l.Tag Houston 13. Juni 1979

1. ERTS Houston

Gut fünfzehntausend Kilometer entfernt saß Karen Ross in Houston in dem kalten, fensterlosen Datenzentrum der Earth Resources Technology Services (ERTS) Inc. über ein Datensichtgerät gebeugt. Eine Tasse Kaffee neben sich, wertete sie die letzten Bilder aus, die der Satellit Landsat aus Afrika übermittelt hatte. Karen Ross war für das Kongo-Projekt der ERTS zuständig, und während sie für die Satellitenbilder künstliche Kontrastfarben, blau, rot und grün, einstellte, sah sie ungeduldig auf ihre Uhr. Sie wartete auf die nächste Übertragung der Arbeitsgruppe aus Afrika.

Es war jetzt 22 Uhr 15 Houston-Zeit, doch gab es in dem Raum keinen Hinweis auf Ort oder Zeit. Ob Tag oder Nacht, die Datenzentrale der ERTS blieb unverändert. Im Licht zahlreicher speziell abgestimmter Kalon-Leuchtstoffröhren arbeiteten Programmierer in Pullovern an langen Reihen leise klickender Computer-Datenplätze und lieferten so den Forschertrupps auf der ganzen Welt, die die ERTS von diesem Raum aus überwachte, Echtzeiteingaben. Diese gewisse Zeitlosigkeit war notwendig für die Computer; sie brauchten eine gleichbleibende Temperatur von sechzehn Grad Celsius, abgeschirmte elektrische Leitungen und eine spezielle farbkorrigierte Beleuchtung, die die Schaltungen nicht beeinträchtigte. In dieser für Maschinen geschaffenen Umgebung waren die Bedürfnisse der Menschen zweitrangig.

Doch es gab noch einen weiteren Grund für die Auslegung dieser Anlage. Es wurde gewünscht, daß die Programmierer in Houston sich mit den Forschergruppen draußen identifizierten und soweit wie möglich nach deren Zeitplänen lebten. Die Eingabe von Baseball-Spielen und anderen lokalen Ereignissen wurde nicht gern gesehen. Keine Uhr zeigte Houston-Zeit, wohl aber gaben acht große Digitaluhren an der gegenüberliegenden Wand die Ortszeh für die verschiedenen Forschergruppen an. , Die Uhr, unter der EXPEDITION KONGO stand, zeigte 06.15, als aus dem Deckenlautsprecher die Mitteilung kam: »Dr. Ross, Video-Eingang im Steuerraum.«

Sie gab die digitalen Codes ein, die das Kennwort blockierten, und verließ die Konsole. Jeder Datenplatz in der ERTS hatte eine Kennwortsteuerung, das Ganze funktionierte wie ein Zahlenschloß. Diese Steuerung war Teil eines ausgeklügelten Systems, das ein Anzapfen ihrer ungeheuren Datenfülle von außen verhindern sollte. Die ERTS handelte mit Informationen, und wie R. B. Travis, ihr Leiter, gern sagte, war Stehlen die einfachste Art, an Informationen heranzukommen.

