannte das von früheren Expeditionen vor allem von Naturwissenschaftlern und Technikern.

Naturwissenschaftler arbeiten den ganzen Tag lang in Labors, in denen man alle Bedingungen streng regeln und überwachen konnte. Früher oder später glaubten sie, die Welt außerhalb ihrer Labors sei ebenso steuerbar und beeinflußbar wie die innerhalb. Obwohl sie es eigentlich besser wußten, führte die Entdeckung, daß die natürliche Welt ihren eigenen Gesetzen folgte und von ihnen überhaupt keine Kenntnis nahm, jedesmal zu einem schweren psychischen Schock. Munro konnte die Anzeichen dafür erkennen.

»Unsere Maschine«, sagte Karen Ross, »ist doch ganz offensichtlich kein Militärflugzeug. Wie können sie so etwas tun?« Munro sah sie verständnislos an. Im Bürgerkrieg des Kongo waren zivile Flugzeuge mit unschöner Regelmäßigkeit von allen Seiten heruntergeschossen worden. »So etwas kommt vor«, sagte er. »Und die Störsender? Das können diese Scheißkerle doch nicht machen. Wir werden zwischen unserem eigenen Sender und unserem Satellitenübertrager gestört. Dazu braucht man einen weiteren Satelliten -und -« sie brach nachdenklich ab.

»Sie haben doch nicht etwa erwartet, daß das Konsortium Ihnen däumchendrehend zusieht?« sagte Munro. »Die Frage ist, können Sie es in Ordnung bringen? Verfügen Sie über Gegenmittel?«

»Natürlich«, sagte Karen Ross. »Ich kann eine Aufforderung codieren, die Störung zu durchbrechen, ich kann optisch mit einem Infrarotträger senden und eine Verbindung über Bodenstationen herstellen - aber das braucht seine Zeit. Und ich muß jetzt Informationen haben. Unser Plan ist zum Teufel.« »Immer ruhig Blut«, wiederholte Munro ruhig. Er sah die Anspannung in ihren Zügen und wußte, daß sie nicht klar dachte. Da er aber nicht für sie denken konnte, mußte er sie dazu bringen, sich zu beruhigen.

Munros Einschätzung nach war die Expedition der ERTS bereits gescheitert - sie konnten nicht mehr vor dem Konsortium den Zielpunkt im Kongo erreichen. Dennoch hatte er nicht die Absicht aufzugeben. Er hatte lange genug Expeditionen geführt, um zu wissen, daß die unglaublichsten Dinge geschehen konnten, und so sagte er: »Wir können die verlorene Zeit immer noch herausholen.« »Sie herausholen? Wie?«

Munro sagte, was ihm gerade in den Sinn kam: »Wir gehen nördlich über den Ragora. Der Fluß läßt sich sehr leicht überqueren, da gibt es keine Schwierigkeiten.« »Der Fluß ist viel zu gefährlich.«

»Das müssen wir abwarten«, sagte Munro. Dabei wußte er genau, daß sie recht hatte. Der Ragora war tatsächlich viel zu gefährlich, vor allem im Juni. Dennoch ließ er seiner Stimme nichts anmerken, sprach weiter beruhigend und besänftigend. »Soll ich es den anderen sagen?« fragte er schließlich.

»Ja«, sagte Karen Ross. In der Ferne hörten sie wieder eine Rakete detonieren. »Wir wollen hier weg.« Munro ging rasch ins Heck der Maschine und sagte zu Kahega: »Bereite die Männer vor.«

»Ja, Boss«, sagte Kahega. Eine Flasche Whisky machte die Runde, und alle nahmen einen kräftigen Schluck.

Elliot fragte: »Was zum Teufel wird hier gespielt?«

»Die Männer bereiten sich vor«, sagte Munro.

»Worauf?« fragte Elliot.

In diesem Augenblick kam Karen Ross mit entschlossener Miene zurück. »Von hier ab geht es zu Fuß weiter«, sagte sie.

Elliot sah aus dem Fenster. »Wo ist der Landeplatz?«

»Es gibt keinen Landeplatz«, sagte Karen Ross.

»Was heißt das?«

»Das heißt, es gibt keinen Landeplatz.«

»Landet die Maschine etwa auf einem Acker?« fragte Elliot.

»Nein«, sagte Ross. »Die Maschine landet überhaupt nicht.«

»Und wie kommen wir dann runter?« fragte Elliot, aber noch während er die Frage stellte, sank ihm das Herz, denn er wußte die Antwort bereits.

»Amy wird nichts zustoßen«, sagte Munro munter, während er Elliot die Gurte fest um die Brust zog. »Ich habe ihr etwas von Ihrem Thoralen gespritzt, das wird sie wohl ruhig halten. Es gibt keine Probleme, ich halte sie schon gut fest.« »Sie wollen sie halten?« fragte Elliot.

»Fallschirmgurte sind ihr zu weit«, sagte-Munro. »Also muß ich sie auf dem Arm mit runternehmen.« Amy schnarchte laut und sabberte auf Munros Schulter. Er legte sie zu Boden, dort lag sie entspannt auf dem Rücken und schnarchte weiter. »Jetzt also«, sagte Munro. »Ihr Gleitschirm öffnet sich automatisch. Sie haben in beiden Händen eine Steuerleine. Auf Zug nach links geht es nach links, und wenn Sie nach rechts ziehen nach rechts. Außerdem -«

»Was geschieht mit ihr?« fragte Elliot und deutete auf Amy. »Ich nehme sie schon, passen Sie jetzt auf. Wenn etwas schiefgeht, hier ist Ihr Reserveschirm, auf der Brust.« Er klopfte auf ein Stoffbündel mit einem kleinen Kästchen, auf dem digital die Zahl 4757 angezeigt wurde - die gegenwärtige Flughöhe in Fuß. »Das ist Ihr fallregulierender Höhenmesser. Er löst automatisch den Reserveschirm aus, wenn in elfhundert Metern Höhe Ihre Fallgeschwindigkeit noch über dem eingestellten Wert liegt. Es gibt also keinen Grund zur Sorge: alles funktioniert automatisch.«

Elliot lief es eiskalt den Rücken hinunter, er war schweißgebadet. »Wie ist es mit dem Landen?«

»Kinderspiel«, grinste Munro. »Auch das geht automatisch. Bleiben Sie entspannt, fangen Sie den Stoß mit den Beinen ab. Tun Sie, als sprängen Sie aus drei Meter Höhe zu Boden - das haben Sie doch sicher schon tausendmal getan.« Hinter Munro sah Elliot die offene Tür, durch die helles Sonnenlicht in die Maschine flutete. Der Wind pfiff und beutelte sie. Kahegas Männer sprangen rasch hintereinander. Er warf einen Blick auf Karen Ross, die mit aschfahlem Gesicht und zitternder Unterlippe den Griff neben der Tür faßte. »Karen, Sie werden doch nicht -«

Sie sprang und verschwand im hellen Sonnenlicht. Munro sagte: »Sie sind an der Reihe.« »Ich bin noch nie gesprungen«, sagte Elliot. »So ist es am besten. Dann haben Sie wenigstens keine Angst.« »Aber ich habe Angst.«

»Da kann ich Ihnen nicht helfen«, sagte Munro und schob Elliot hinaus.

