Prolog

Die Knochenstätte

Der Morgen dämmerte über dem Regenwald am Kongo. Die bleiche Sonne vertrieb die Morgenkühle und den beklemmenden feuchten Dunst. Ihr fahles Licht beleuchtete eine gigantische, stille Welt. Baumriesen mit Stämmen von zwölf Metern Durchmesser erhoben sich sechzig Meter hoch und breiteten dort ihr dichtes, den Himmel verdeckendes, ständig tropfendes Laubdach aus. Vorhänge aus grauem Moos, Schlingpflanzen und Lianen hingen in dichtem Gewirr von den Bäumen herab, aus deren Stämmen schmarotzende Orchideen sprossen. Vom Boden ragten, schimmernd vor Nässe, fast mannshohe Riesenfarne empor und hielten den Bodennebel fest. Hier und da schimmerte ein Farbfleck: die roten Blüten der giftigen Aphelandra und die blauen der Dicindraranke, die sich ausschließlich am frühen Morgen öffneten. Doch der Haupteindruck war der einer riesigen, allzu großen graugrünen Welt - dem Menschen fremd und unwirtlich.

Jan Krüger legte sein Gewehr beiseite und streckte die steifen Glieder. Am Äquator kam die Morgendämmerung rasch, bald war es ganz hell, obwohl der Dunst noch nicht vollständig verschwunden war. Er ließ den Blick über das Expeditionslager schweifen, das er bewacht hatte: acht leuchtende orangerote Nylonzelte, ein blaues Zelt, in dem die Mahlzeiten eingenommen wurden, eine Plane, die über die Kisten mit Ausrüstung und Material gezogen und festgezurrt war, in dem vergeblichen Bemühen, sie trocken zu halten. Er sah den anderen Wächter, Misulu, auf einem Felsblock sitzen, von wo er schläfrig herüberwinkte. Gleich neben ihm befand sich die Sendeanlage: eine silbern glänzende Parabolantenne, der schwarze Kasten des Sendeverstärkers und die sich zur tragbaren Videokamera auf ihrem Stativ schlangelnden Koaxialkabel. Mit dieser Ausrüstung gaben die Amerikaner täglich über Satellit Berichte an ihre Einsatzzentrale in Houston durch.

Krüger war der Bwana Mukubwa, der dafür bezahlt wurde, daß er die Expedition in den Kongo führte. Er hatte das schon öfter getan: Erdölsuchtrupps, Vermessungstrupps, Gruppen, die nach lohnenden Nutzholzvorkommen suchten, und geologische Unternehmungen wie diese hier. Wer immer solche Trupps losschickte, brauchte jemanden, der die in dem Gebiet üblichen Gebräuche und die dort gesprochenen Dialekte so gut kannte, daß er mit den Trägern umgehen und das Unternehmen organisieren konnte.

Krüger war für diese Aufgabe der richtige Mann: Er sprach neben den Bantusprachen Swahili und Kikuyu noch etwas Bagindi.

Außerdem war er schon viele Male im Kongo gewesen, wenn auch noch nie im Virunga-Gebiet.

Krüger konnte sich nicht vorstellen, was amerikanische Geologen ausgerechnet im Virunga-Gebiet, in der nordöstlichen Region des Regenwaldes, wollten. Zaire ist das an Mineralvorkommen reichste Land in Schwarzafrika - der weltgrößte Produzent von Kobalt und Industriediamanten und der siebtgrößte Lieferant von Kupfer. Außerdem gibt es dort größere Vorkommen an Gold, Zinn, Zink, Wolfram und Uran. Aber die meisten Minerale wurden in den Provinzen Shaba und Kasai gefunden, nicht im Virunga-Gebiet.

Krüger dachte jedoch nicht im Traum daran, die Amerikaner zu fragen, was sie im Virunga-Gebiet suchten. Und im übrigen fand er es bald genug selbst heraus. Als die Expedition erst einmal den Kivusee hinter sich gelassen hatte und in den Regenwald eingedrungen war, begannen die Geologen die Betten von Bächen und Flüssen zu durchforschen. Diese Suche nach Ablagerungen im Flußsand konnte nichts anderes bedeuten, als daß sie es auf Gold oder Diamanten abgesehen hatten. Wie sich herausstellte, waren es Diamanten.

Allerdings ging es ihnen nicht um irgendwelche Diamanten. Die Geologen waren auf der Suche nach Diamanten, die sie selbst Typ IIb-Diamanten nannten. Jedes gefundene Exemplar wurde sogleich auf seine elektrischen Eigenschaften untersucht. Was dabei besprochen wurde, verstand Krüger nicht - es ging um dielektrische Lücken, Gitterionen und spezifischen Widerstand. Doch konnte er den Worten der Geologen immerhin entnehmen, daß die elektrischen Eigenschaften entscheidend waren. Ganz bestimmt waren die gefundenen Stücke als Schmucksteine wertlos. Krüger hatte sich einige angesehen und mit einem Blick erkannt, daß sie alle von Einschlüssen strotzten.