Karen Ross ging mit langen Schritten durch den Raum. Sie war knapp einsachtzig groß, eine hübsche, wenn auch etwas unelegante junge Frau. Mit ihren vierundzwanzig Jahren war sie jünger als die meisten hier beschäftigten Programmierer, aber trotz ihrer Jugend von einer Selbstsicherheit, die die meisten Menschen verblüffte - und wohl auch ein wenig beunruhigte. Karen Ross war ein wahres mathematisches Wunderkind. Schon mit zwei Jahren hatte sie, wenn sie mit ihrer Mutter einkaufen ging, im Kopf ausgerechnet, ob es günstiger sei, eine Viertel-Kilo-Packung zu neunzehn Cent oder eine Achthundert-Gramm-Packung zu neunundfünfzig Cent zu kaufen. Als Dreijährige verblüffte sie ihren Vater mit der Bemerkung, daß im Unterschied zu anderen Ziffern die Null an unterschiedlicher Stelle Unterschiedliches bedeutet. Mit acht beherrschte sie bereits Algebra und Geometrie, mit zehn hatte sie sich im Selbststudium zur Infinitesimalrechnung Zugang verschafft, und mit dreizehn Jahren nahm sie ihr Studium am berühmten Massachusetts Institute of Technology (MIT) auf. Hier machte sie eine Reihe brillanter Entdeckungen auf dem Gebiet der abstrakten Mathematik, deren Höhepunkt ihre Abhandlung >Topologische Voraussagen im Raum n-ter Ordnung< war. Ihre darin entwickelten Vorstellungen waren nützlich für EntscheidungsMatrizen, Analysen kritischer Wege sowie für kartographische Darstellungen in mehreren Dimensionen. Mit diesen Interessen hatte sie die Aufmerksamkeit der ERTS auf sich gezogen - und war die jüngste Leiterin für die Überwachung von Projekten geworden. Sie war nicht bei allen beliebt. Die Jahre, die sie abgekapselt und immer die jüngste im Hause gewesen war, hatten sie zurückhaltend und distanziert gemacht. Einer ihrer Mitarbeiter nannte sie »eine Spur zu kühl und logisch«. Ihre Haltung hatte ihr in Anspielung auf das Ross-Shelf-Eis in der Ostantarktis den Spitznamen »Ross-Gletscher« eingetragen.

Und noch immer stand ihre Jugend ihr im Wege -zumindest hatte Travis ihr Alter als Begründung angeführt, als er ihr den Wunsch, die Expedition in den Kongo zu leiten, abschlug, obwohl sie alle Datengrundlagen dafür erarbeitet hatte, so daß ihr diese Aufgabe eigentlich zustand. »Es tut mir leid«, hatte Travis gesagt, »aber dieser Auftrag ist zu wichtig, ich kann Ihnen die Sache einfach nicht übertragen.« Sie hatte nachgehakt und an ihre Erfolge erinnert, als sie im Jahr zuvor Gruppen nach Bahang und Sambia geleitet hatte. Schließlich hatte er gesagt: »Sehen Sie mal, Karen, das Gelände ist über fünfzehntausend Kilometer entfernt von hier, und es ist ein sehr schwieriges Terrain. Wir brauchen da draußen jemanden, der mehr kann als an der Konsole jonglieren.«

Die Unterstellung, sie könne sonst nichts, verärgerte sie. Man war also der Ansicht, ihre Fähigkeiten beschränkten sich darauf, mit Computern und den übrigen Spielzeugen von Travis zu spielen! Sie wollte sich in einer schwierigen Situation bewähren, und sie war entschlossen, Travis dazu zu bringen, daß er sie beim nächsten Mal berücksichtigte.

Karen Ross drückte den Aufzugknopf für den dritten Stock, der mit »Zugang nur für Befugte« gekennzeichnet war. Während sie wartete, fing sie den neidischen Blick eines der Programmierer auf. In der Hierarchie der ERTS wurde der Status nicht an Gehalt, Titel, Größe des Arbeitsraums oder einem der anderen Statussymbole gemessen, sondern ausschließlich daran, zu welcher Stufe von Informationen jemand Zugang hatte. Karen Ross war eine der acht Personen innerhalb des Unternehmens, die jederzeit Zugang zum dritten Stock hatten. Sie betrat den Aufzug und sah kurz ins Kontrollobjektiv über der Tür. In der ERTS verkehrten Aufzüge nur jeweils zwischen zwei Stockwerken, und alle waren mit Überwachungskameras ausgerüstet. Das war eine der hier verwendeten Möglichkeiten, die Bewegungen der Angestellten zu verfolgen, solange sie sich im Gebäude aufhielten. Um sich den Stimmerkennungsgeräten gegenüber auszuweisen, sagte sie: »Karen Ross«. Dann drehte sie sich zur optischen Kontrolle einmal um die eigene Achse. Ein leises elektronisches Piepsen ertönte, und die Aufzugtür gab den Weg zum dritten Stock frei.