Er sah ihn fallen. Sein breites Grinsen war schlagartig verschwunden - er hatte diese muntere Miene nur aufgesetzt, um Elliot zu helfen. »Wenn ein Mann etwas Gefährliches tun muß«, sagte er später, »ist es besser, daß er wütend ist. Das ist zu seinem eigenen Schutz gut. Besser, er haßt jemanden, als daß er vor Angst in Stücke springt. Ich wollte, daß Elliot mich auf dem Weg nach unten so richtig von Herzen haßte.«

Munro kannte die Gefahren. Mit der Maschine ließen sie zugleich und unwiderruflich auch die Zivilisation hinter sich und damit all das, was darin als selbstverständlich galt. Sie sprangen nicht nur durch die Luft, sondern auch durch die Zeit, zurück in eine weit primitivere und gefährlichere Welt - in die ewige Wirklichkeit des Kongo, die schon Jahrhunderte vor ihnen bestanden hatte. »Das waren die Tatsachen des Lebens«, sagte Munro, »aber ich sah keinen Grund, die anderen vor dem Absprung zu beunruhigen.

Meine Aufgabe bestand darin, die Leute in den Kongo zu bringen, nicht darin, ihnen angst zu machen. Für Angst war später noch reichlich Zeit und Gelegenheit.«

Während Elliot fiel, stand er Todesängste aus. Sein Magen schien sich in den Hals hochzuschieben, und er schmeckte Galle. Der Wind pfiff ihm um die Ohren und zerrte an seinem Haar. Er zitterte vor Kälte. Unter ihm zog sich der Barawanawald über wellige Hügel dahin. Er konnte die Schönheit, die er sah, nicht würdigen, er schloß sogar die Augen, während er mit rasender Geschwindigkeit der Erde entgegenfiel. Aber er merkte, daß ihm der heulende Wind noch mehr ins Bewußtsein drang, wenn er die Augen geschlossen hielt. Es war schon zuviel Zeit verstrichen. Offensichtlich wollte sein Gleitschirm (was auch immer das war) sich nicht öffnen. Jetzt hing sein Leben von dem Fallschirm vor seiner Brust ab. Er umkrallte das Päckchen, das dicht an seinem in Aufruhr befindlichen Magen lag. Dann nahm er die Hände rasch weg: Er wollte es nicht daran hindern, sich zu öffnen. Dunkel erinnerte er sich an Menschen, die dadurch ums Leben gekommen waren, daß sie versucht hatten, dem sich automatisch öffnenden Fallschirm zu Hilfe zu kommen.

Der Wind fuhr fort zu jaulen; sein Körper sauste mit atemberaubender Geschwindigkeit zu Boden. Nichts geschah. Der Wind zerrte wild an seinen Füßen, ließ die Hose um seine Beine und die Hemdsärmel um die Arme klatschen. Nichts geschah. Bestimmt waren schon drei Minuten seit dem Absprung vergangen. Er wagte es nicht, die Augen zu öffnen, aus Furcht, die Bäume auf sich zurasen zu sehen, während er auf sie niederstürzte, in den letzten Sekunden seines bewußten Lebens... Er war nahe daran, sich zu erbrechen.

Galle tropfte ihm aus dem Mundwinkel, aber da er mit dem Kopf nach unten fiel, lief die Flüssigkeit ihm über das Kinn zum Hals und dann in sein Hemd. Sie war eiskalt. Seine Zähne klapperten. Ein Ruck, der förmlich an seinen Knochen zerrte, drehte ihn um.

Einen Augenblick lang dachte er, er sei auf dem Boden aufgeschlagen. Doch dann merkte er, daß er noch immer durch die Luft fiel, nur sehr viel langsamer jetzt. Er öffnete die Augen und sah den leuchtend blauen Himmel.

Mit einem Blick auf den Höhenmesser erkannte er voller Entsetzen, daß er noch weit über tausend Meter von der Erde entfernt war. Offenbar hatte der Fall von der Maschine über ihm nur wenige Sekunden gedauert...

Er hob den Kopf, konnte aber das Flugzeug nicht sehen. Unmittelbar über ihm blähte sich ein riesiges Rechteck mit leuchtenden roten, weißen und blauen Streifen: der Gleitschirm. Da es ihm leichterfiel, nach oben als nach unten zu sehen, betrachtete er ihn aufmerksam. Die vordere Kante war gewölbt und rundlich, die hintere war schmal und schlug im Wind. Das Ganze sah einem Flugzeugflügel sehr ähnlich, und von dem Schirm verliefen Leinen zu seinem Körper herab.

Er atmete tief ein und sah nach unten. Noch immer schwebte er sehr hoch über dem Boden. Daß er jetzt so langsam fiel, beruhigte ihn etwas. Es war eigentlich alles ziemlich friedlich. Dann merkte er, daß seine Bewegung nicht abwärts, sondern seitwärts führte. Er sah unter sich die anderen Gleitschirme, Kahega mit seinen Männern und Karen Ross. Er versuchte, sie zu zählen, und meinte, es seien sechs, aber es fiel ihm schwer, sich zu konzentrieren. Er hatte den Eindruck, als bewegte er sich seitlich von ihnen fort.

Er zerrte an den Leinen in seiner linken Hand und spürte, wie sein Körper sich mitdrehte, als der Schirm sich bewegte und nach links steuerte. Nicht schlecht, dachte er.