Zehn Tage lang hatte die Expedition Ablagerungen in den Flußbetten untersucht. Man ging dabei üblicherweise so vor, daß man sich, sobald man in Flußbetten Gold oder Diamanten fand, stromaufwärts in Richtung auf die vermutliche Ursprungsstelle der Mineralien hin bewegte. Die Expedition hatte sich über die westlichen Hänge der Virunga-Vulkane hochgearbeitet. Alles ging seinen Gang, bis sich eines Tages gegen Mittag die Träger rundheraus weigerten weiterzugehen.

Sie erklärten, dieser Teil des Virunga-Gebiets heiße Kanyama-gufa, und das bedeute »Knochenstätte«. Und sie behaupteten, hier würden jedem, der töricht genug sei weiterzugehen, die Knochen gebrochen, vor allem die Schädelknochen. Sie legten immer wieder ihre Finger auf die Jochbeine und wiederholten, man werde ihnen den Schädel zerquetschen. Es waren Arawani aus der Provinzhauptstadt Kisangani, und sie sprachen Bantu. Wie die meisten eingeborenen Stadtbewohner hatten sie allerlei abergläubische Vorstellungen von dem Dschungel am Kongo.

Krüger rief den Anführer der Trägergruppe zu sich. »Was für Stämme leben hier?« erkundigte er sich und wies auf den vor ihnen liegenden Dschungel. »Keine Stämme«, sagte der Anführer.

»Gar keine? Nicht einmal Bambuti?« fragte Krüger und spielte damit auf die am nächsten von hier lebenden Pygmäen an. »Hierauf kommt niemand«, sagte der Anführer. »Das hier ist Kanyamagufa«.

»Wer zerschmettert denn dann die Schädel?« »Dawa«, sagte der Anführer geheimnisvoll, was in der Bantusprache soviel wie magische Kräfte bedeutet. »Hier ist starkes Dawa. Menschen bleiben fern.«

Krüger seufzte. Wie viele andere Weiße hatte er es gründlich satt, von Dawa zu hören. Überall war Dawa, in Pflanzen, Felsen, Gewittern und Feinden aller Art. Doch der Glaube an Dawa herrschte in vielen Teilen Afrikas und ganz besonders im Kongo. Krüger war genötigt gewesen, den Rest des Tages mit mühevollen Verhandlungen zu vergeuden. Schließlich verdoppelte er den Lohn der Träger und versprach ihnen Feuerwaffen, sobald sie nach Kisangani zurückgekehrt seien. Daraufhin erklärten sie sich bereit weiterzugehen. Krüger hielt den Zwischenfall für einen ärgerlichen Trick der Eingeborenen. Man mußte immer damit rechnen, daß Träger unter Berufung auf irgendeinen Aberglauben eine Erhöhung ihrer Löhne verlangten, wenn eine Expedition erst einmal so weit vorgedrungen war, daß ihr Fortgang von ihnen abhing. Er hatte das einkalkuliert, und nachdem er ihre Forderungen erfüllt hatte, dachte er nicht weiter über den Zwischenfall nach. Auch als sie verschiedentlich auf größere Mengen über den Boden verstreuter Knochenstücke stießen - was die Träger mit Furcht und Schrecken erfüllte -, machte sich Krüger keine Sorgen. Bei näherer Untersuchung zeigte sich, daß es sich nicht um menschliche Knochen, sondern um die kleineren, zierlicheren der baumbewohnenden Stummelaffen handelte, wunderschöner, langhaariger schwarzweißer Geschöpfe. Es waren tatsächlich sehr viele Knochen, und Krüger konnte sich nicht denken, warum sie alle zerschmettert waren, aber er war schon lange in Afrika und hatte viel Unerklärliches gesehen.

Nicht einmal die von Pflanzen überwucherten Steine, die darauf hindeuteten, daß hier einst eine Stadt gestanden hatte, beeindruckten ihn sonderlich. Auch unerforschte Ruinenfelder hatte Krüger schon vorher gesehen. So gab es in Simbabwe, in Broken Hill und in Maniliwi Überreste von Städten und Tempeln, die noch kein Wissenschaftler des 20. Jahrhunderts gesehen und untersucht hatte.

In der ersten Nacht ließ er das Lager in der Nähe der Ruinen aufschlagen.