Sie betrat einen kleinen quadratischen Raum mit einer Videokamera an der Decke und stand jetzt vor der nicht gekennzeichneten Außentür des Steuerraums. Noch einmal sagte sie ihren Namen und führte zugleich ihre Lochkarte in den Schlitz ein. Dabei ließ sie die Finger auf der Metallkante der elektrisch abgetasteten Karte liegen, damit der Computer das galvanische Hauptpotential kontrollieren konnte. Diese Verfeinerung war drei Monate zuvor eingeführt worden, nachdem Travis von Experimenten des Heeres erfahren hatte, bei denen man durch chirurgisch vorgenommene Veränderungen der Stimmbänder die Stimmcharakteristik so genau hatte anpassen können, daß Stimmerkennungs-Systeme sich damit täuschen ließen. Nach einer Programmpause surrte die Tür und öffnete sich. Karen Ross ging hindurch.

Im Schein der roten Nachtbeleuchtung wirkte das Steuerzentrum wie ein weicher, warmer Uterus. Dieser Eindruck wurde durch die beklemmende Enge des Raums, der mit elektronischen Anlagen vollgestopft war, noch verstärkt. Vom Boden bis zur Decke flimmerten und leuchteten Dutzende von Kontrollbildschirmen und Leuchtdioden, und in dieser Umgebung sprachen die Techniker, während sie Skalenwerte einstellten und Stellknöpfe drehten, nur mit Flüsterstimme. Der Steuerraum war das elektronische Nervenzentrum der ERTS: Alle Nachrichten von Forschertrupps auf der ganzen Welt liefen hier ein, alles wurde hier aufgezeichnet, nicht nur eingehende Daten, sondern auch die aus dem Raum abgehenden Antworten, so daß die Unterhaltung, die in der Nacht vom 12. auf den 13. Juni 1979 geführt wurde, Wort für Wort rekonstruiert werden konnte.

Einer der Techniker sagte zu Karen: »Gleich haben wir die Impulsübertrager mit drauf. Tasse Kaffee?« »Nein«, sagte Karen Ross. »Sie wären wohl lieber da draußen, stimmt's?« »Das steht mir eigentlich zu«, sagte sie. Sie sah auf die Bildschirme, die verwirrende Fülle sich drehender und sich verändernder Umrisse, während die Techniker sich an die Routineaufgabe machten, die vom Satelliten auf der Erdumlaufbahn abgestrahlten Signale elfhundert Kilometer über ihren Köpfen einzufangen.

»Signalschlüssel.«

» Signal schlüssel. Kennwort abfragen.« »Kennwort abgefragt.« »Träger fixieren.«

»Träger ist fixiert. Es kann losgehen.«

Sie achtete kaum auf den vertrauten Ablauf. Sie sah, wie auf den Bildschirmen atmosphärische Störungen sichtbar wurden. »Haben wir angefangen oder die da draußen?« erkundigte sie sich.

»Wir«, sagte ein Techniker. »Auf unserem Merkzettel stand, wir sollten uns bei Sonnenaufgang Ortszeit mit ihnen in Verbindung setzen. Als nichts kam, haben wir angefragt.« »Merkwürdig, daß sie sich nicht gemeldet haben«, sagte Ross. »Stimmt etwas nicht?«

»Ich glaube nicht. Sie haben unseren Auslöseimpuls innerhalb von fünfzehn Sekunden aufgenommen und fixiert, genau nach Vorschrift. Aha, es geht los.«

Um 6 Uhr 22 Kongo-Zeit kam die Übertragung zustande: Man sah graue Störlinien über die Bildschirme laufen, dann wurde das Bild scharf. Sie sahen einen Teil des Lagers im Kongo, offensichtlich von einer Stativkamera aus. Sie erkannten zwei Zelte, ein niedergebranntes Feuer und Fetzen des Morgendunstes. Kein Mensch war zu sehen, nichts bewegte sich. Einer der Techniker lachte. »Wir haben sie im Schlaf überrascht. Wahrscheinlich müßten Sie mal dazwischenfahren.« Ross war dafür bekannt, daß sie streng auf die Einhaltung der Vorschriften achtete.

»Arretieren Sie die Fernsteuerung«, sagte sie. Der Techniker drückte auf den entsprechenden Steuerknopf. Jetzt folgte die Kamera, die fünfzehntausend Kilometer von ihnen entfernt stand, den Anweisungen aus Houston. »Rundumschwenk Totale«, sagte sie.