Er zog fester an den Leinen auf der linken Seite und machte sich nichts daraus, daß er dadurch rascher zu fallen schien. Er versuchte, in der Nähe der sinkenden Rechtecke unter ihm zu bleiben. Er hörte das Pfeifen des Windes in seinen Ohren. Er sah suchend nach oben, ob Munro über ihm war, aber außer den Streifen seines eigenen Gleitschirms vermochte er nichts zu sehen.

Er blickte wieder nach unten und war erstaunt, als er merkte, daß der Boden schon sehr viel näher gekommen war, daß er ihm jetzt mit geradezu sinnenbetäubender Geschwindigkeit entgegenzurasen schien. Er fragte sich, wieso er geglaubt hatte, langsam nach unten zu schweben. Der Sturz hatte nichts Sanftes an sich. Er sah, wie der erste Gleitschirm sachte in sich zusammensank, als Kahega den Boden berührte, dann der zweite, der dritte. Es würde nicht mehr lange dauern bis zu seiner Landung. Er war schon fast auf der Höhe der Baumkronen, aber seine Seitwärtsbewegung war sehr stark. Er merkte, daß er mit der linken Hand noch immer fest an den Leinen zerrte. Er löste den Griff, seine Seitwärtsbewegung hörte auf, er trieb jetzt nach vorn. Zwei weitere Gleitschirme fielen in sich zusammen. Er sah wieder dorthin, wo Kahega und seine Männer bereits die Schirme einrollten. Sie waren heil gelandet, das machte ihm Mut. Er trieb mitten in eine dichte Baumgruppe hinein. Er zerrte an seinen Leinen und drehte sich nach rechts, wobei die Bewegung seinen ganzen Körper mitriß. Er fiel jetzt sehr rasch. Den Bäumen würde er nicht ausweichen können, er würde genau auf sie aufprallen. Die Zweige schienen wie Finger nach ihm zu greifen. Er schloß die Augen und spürte, wie die Zweige ihm Gesicht und Körper zerkratzten, als er nach unten fiel. Er wußte, daß er in der nächsten Sekunde auf dem Boden aufprallen würde, dann mußte er sich abrollen... Er prallte nicht auf.

Plötzlich war alles still. Er merkte, wie er auf-und abschwang. Als er die Augen öffnete, sah er, daß er gut einen Meter über dem Boden in der Luft hing. Sein Gleitschirm hatte sich in den Bäumen verfangen.

Er öffnete die Verschlüsse des Gurtzeugs und ließ sich zu Boden fallen. Gerade als er aufstand, kamen Kahega und Karen Ross zu ihm herübergelaufen und fragten, ob ihm etwas fehle. »Mir geht es großartig«, sagte Elliot, und so fühlte er sich auch, lebendiger, als er sich je erinnern konnte. Im nächsten Augenblick fiel er auf unsicheren Gummibeinen um und erbrach sich sogleich.

Kahega lachte. »Willkommen im Kongo«, sagte er. Elliot wischte sich den Mund und fragte: »Wo ist Amy?« Einen Augenblick später landete Munro, mit einem blutenden Ohr - Amy hatte ihn vor Angst gebissen. Sie war aber wohlauf und rannte auf allen vieren zu Elliot, um sich zu vergewissern, daß ihm nichts fehlte. Dann ließ sie wissen: Amy fliegen nicht mögen.

»Aufpassen!«

Das erste der torpedoförmigen Versorgungspäckchen kam herunter und zerbarst beim Aufschlag auf dem Boden wie eine Bombe, wobei Ausrüstungsteile und Stroh in alle Richtungen verstreut wurden.

»Da kommt die nächste!«

Elliot ging in Deckung. Die zweite Bombe schlug nur wenige Meter neben ihm ein. Folienbehälter mit Reis und anderen Nahrungsmitteln prasselten auf ihn nieder. Über sich hörte er das Dröhnen der kreisenden Fokker. Er stand gerade rechtzeitig auf, um zu sehen, wo die beiden letzten Versorgungsbomben aufschlugen, während Kahegas Männer sich rennend in Sicherheit brachten und Karen Ross schrie: »Vorsichtig, da sind die Laser drin!« Es war wie im Bombenkrieg, aber so rasch es begonnen hatte, so rasch war es auch vorüber. Die Fokker über ihnen entschwand, und der Himmel war still. Die Männer machten sich daran, die Ausrüstung wieder zusammenzupacken und die Schirme zu vergraben, während Munro auf swahili Anweisungen brüllte. Zwanzig Minuten später zogen sie im Gänsemarsch durch den Wald, taten die ersten Schritte auf einem dreihundert Kilometer langen Weg, der sie in die unerforschten östlichen Gebiete des Kongo führen würde, einer wunderbaren Belohnung entgegen. Wenn sie sie rechtzeitig erreichten.

2. Kigani

Als Elliot den ersten Schrecken des Absprungs überwunden hatte, gefiel ihm der Marsch durch den Barawanawald. Affen kreischten in den Bäumen, und Vögel ließen ihren Ruf in der kühlen Luft erschallen. Die Kikuyu-Träger zogen einzeln hinter ihnen her, rauchten Zigaretten und scherzten in einer fremden Sprache miteinander. Elliot genoß seine Empfindungen - das Gefühl, von einer sich selbst verabsolutierenden Zivilisation losgelöst zu sein, das Abenteuer, die Möglichkeit unerwarteter Ereignisse, die jederzeit eintreten konnten, und schließlich die Suche nach einer fesselnden Vergangenheit, während die Allgegenwart der Gefahr die Empfindungen intensivierte. In dieser Hochstimmung lauschte er den Tieren des Walds um sich herum, sah das Licht- und Schattenspiel zwischen den Bäumen, spürte den nachgiebigen Boden unter seinen Füßen und sah zu Karen Ross hinüber, die ihm plötzlich auf eine völlig unerwartete Art anmutig und schön erschien.

Doch sie verschwendete keinen Blick auf ihre Umgebung. Sie drehte im Gehen Knöpfe an einem ihrer schwarzen Elektronikkästen und versuchte ein Signal einzufangen. Von einem Schulterband hing ein zweiter solcher Kasten, und da sie sich nicht nach Elliot umwandte, hatte er Zeit zu beobachten, daß sich an ihrer Achsel ein dunkler Schweißfleck gebildet hatte und ein weiterer an ihrem Rücken.

Das dunkelblonde Haar klebte ihr naß und strähnig am Hinterkopf. Auch bemerkte er, daß ihre Hose vom Aufprall auf dem Boden voller Falten und Schmutzflecke war.