Die Träger, von panischer Furcht ergriffen, sagten immer wieder, daß die bösen Kräfte sie in der Nacht heimsuchen würden. Ihre Furcht übertrug sich auf die amerikanischen Geologen. Um sie zu beruhigen, hatte Krüger für die Nacht zwei Wachen ausgestellt, sich selbst und den zuverlässigsten der Träger, Misulu. Zwar erschien ihm all das absolut überflüssig, aber er fand es höflich und vernünftig.

Und wie er erwartet hatte, war die Nacht ruhig und ohne Zwischenfälle verlaufen. Gegen Mitternacht hatte sich im Gebüsch irgend etwas geregt, und aus ein paar leisen, zischelnden Keuchlauten hatte er auf einen Leoparden getippt -Großkatzen haben oft Schwierigkeiten mit der Atmung, vor allem im Dschungel. Sonst war alles ruhig geblieben, und jetzt war die Morgendämmerung da: die Nacht war vorüber.

Ein leises Piepsen lenkte seine Aufmerksamkeit auf sich. Auch Misulu hörte es und sah fragend zu Krüger hinüber. Am Sendegerät blinkte ein rotes Licht. Krüger stand auf und ging quer über den Lagerplatz zu dem Gerät hin. Er wußte, wie man es bediente, die Amerikaner hatten darauf bestanden, daß er es »für den Notfall« lernte. Er beugte sich über den schwarzen Kasten des Sendeverstärkers mit seinen rechteckigen grünen Leuchtdioden.

Er drückte einige Knöpfe, und auf dem Schirm erschienen die Buchstaben TX HX. Das bedeutete eine Mitteilung aus Houston. Er gab den AntwortCode ein, und auf der Scheibe erschien das Wort CAMLOK. Damit forderte Houston eine Übertragung per Videokamera an. Er sah zu der Kamera auf ihrem Stativ hinüber und bemerkte, daß das rote Licht auf dem Gehäuse immer noch blinkte.

Er drückte den Knopf für die Trägerfrequenz, und auf dem Schirm erschien das Wort SATLOK, das hieß, daß eine Satellitenübertragung aufgeschaltet wurde. Jetzt würde eine Pause von sechs Minuten eintreten. So lange dauerte es, bis das vom Satelliten abgestrahlte Signal eingefangen werden konnte.

Es war das beste, wenn er jetzt den leitenden Geologen, Driscoll, weckte. Driscoll würde die wenigen Minuten brauchen, die vergingen, bis die Mitteilung durchkam. Krüger fand es belustigend, daß die Amerikaner jedesmal ein frisches Hemd anzogen und sich kämmten, bevor sie vor die Kamera traten - genau wie Reporter im Fernsehen, dachte er.

Über ihren Köpfen schrien und kreischten die Stummelaffen in den raschelnden Ästen der Bäume. Krüger warf einen Blick nach oben. Was sie wohl aufgestört hatte? Andererseits waren frühmorgendliche Kämpfe zwischen Stummelaffen nichts Besonderes.

Etwas prallte ihm leicht gegen die Brust. Zuerst hielt er es für ein Insekt, aber als er auf sein Khakihemd blickte, sah er einen roten Fleck und ein Stück Fruchtfleisch, das am Hemd hinabglitt. Die verdammten Affen werfen mit Beeren, dachte er und bückte sich, um es aufzuheben. Und da merkte er, daß es etwas ganz anderes war. Er hielt ein zerquetschtes, glitschiges Menschenauge zwischen den Fingern, rosaweiß, mit einem Stück weißem Sehnerv daran.

Er brachte sein Gewehr in Anschlag und sah zu Misulu hinüber. Misulu saß nicht mehr auf seinem Felsen.

Krüger durchquerte das Lager. Die Stummelaffen über ihm schwiegen jetzt. Er hörte das schmatzende Geräusch seiner Stiefel im Schlamm, als er an den Zelten mit den schlafenden Männern vorbeiging. Dann hörte er wieder das Keuchen - ein seltsames, leises Geräusch, das durch wirbelnden Morgendunst drang. Hatte er sich geirrt, war es wirklich ein Leopard? Dann sah er Misulu. Er lag auf dem Rücken in einer Blutlache. Sein Schädel war von den Seiten her zusammengedrückt, die Jochbeine zerschmettert, so daß das Gesicht schmal und in die Länge gezogen schien. Der Mund stand offen, als gähnte er, und das ihm verbliebene Auge trat weit aus dem Kopf hervor. Das andere Auge war offenbar durch Druck herausgeschleudert worden.

Als Krüger sich vorbeugte, um die Leiche näher zu untersuchen, fühlte er sein Herz klopfen. Was konnte eine solche Verletzung verursacht haben? Dann hörte er wieder das leise Keuchen, und diesmal war er ganz sicher: das war kein Leopard. Dann begannen die Stummelaffen wieder zu kreischen, und Krüger sprang auf die Füße und schrie laut auf.

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