Der Techniker an der Konsole betätigte einen Führungshebel. Sie sahen, wie das Bild nach links wanderte, und nahmen weitere Teile des Lagers wahr. Es war zerstört: zerfetzte Zelte lagen am Boden, die Abdeckplane über den Vorratskisten war zur Seite gerissen, Teile der Ausrüstung lagen im Schlamm verstreut. Ein Zelt stand in Flammen, dunkle Rauchwolken stiegen von ihm auf. In der Nähe sahen sie mehrere Leichen. »Gott im Himmel«, sagte ein Techniker.

»Schwenk zurück«, sagte Ross. »Nahaufnahme mit Auflösung sechs-sechs.«

Auf den Bildschirmen sah man, wie die Kamera über das Lager zurückschwenkte. Sie sahen den Dschungel, aber immer noch nichts, was auf die Anwesenheit lebender Wesen schließen ließ.

»Abwärtsschwenk, zurück in die Totale.«

Man sah auf dem Bildschirm, wie die Kamera nach unten schwenkte, sie erkannten die silbern glänzende Parabolantenne und den schwarzen Kasten des Sendeempfängers. In seiner Nähe war noch ein Mensch zu sehen, einer der Geologen. Er lag auf dem Rücken. »Herrgott, das ist Roger ...«

»Gummilinse und in Position arretieren«, sagte Karen Ross. Auf dem Tonband klingt ihre Stimme kühl, fast unbeteiligt. Die Kamera fuhr auf das Gesicht zu. Ihren Augen bot sich ein schreckliches Bild: der Kopf war zerschmettert, Blut troff aus Nase und Augenhöhlen, der Mund stand weit offen. »Wie ist das passiert?«

In diesem Augenblick fiel ein Schatten über das Gesicht des Toten. Karen Ross beugte sich ruckartig vor, ergriff den Steuerhebel und stellte das Varioobjektiv neu ein. Der Bildwinkel vergrößerte sich rasch; sie konnten jetzt die Umrisse des Schattens erkennen. Es war ein Mann. Und er bewegte sich. »Da ist jemand! Er lebt noch!« »Er humpelt. Sieht aus, als ob er verwundet wäre.«

Karen Ross sah angestrengt auf den Schatten. Ihr kam das nicht vor wie ein humpelnder Mann; irgend etwas stimmte da nicht, sie wußte nur nicht genau, was es war ...

»Er kommt genau auf die Linse zu«, sagte sie. Es war mehr, als man erhoffen konnte. »Was für atmosphärische Tonstörungen sind das?«

Sie hörten ein seltsames Geräusch, es klang wie ein zischelndes Seufzen oder Keuchen.

»Das ist keine atmosphärische Tonstörung, das gehört zu den Geräuschen, die wir hier herüberbekommen.« »Lösen Sie es auf«, sagte Ross. Die Techniker drückten auf verschiedene Knöpfe, änderten die Tonfrequenzen, aber das Geräusch blieb seltsam und unscharf. Dann bewegte sich der Schatten, und der Mann trat genau vor die Linse. »Diopter«, sagte Karen Ross. Aber es war bereits zu spät. Das Gesicht war schon nicht mehr zu sehen, war zu dicht vor der Linse, als daß man es ohne Diopter hätte scharf einstellen können. Man sah eine verschwommene, dunkle Gestalt, sonst nichts. Bevor sie die Visiereinrichtung zuschalten konnten, war das Wesen fort.

»Ob das ein Eingeborener war?«

»Dieses Gebiet des Kongo ist unbewohnt«, antwortete Karen Ross.

»Irgend etwas muß aber da wohnen.«

»Rundumschwenk«, sagte Karen Ross. »Sehen Sie zu, ob Sie ihn wieder auf den Bildschirm bekommen können.« Die Kamera schwenkte weiter.

Karen Ross stellte sich vor, wie sie da im Dschungel auf ihrem Stativ stand, mit surrendem Motor, während der Objektivhalter sich langsam drehte. Dann kippte das Bild plötzlich seitwärts weg. »Er hat sie umgeworfen.« »Verdammt!«

Aus dem Fernsehbild wurden bunt durcheinanderlaufende gestörte Linien. Es war sehr schwer, irgend etwas zu erkennen. »Auflösen! Auflösen!«

Noch einmal sahen sie flüchtig ein großes Gesicht und eine dunkle Hand, die auf die Parabolantenne niederfuhr. Das Bild aus dem Kongo schnurrte zu einem Punkt zusammen und war verschwunden.