»Genießen Sie den Wald«, sagte Munro zu ihm. »Das ist auf lange Zeit das letzte Mal, daß Sie sich kühl und trocken fühlen werden.«

Elliot stimmte zu, daß es im Wald sehr angenehm sei. »Ja, sehr angenehm«, pflichtete Munro ihm mit einem seltsamen Gesichtsausdruck bei und nickte.

Der Barawanawald war kein jungfräulicher Urwald. Von Zeit zu Zeit kamen sie an gerodeten Feldern und anderen Anzeichen menschlicher Besiedlung vorbei, wenn sie auch nie jemanden sahen. Als Elliot darauf hinwies, schüttelte Munro den Kopf. Während sie tiefer in den Wald eindrangen, wurde Munro immer grüblerischer und wortkarger. Allerdings zeigte er sich an der Tierwelt interessiert und blieb oft stehen, um aufmerksam einem Vogelruf zu lauschen, bevor er der Expedition das Signal zum Weitermarsch gab.

Während einer solchen Pause drehte Elliot sich um, blickte die Reihe von Trägern entlang, die Lasten auf ihren Köpfen balancierten und empfand eine enge Beziehung zu Livingstone, Stanley und den anderen Afrika-Forschern, die vor einem Jahrhundert diesen Kontinent durchstreift hatten. Hier stimmten seine romantischen Vorstellungen tatsächlich einmal. Das Leben in Zentralafrika hat sich seit Stanleys Erforschung des Kongo in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts nur wenig geändert - so wenig wie die Grundzüge der Expeditionen in dieses Gebiet. Wer ernsthaft etwas erforschen wollte, mußte nach wie vor zu Fuß gehen, nach wie vor waren Träger erforderlich, die Kosten waren beträchtlich - und auch die Gefahren.

Gegen Mittag hatten Elliots Schuhe zu drücken begonnen, und jetzt merkte er, daß er todmüde war. Offensichtlich waren auch die Träger müde. Sie waren schweigsam geworden, rauchten nicht mehr und riefen einander auch keine Scherzworte mehr zu. Die Gruppe zog schweigend weiter. Elliot fragte Munro, ob eine Mittagspause eingelegt werde. »Nein«, sagte Munro.

»Das ist gut«, sagte Karen Ross mit einem Blick auf ihre Uhr. Kurz nach ein Uhr hörten sie das Klopfen von Hubschrauberrotoren. Munro und die Träger reagierten sofort - sie tauchten unter eine Gruppe hoher Bäume und warteten, nach oben spähend. Wenige Augenblicke später donnerten zwei große grüne Hubschrauber über sie hinweg. Elliot konnte deutlich die weiße Beschriftung lesen: FAZ.

Munro warf den abziehenden Hubschraubern einen schiefen Blick nach. Es waren Hueys amerikanischer Herkunft, die Bewaffnung hatte er nicht erkennen können. »Vom Heer«, sagte er. »Die suchen nach Kigani.«

Eine Stunde später kamen sie an eine Lichtung, auf der Maniok angebaut wurde. Ein grob zusammengezimmertes Farmgebäude stand in der Mitte, aus dem Schornstein stieg blasser Rauch und an einer Leine flatterte Wäsche träge im schwachen Lufthauch. Von den Bewohnern war nichts zu sehen.

Bisher war die Expedition jeweils um landwirtschaftlich genutzte Lichtungen herumgezogen, aber diesmal hob Munro die Hand und gebot Halt. Die Träger setzten ihre Lasten ab, hockten sich ins Gras und warteten stumm.

Die Atmosphäre war angespannt - Elliot verstand nicht recht warum. Munro saß mit Kahega am Rand der Lichtung und faßte das Farmhaus und die es umgebenden Felder ins Auge. Als sich nach zwanzig Minuten immer noch nichts rührte, wurde Karen Ross, die neben Munro saß, ungeduldig und sah immer wieder auf die Uhr. »Warum machen wir nicht -«

Munro legte ihr grob die Hand auf den Mund. Er wies auf die Lichtung und bildete mit den Lippen ein Wort: Kigani.

Karen Ross öffnete die Augen weit. Munro nahm seine Hand fort.

Sie alle sahen zu dem Farmhaus hinüber. Immer noch rührte sich nichts. Karen Ross machte mit dem Arm eine kreisförmige Bewegung und deutete damit an, daß sie um die Lichtung herumgehen und weiterziehen sollten. Munro schüttelte den Kopf und bedeutete ihr mit einer Handbewegung, sie solle sich wieder auf den Boden setzen. Er sah Elliot fragend an und wies auf Amy, die in der Nähe durch das hohe Gras streifte. Er schien zu befürchten, daß Amy ein Geräusch verursachen könnte. Elliot machte Amy Zeichen, sie möge sich still verhalten, aber es war nicht nötig. Sie hatte die allgemeine Spannung längst empfunden und warf von Zeit zu Zeit mißtrauische Blicke zum Farmhaus hinüber.

Wieder geschah einige Minuten lang nichts. Sie lauschten dem Zirpen der Zikaden in der heißen Mittagssonne und warteten. Sie sahen die Wäsche auf der Leine im Wind flattern.

Dann drang plötzlich kein blauer Rauch mehr aus dem Schornstein.

Munro und Kahega tauschten Blicke. Kahega glitt dorthin zurück, wo die Träger saßen, öffnete eine der Lasten und holte eine Maschinenpistole heraus. Er bedeckte mit der Hand den Sicherungshebel und dämpfte so das beim Entsichern entstehende Geräusch. Es war unglaublich still in der Lichtung. Kahega nahm seinen Platz neben Munro wieder ein und gab ihm die Waffe. Munro sah nach, ob sie entsichert war und legte sie dann auf den Boden. Sie warteten noch einige Minuten. Elliot warf einen Blick zu Karen Ross hinüber, aber sie sah nicht in seine Richtung. Man hörte ein leises Quietschen, als die Tür des Hauses sich öffnete. Munro nahm die Maschinenpistole zur Hand. Niemand kam heraus. Sie alle starrten auf die offene Tür und warteten. Und dann traten schließlich die Kigani-Krieger aus der Türöffnung ins Sonnenlicht.

Elliot zählte zwölf hochgewachsene, muskulöse, mit Pfeil und Bogen bewaffnete Männer, die lange Buschmesser in den Händen hielten. Über Beine und Brustkorb zogen sich weiße Striche, und ihre Gesichter waren ganz und gar weiß bemalt. Das verlieh ihnen ein bedrohliches Aussehen, die Gesichter wirkten wie Totenschädel. Als die Kigani durch den hochstehenden Maniok davonzogen, konnte man nur noch ihre weißen Köpfe sehen, die sich immer wieder sichernd umwandten.