2. Störfelder

Im Juni 1979 waren für die Earth Resources Technology Services Expertenteams unterwegs, die in Bolivien Uranvorkommen erforschten, in Pakistan Kupfervorkommen, Möglichkeiten landwirtschaftlicher Nutzung in Kaschmir, die Wanderung von Gletschern auf Island, die Nutzholzvorräte in Malaysia und Vorkommen bestimmter Diamanten im Kongo. Dergleichen war für die ERTS nichts Ungewöhnliches - im allgemeinen waren jeweils sechs bis acht Gruppen gleichzeitig unterwegs. Da die Experten oft in gefährlichen oder politisch instabilen Gegenden der Erde arbeiteten, wurde bei der ERTS mit besonderer Sorgfalt auf die ersten Anzeichen von »Stördaten« geachtet. (In der Terminologie der Fernerkundung wird das charakteristische Auftreten eines Gegenstands oder einer geologischen Formation auf einer Fotografie oder einem Videobild als »Kenndatum« bezeichnet.) Die Stördaten - auch als Störfelder bekannt - waren meist politischer Art.

1977 hatte die ERTS während einer örtlich begrenzten kommunistischen Erhebung ein Team auf dem Luftweg aus Borneo herausgeholt, und 1978 war ein ähnliches Unternehmen wegen eines Militärputsches in Nigeria erforderlich gewesen. Gelegentlich kam es zu geologischen Störungen - so hatte man 1976 nach dem großen Erdbeben ein Team aus Guatemala abziehen müssen.

Nach Meinung von R. B. Travis, den man in den späten Abendstunden des 13. Juni 1979 aus dem Bett geholt hatte, zeigten die Videobänder aus dem Kongo »die bisher schlimmste Störung«, doch blieb die Ursache geheimnisvoll. Man wußte lediglich, daß das Lager binnen sechs Minuten zerstört worden war - so lange dauerte es von der Signalauslösung aus Houston bis zum Empfang der Satellitenübertragung im Kongo. Diese Schnelligkeit war beängstigend, und so wollte Travis von seinen Mitarbeitern als erstes wissen, »was zum Teufel da draußen vorgefallen ist«. Travis, ein gedrungener Mann von achtundvierzig Jahren, war mit Krisen durchaus vertraut.

Er war von Haus aus Ingenieur, hatte für die RCA und später für Rockwell Satelliten gebaut, war dann Mitte Dreißig auf die Unternehmensleitungsebene umgestiegen und das geworden, was Raumfahrtingenieure als »Regenmacher« bezeichnen. Unternehmen, die Satelliten herstellen, gaben eineinhalb bis zwei volle Jahre im voraus eine Trägerrakete in Auftrag, die den Satelliten auf die Umlaufbahn bringen sollte, und hofften dann, daß der Satellit mit seiner halben Million Einzelteile zum vorgesehenen Zeitpunkt fertig wurde. Andernfalls gab es nur noch die Möglichkeit, um schlechtes Wetter zu beten, weil dann der Start verschoben werden mußte - also einen Regenzauber zu veranstalten.

Travis hatte sich seinen Humor bewahrt, obwohl er ein ganzes Jahrzehnt lang Probleme auf höchster technischer Ebene gelöst hatte. Seine Arbeitshaltung ging aus einem großen, an der Wand hinter seinem Schreibtisch befestigten Schild hervor, auf dem es hieß: »EGGIS.« Was bedeutete: »Etwas geht garantiert immer schief.«