Auch nach ihrem Weggang wartete Munro noch zehn Minuten und behielt die still vor ihnen liegende Lichtung aufmerksam im Auge. Schließlich erhob er sich und seufzte. Als er sprach, klang seine Stimme unglaublich laut. »Das waren Kigani«, sagte er. »Was haben sie getan?« wollte Karen Ross wissen. »Gegessen«, sagte Munro, »Sie haben die Menschen, die dort wohnten, getötet und dann gegessen. Die meisten Farmer sind geflohen, weil die Kigani auf dem Kriegspfad sind.« Er machte Kahega ein Zeichen, die Träger wieder in Marsch zu setzen, und sie brachen auf, umgingen die Lichtung. Elliot warf immer wieder Blicke auf das Farmhaus und fragte sich, was er wohl sehen würde, wenn er hineinginge. Munros Aussage hatte so beiläufig geklungen: Sie haben die Menschen ... getötet und dann gegessen.

»Ich vermute«, sagte Karen Ross und sah über ihre Schulter, »daß wir uns glücklich preisen dürfen.

Vermutlich gehören wir zu den letzten Menschen auf der Welt, die so etwas zu sehen bekommen.«

Munro schüttelte den Kopf. »Das bezweifle ich«, sagte er. »So schnell bricht niemand mit alten Gewohnheiten.«

Im Verlauf des Bürgerkriegs, der in den sechziger Jahren im Kongo getobt hatte, hatte die Öffentlichkeit der westlichen Welt entsetzt auf Berichte über den weitverbreiteten Kannibalismus und andere Scheußlichkeiten reagiert. In Wirklichkeit war Kannibalismus in Zentralafrika stets offen praktiziert worden. Sidney Hinde schrieb 1897, daß »alle Stämme im Kongo-Becken entweder Kannibalen sind oder waren, und bei einigen von ihnen gewinnt der Brauch an Beliebtheit.« Hinde zeigte sich von der unverhüllten Offenheit des kongolesischen Kannibalismus beeindruckt: »Dampferkapitäne haben mir oft versichert, daß immer wieder, wenn sie versuchen, von den Eingeborenen Ziegen zu kaufen, im Austausch dafür Sklaven verlangt werden. Häufig kommen sie mit Elefantenzähnen an Bord, für die sie einen Sklaven kaufen wollen, und beklagen sich, daß Fleisch derzeit in weitem Umkreis sehr knapp sei.«

Im Kongo stand der Kannibalismus in keiner Beziehung zu Ritualen, zur Religionsausübung oder zum Krieg - es war lediglich eine Frage kulinarischer Vorliebe.

Reverend Holman Bentley, ein Geistlicher, die zwanzig Jahre dort zubrachte, zitierte einen Eingeborenen, der gesagt haben soll: "Ihr Weißen glaubt, daß Schweinefleisch am besten schmeckt, aber in Wirklichkeit hält es den Vergleich mit Menschenfleisch nicht aus.« Bentley hatte den Eindruck, daß die Eingeborenen »die ihren Gewohnheiten gegenüber erhobenen Bedenken nicht verstehen würden. Ihr eßt Geflügel und Ziegen, und wir essen Menschen - warum auch nicht? Wo liegt der Unterschied?«

Diese ungezwungene Haltung erstaunte Beobachter und führte zu .seltsamen Gewohnheiten. Herbert Ward beschrieb 1910 Märkte, auf denen Sklaven verkauft wurden, und zwar »stückweise, bei lebendigem Leibe. So unglaublich es erscheinen mag, Gefangene werden von Ort zu Ort geführt, damit jeder Gelegenheit hat, durch Markierungen, die außen am Körper angebracht werden, den Teil zu kennzeichnen, den er zu kaufen wünscht. Diese Kennzeichnung erfolgt gewöhnlich mit Hilfe farbigen Tons oder in besonderer Weise geknoteter Grasstreifen. Die verblüffende Gelassenheit der Opfer, die auf diese Weise erleben, wie um ihre einzelnen Teile gefeilscht wird, ist nur der Abgestumpftheit vergleichbar, mit der sie ihrem Geschick entgegenziehen.« Solche Berichte kann man nicht als Zeugnisse spätviktorianischer Hysterie abtun, denn alle Beobachter beschrieben die Kannibalen als freundlich und sympathisch. Ward nannte sie Menschen »ohne Arg und niedrige Gesinnung. In völligem Gegensatz zu allem, was man eigentlich annehmen sollte, gehören sie zu den freundlichsten Menschen«. Bentley beschrieb sie als »heitere und mutige Burschen, freundlich in der Unterhaltung und nur zu bereit, ihre Zuneigung zu beweisen.«

Unter der belgischen Kolonialverwaltung ging der Kannibalismus stark zurück - zu Beginn der fünfziger Jahre ließen sich sogar gelegentlich Friedhöfe finden -, aber niemand nahm ernsthaft an, daß er ausgerottet sei. Noch 1956 schrieb H. C. Engert: »Der Kannibalismus ist in Afrika bei weitem noch nicht tot... Ich habe selbst eine Weile in einem Kannibalendorf zugebracht und einige (menschliche) Knochen gefunden. Es handelt sich bei den Eingeborenen um überaus freundliche Menschen. Der Kannibalismus ist einfach ein alter Brauch, der nicht so schnell aufgegeben wird.«

In Munros Augen war der Aufruhr der Kigani 1979 lediglich eine politische Unbotmäßigkeit. Die Angehörigen des Stamms rebellierten gegen die Aufforderung der Regierung des Landes Zaire, Ackerbau zu treiben, statt zu jagen - als sei das alles so einfach. Die Kigani waren ein armes, rückständiges Volk, Hygiene war bei ihnen nur wenig entwickelt, ihre Nahrung war eiweiß- und vitaminarm, und sie fielen häufig der Malaria, dem Hakenwurm, der Bilharziose und der Schlafkrankheit zum Opfer. Jedes vierte Kind starb bereits bei der Geburt, und nur wenige Kigani wurden älter als fünfundzwanzig Jahre. Die Mühsal ihres Daseins erforderte Erklärungen, und die lieferten ihnen Angawa oder Zauberer. Die Kigani glaubten, daß die Mehrzahl der Todesfälle durch das Eingreifen übernatürlicher Kräfte erfolgte: Das Opfer war von einem Zauberer verhext, hatte ein Tabu gebrochen oder wurde von rachedurstigen Geistern aus dem Totenreich umgebracht. Auch der Jagd wohnte ein übernatürlicher Aspekt inne: Das Wild wurde stark von der Geisterwelt beeinflußt. Tatsächlich erschien den Kigani die übernatürliche Welt weit wirklicher als die Alltagswelt, die sie für einen »Wachtraum« hielten. Sie versuchten, die übernatürlichen Kräfte durch Zauberbann und von den Angawa hergestellte Zaubertränke zu beherrschen. Sie führten auch rituelle Veränderungen an ihren Leibern durch, bemalten beispielsweise Gesicht und Hände weiß, um damit dem Krieger für die Schlacht größere Kräfte zu verleihen. Da die Kigani glaubten, daß auch den Leichen ihrer Feinde ein Zauber innewohnte, aßen sie sie, um den von anderen Angawa ausgesprochenen Zauber zu brechen. Die ursprünglich dem Gegner eigenen magischen Kräfte sollten so auf sie übergehen, und die Bemühungen der feindlichen Zauberer vereitelt werden.

Dieser Glaube war uralt, und die Kigani reagierten schon immer in ganz bestimmter Weise auf Bedrohungen. Dazu gehörte, daß sie andere Menschen aßen. 1890 zogen sie im Norden auf den Kriegspfad, nachdem die ersten Fremden mit Feuerwaffen bei ihren Einfallen das Wild vergrämt hatten. Als sie im Bürgerkrieg 1961 vor dem Hungertod standen, griffen sie andere Stämme an und aßen ihre Opfer.

»Und warum essen sie jetzt Menschen?« fragte Elliot Munro. »Sie bestehen auf ihrem Jagdrecht«, sagte Munro. »Ganz gleich, was die Bürokraten in Kinshasa davon halten.«

Am frühen Nachmittag erklommen die Expeditionsteilnehmer einen Berg, von dem aus sie die Täler überblicken konnten, die in südlicher Richtung hinter ihnen lagen. In der Feme entdeckten sie große Rauchwolken und sahen Flammen emporzüngeln. Man hörte die gedämpften Detonationen von Luft-Boden-Raketen und das Rotorklopfen von Hubschraubern, die wie mechanische Geier über einem erlegten Stück Wild in der Luft kreisten. »Das sind Kigani-Dörfer«, sagte Munro und blickte kopfschüttelnd zurück. »Sie haben nicht die geringsten Aussichten, zumal alle Mänrter in den Hubschraubern und die Bodentruppen, die, sie unterstützen, vom Abawe-Stamm sind, dem Erbfeind der Ki-gani.«

Die Welt des 20. Jahrhunderts hatte keinen Raum für den Glauben von Kannibalen, und die Regierung in Kinshasa, dreitausend Kilometer entfernt, hatte bereits beschlossen, »den peinlichen Brauch der Menschenfresserei« in den Grenzen ihres Landes mit Stumpf und Stiel auszurotten. Sie schickte im Juni fünftausend Soldaten und sechs mit Raketen ausgerüstete amerikanische UH-2-Hubschrauber sowie zehn gepanzerte Mannschaftstransporter gegen die Kigani, um die Rebellion niederzuschlagen. Der kommandierende Befehlshaber, General Ngo Muguru, gab sich keinen Täuschungen über seinen Auftrag hin: man wollte in Kinshasa, daß er den Stamm der Kigani ausrottete -und genau das dachte er zu tun.

Während des übrigen Tages hörten sie entfernte Detonationen von Mörsern und Raketen. Es war unmöglich, den Kontrast zwischen dieser modernen Bewaffnung und Pfeil und Bogen der Kigani-Krieger zu übersehen, die sie beobachtet hatten. Karen Ross sagte, es sei traurig, und Munro erwiderte, es sei unvermeidlich.

»Der Zweck des Lebens«, sagte Munro, »ist es, am Leben zu bleiben. Beobachten Sie einmal ein Tier in der Natur - es versucht nichts anderes, als am Leben zu bleiben. Es kümmert sich nicht um Aussichten oder Glaubenshaltungen. Immer dann, wenn das Verhalten eines Tiers es die Beziehung zur Wirklichkeit seines Daseins verlieren läßt, verschwindet es als Art von der Bildfläche. Die Kigani haben nicht erkannt, daß die Zeiten sich geändert haben und daß ihr Glaube nicht funktioniert. Damit sind sie zum Untergang verurteilt.«

»Vielleicht gibt es eine höhere Wahrheit als die, einfach am Leben zu bleiben«, sagte Karen Ross. »Bestimmt nicht«, sagte Munro.

Sie sahen noch einige weitere Kigani-Trupps, gewöhnlich aus einer Entfernung von vielen Kilometern. Am Ende des Tages, nachdem sie die schwankende Holzbrücke über die Moruti-Schlucht überquert hatten, verkündete Munro, sie seien jetzt aus dem Kigani-Gebiet heraus und zumindest vorläufig in Sicherheit.

3. Im Lager Moruti

In einer hoch gelegenen Lichtung oberhalb von Moruti, dem »Ort sanfter Winde«, rief Munro Anweisungen auf swahili, und Kahe-gas Träger begannen, ihre Lasten auszupacken. Karen Ross sah auf die Uhr. »Machen wir Schluß?« »Ja«, sagte Munro.

»Aber es ist erst fünf Uhr. Wir haben noch zwei Stunden Tageslicht.«

»Wir schlagen das Lager hier auf«, sagte Munro. Moruti lag in fünfhundert Meter Höhe. Noch zwei Stunden, und sie hätten den weiter unterhalb liegenden Regenwald erreicht. »Hier ist es kühler und angenehmer.«

Karen Ross sagte, sie mache sich nichts aus Annehmlichkeiten. »Warten Sie nur ab«, sagte Munro.

Um möglichst schnell vorwärts zu kommen, wollte Munro die Expedition, wo immer das möglich war, aus dem Regenwald heraushalten. Man konnte sich nur langsam und mühsam durch den Dschungel arbeiten, und sie würden mehr als genug Erfahrungen mit Schlamm, Zecken und den verschiedensten Spielarten von Fieber machen. Kahega rief ihm auf Swahili etwas zu. Munro wandte sich an Karen Ross und sagte: »Kahega möchte wissen, wie man diese Zelte aufstellt.«

Kahega hielt eine faltige silberfarbene Gewebekugel in der ausgestreckten Hand. Die anderen Träger waren ebenso verwirrt und suchten in ihren Lasten nach den vertrauten Zeltpfosten oder Stäben, ohne jedoch dergleichen zu finden. Die ERTS hatte sich 1977 ihre Ausrüstung für Expeditionslager von einer Arbeitsgruppe der NASA entwickeln lassen. Dabei war man von der Erkenntnis ausgegangen, daß sich die Ausrüstung von Expeditionen in die Wildnis seit dem 18. Jahrhundert nicht mehr grundlegend geändert hatte. »Entwicklungen für neuzeitliche Forschungsunternehmen sind überfällig«, hatte die ERTS gesagt und Verbesserungen gefordert, die vor allem das Gewicht, die Bequemlichkeit und die Leistungsfähigkeit der Ausrüstung für Expeditionen betrafen. Die NASA hatte alles umkonstruiert, von Bekleidung und Stiefeln bis hin zu Zelten und Kochgeräten, Nahrungsmitteln, Speiseplänen, ErsteHilfe-Päckchen und Nachrichtensystemen für Expeditionen der ERTS in unerforschte Gebiete.

Die neuen Zelte waren kennzeichnend für die Art, wie die NASA an solche Aufgaben heranging. Man war zu dem Ergebnis gekommen, daß bei herkömmlichen Zelten der größte Teil des Gewichts auf stützende Elemente entfiel. Außerdem waren Einschichtzelte schlecht isoliert. Also konnte, wer Zelte ordentlich isolierte, das Gewicht von Kleidung und Schlafsäcken vermindern und damit auch den täglichen Kalorienbedarf der Expeditionsteilnehmer. Da Luft ein ausgezeichnetes Isoliermittel ist, bestand die naheliegende Lösung in einem aufblasbaren Zelt ohne stützende Teile: Die NASA entwickelte eines, das ganze 170 Gramm wog. Mit einer leise pfeifenden Fußpumpe blies Karen Ross das erste Zelt auf. Es bestand aus zweilagigem, silberbeschichtetem Mylar und sah aus wie eine leuchtende verrippte Nissenhütte. Die Träger klatschten vor Vergnügen in die Hände, Munro schüttelte belustigt den Kopf und Kahega holte einen kleinen silberglänzenden Kasten von der Größe eines Schuhkartons hervor. »Und das? Was ist das?«

»Das brauchen wir heute nacht nicht. Das ist eine Klimaanlage«, sagte Karen Ross.

»Keinen Schritt im Busch ohne Klimaanlage«, sagte Munro. Karen Ross warf ihm einen finsteren Blick zu. »Untersuchungen haben erwiesen«, sagte sie, »daß der Faktor, der die Arbeitsleistung am meisten zu beeinträchtigen vermag, die Temperatur der Umgebung ist. An zweiter Stelle folgt Schlafmangel.« »Was Sie nicht sagen.«

Munro sah lachend zu Elliot hinüber, aber der war in den Anblick des Regenwalds im Schein der Abendsonne vertieft. Amy zupfte Elliot sacht am Ärmel.

Frau und Nasen-Haar-Mann streiten, gab sie ihm zu verstehen. Sie hatte Munro von Anfang an gemocht, und er erwiderte ihre Zuneigung. Statt ihr den Kopf zu tätscheln und sie überhaupt wie ein Kind zu behandeln, was die meisten Menschen taten, behandelte Munro sie instinktiv als weibliches Wesen. Allerdings hatte er auch genug mit Gorillas zu tun gehabt, um ein Gespür für ihr Verhalten zu haben. Zwar konnte er Amys Sprache nicht deuten, doch wenn sie die Arme hob, verstand er, daß sie gekrault werden wollte, und diesem Wunsch kam er gern ein paar Augenblicke lang nach, während sie sich vor Vergnügen grunzend auf dem Boden wälzte.

Doch Amy war stets betrübt, wenn es Auseinandersetzungen gab, und so beobachtete sie jetzt die Situation mit Mißbilligung. »Sie reden nur miteinander«, beruhigte Elliot sie. Sie gab zu verstehen, daß sie etwas essen wollte. »Es dauert nicht lange.« Er wandte sich um und sah, wie Karen Ross die Sendeanlage aufbaute. Das sollte jetzt für den Rest der Expedition tägliche Gewohnheit werden, und zwar eine, die immer wieder Amys Aufmerksamkeit auf sich lenkte. Die ganze Anlage, mit deren Hilfe Botschaften fünfzehntausend Kilometer weit über Satelliten weitergegeben werden konnten, wog zweieinhalb Kilogramm, und die Einrichtungen für elektronische Gegenmaßnahmen wogen weitere eineinhalb Kilogramm. Als erstes ließ Karen Ross die schirmförmig zusammengelegte Parabolantenne mit einem Durchmesser von eineinhalb Meter aufspringen. Das gefiel Amy ganz besonders, und sie fragte an den folgenden Tagen gegen Abend Karen Ross immer drängender, wann sie denn die »Metallblume öffnen« werde. Als die Antenne stand, schloß Karen Ross den Sendeempfänger an und stellte eine Verbindung zu den Krylon-Kadmium-Elementen her. Als nächstes schaltete sie die Abschirmeinrichtung zu und steckte zum Schluß den Stecker des tragbaren Kleincomputers mit seinem winzigen Tastenfeld und seinem Datenbildschirm mit einer Diagonale von siebeneinhalb Zentimeter ein. Diese Anlage war eine hochspezialisierte Einrichtung. Der Arbeitsspeicher des Computers hatte eine Kapazität von 189 K, und alle Stromkreise waren doppelt vorhanden. Die Gehäuse waren luftdicht versiegelt und stoßfest. Da die Bewegung der kontaktlosen Tasten nicht mechanisch, sondern über Magnete durch Ansteuerung von Feldplatten weitergegeben wurde, gab es keine störanfälligen beweglichen Teile, und es konnte am Tastenfeld kein Wasser und kein Staub eindringen. Denoch war alles äußerst robust. Karen Ross erinnerte sich an die »Praxiserprobungen«, die bei der ERTS durchgeführt wurden. Dabei schleuderten Techniker neuentwickelte Geräte auf dem Firmenparkplatz gegen Wände, malträtierten sie mit Fußtritten und ließen sie über Nacht in einem Eimer mit schlammigem Wasser liegen. Was am folgenden Tag noch betriebsfähig war, galt als praxistauglich.

Jetzt tastete sie im Schein der über Moruti untergehenden Abendsonne die Schlüsselkoordinaten ein, mit deren Hilfe sie die Verbindung nach Houston herstellen konnte, prüfte die Signalstärke und wartete die erforderlichen sechs Minuten, bis die Sendeempfänger sich angeglichen hatten. Doch auf dem kleinen Bildschirm waren lediglich graue Bildstörungen und gelegentlich Farbimpulse zu sehen. Jemand mußte sie ganz massiv stören, und zwar offensichtlich mit einem » Symphonieorchester«.

Im Jargon der ERTS hieß die niedrigste Stufe elektronischer Störung »Tuba«. Wie bei einem Nachbarskind, das Tuba übt, war das lediglich lästig. Störungen dieser Art traten auf genau begrenzten Frequenzen auf und waren oft zufällig oder wirkten willkürlich. Im allgemeinen konnte aber trotzdem gesendet werden. Die nächste Stufe war das »Streichquartett«. Dabei wurden zahlreiche Frequenzen in erkennbarer Anordnung gestört. Erstreckte die elektronische »Musik« sich über ein noch größeres Frequenzspektrum, sprach man von einer »Big Band«, und schließlich, wenn praktisch die gesamte für Sendungen überhaupt zur Verfügung stehende Bandbreite gestört war, von einem » Symphonieorchester«.

Mit einem solchen hatte Karen Ross es jetzt zu tun. Um die Störung zu durchbrechen, mußte sie sich mit Houston koordinieren, und genau das konnte sie nicht. Doch hatte man bei der ERTS verschiedene Möglichkeiten gegen solche Störungen entwickelt. Die spielte sie jetzt eine nach der anderen durch, und schließlich gelang es ihr, die Störung mittels einer »Intervallverschlüsselung« genannten Technik zu durchbrechen. Sie machte sich zunutze, daß es auch bei Musik, bei der die Töne dicht aufeinanderfolgen, stille Zwischenräume gibt, die nur tausendstel Sekunden dauern. Man konnte die Störsignale aufzeichnen, Regelmäßigkeiten in der Abfolge dieser stummen Intervalle feststellen und während der »Stillphasen« stoßweise senden. Karen Ross sah jetzt mit Befriedigung ein mehrfarbiges Bild auf dem kleinen Bildschirm - eine Karte der Gegend des Kongo, in der sie sich gerade befanden. Sie gab die Lagearretierung ein, woraufhin auf dem Bildschirm eine Leuchtanzeige aufflackerte. Der Text wurde in »Kurzzeilen« durchgegeben, einer speziell für kleine Bildschirme entwickelten, verkürzenden Schreibweise. UEBRPRUEPN ORTSZT: BITE BESTAETGN 18.04 H 6/17/79. Sie bestätigte, daß es nach Ortszeit kurz nach achtzehn Uhr war. Sogleich bildeten sich kreuzende Linien ein verschlüsseltes Muster, während die Ortszeit und die geographische Lage ihres Standorts mit einem vor dem Aufbrach der Expedition vom Computer aufgezeichneten simulierten Programm verglichen wurden.

Karen Ross war auf unangenehme Nachrichten gefaßt. Überschlägig gerechnet lagen sie inzwischen etwa siebzig Stunden hinter ihrer ursprünglichen Zeitplanung und etwas mehr als zwanzig hinter dem Konsortium zurück.

Ihre Planung hatte vorgesehen, daß sie am 17. Juni um vierzehn Uhr am Muhavura abspringen und etwa sechsunddreißig Stunden später, also am 19. gegen Mittag, in Zinj ankommen sollten. Damit wären sie fast zwei Tage vor den Konkurrenten am Ziel gewesen.

Der Raketenangriff hatte sie gezwungen, gut hundertzwanzig Kilometer südlich von der vorgesehenen Stelle abzuspringen. Der vor ihnen liegende Dschungel war vielgestaltig, und selbst wenn sie davon ausgingen, durch das Befahren von Flüssen Zeit gutzumachen, würden sie für die zu bewältigenden hundertzwanzig Kilometer doch mindestens drei Tage brauchen. Das hieß: Sie durften nicht mehr damit rechnen, ihr Ziel vor dem Konsortium zu erreichen. Sie würden von Glück sagen können, wenn sie, statt mit einem Vorsprung von achtundvierzig Stunden, nur vierundzwanzig Stunden zu spät ankamen. Zu ihrer Überraschung leuchtete auf dem Bildschirm auf: TJEBB-PRUEFN OETSZT: - 09.04 H HUT AB! Sie hatten gegenüber der simulierten Zeitprojektion nur neun Stunden verloren! »Was heißt das?« fragte Munro mit einem Blick auf den Bildschirm.

Es gab nur eine mögliche Erklärung. »Dem Konsortium muß irgend etwas in die Quere -gekommen sein«, sagte Karen Ross. Auf dem Bildschirm lasen sie nun:

EURO/JAP LEUT AERGR FLUGHFN GOMA/ZAIR MASCHIÜT SOL RADIOAKTV SEIN: PECH GHABT.

»Travis hat offenbar in Houston ein paar Beziehungen spielen lassen«, sagte'Karen Ross. Sie konnte sich vorstellen, was es die ERTS gekostet haben mußte, diesen Zwischenfall auf dem kleinen Feldflugplatz von Goma zu arrangieren. »Das bedeutet, daß wir es noch immer schaffen können, falls wir die neun Stunden herausschinden.« »Das kriegen wir hin«, sagte Munro.

Im Schein der hier, in der Nähe des Äquators, rasch untergehenden Sonne leuchtete das Lager Moruti wie eine Handvoll glitzernder Juwelen - eine silberne Parabolantenne, die fünf Silberkuppeln der Zelte, alles spiegelte sich in den Strahlen der sinkenden Sonne. Peter Elliot saß mit Amy auf der Kuppe des Hügels und betrachtete versonnen die sich vor ihm erstreckende Weite des Regenwalds.

Als die Nacht hereinbrach, sah man erste verschwommene Dunstfäden, und während mit zunehmender Dunkelheit in der sich abkühlenden Luft immer mehr Wasserdampf kondensierte, lag der Wald bald in dichtem, immer undurchdringlicherem Nebel.

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