Aber in der Nacht vom 13. auf den 14. Juni versagte sein Humor. Seine ganze Expedition war verloren, alle ERTS-Experten tot -acht seiner besten Leute - und mit ihnen alle Träger. Acht Leute! Das war die schlimmste Katastrophe in der Geschichte der ERTS, schlimmer noch als 1978 in Nigeria. Travis fühlte sich erschöpft und innerlich ausgelaugt, wenn er nur an all die Telefongespräche dachte, die er jetzt führen mußte. Dabei meinte er nicht seine eigenen Anrufe, sondern die, die er entgegennehmen mußte. Ob der und der rechtzeitig zur Schulabschlußfeier seiner Tochter oder zum Sportfest seines Sohnes zurück sein werde? All diese Anrufe würde man an Travis weiterleiten, und er würde die erwartungsvollen Stimmen hören, die hoffnungsvollen Fragen, denen er seine eigenen wohlüberlegten, ziselierten Antworten entgegensetzen mußte ... Daß er nicht ganz sicher sei, selbstverständlich sehe er die Schwierigkeiten, er werde sein Bestes tun, natürlich, ganz klar ... Die Aussicht darauf machte ihm im voraus zu schaffen.

Er würde niemandem sagen können, was vorgefallen war, mindestens zwei Wochen, möglicherweise einen ganzen Monat lang nicht. Dann aber würde er selbst anrufen, Hausbesuche machen und an den Gedenkgottesdiensten teilnehmen müssen. Da wo sonst der Sarg stand, würde eine deutlich sichtbare Lücke klaffen, er würde die unvermeidlichen Fragen der Angehörigen und Verwandten unbeantwortet lassen müssen. Sie würden in seinem Gesicht nach dem kleinsten verräterischen Anzeichen suchen, das leiseste Zögern ausdeuten. Was könnte er ihnen schon sagen?

Sein einziger Trost war, daß er ihnen in einigen Wochen möglicherweise mehr berichten konnte. Eines war sicher: Wenn er die schrecklichen Anrufe heute nacht noch tätigen müßte, könnte er den Angehörigen überhaupt nichts sagen, denn niemand bei der ERTS hatte eine Vorstellung davon, was vorgefallen war, und das steigerte noch Travis' Gefühl der Erschöpfung. Außerdem mußte man sich noch um Einzelheiten kümmern: Morris, der Sachbearbeiter des Unternehmens für Versicherungsfragen, kam herein und wollte wissen.: »Was soll mit den RisikoLebensversicherungen geschehen?« Die ERTS schloß für jedes Mitglied ihrer Expeditionen RisikoLebensversicherungen ab, auch für die eingeborenen Träger. Für die afrikanischen Träger lautete die Versicherung auf jeweils 15000 US-Dollar - ein auf den ersten Blick lächerlich geringer Betrag -andererseits galt es zu bedenken, daß das jährliche Pro-Kopf-Einkommen in Afrika bei durchschnittlich 180 US-Dollar lag. Travis hatte stets den Standpunkt vertreten, auch das Risiko der eingeborenen Expeditionsteilnehmer müsse angemessen gedeckt werden, auch um den Preis, daß Familien, die ihren Ernährer verloren, ein - nach ihren Vorstellungen -kleines Vermögen erhielten, daß die ERTS ein kleines Vermögen an Versicherungsprämien dafür aufbrachte. »Erst einmal nichts«, sagte Travis. »Wissen Sie, was uns die Policen pro Tag kosten?« »Wir machen erst einmal nichts«, sagte Travis. »Und wie lange?« »Dreißig Tage«, sagte Travis. »Noch dreißig Tage?« »Ja.«

»Aber sie sind doch mit Sicherheit alle tot.« Morris konnte Geldverschwendung nicht ruhig mitansehen. Es tat ihm in seiner Buchhalterseele weh.

»Schon recht«, sagte Travis. »Sie lassen wohl am besten den Angehörigen der Träger einen kleinen Betrag zukommen, damit sie den Mund halten.« »Großer Gott, und wieviel?« »Jeweils fünfhundert Dollar.« »Und wie verbuchen wir das?«

»Gerichts- und Anwaltskosten«, sagte Travis. »Verstecken Sie es unter im Ausland angefallene Gerichts- und Anwaltskosten.« »Und die Angehörigen der Amerikaner, die wir verloren haben?« »Die haben alle Kreditkarten und können ihre Konten überziehen«, sagte Travis. »Machen Sie sich um die keine Sorgen.« Roberts, der für die Öffentlichkeitsarbeit zuständig war, kam in das Büro von Travis. »Lassen wir die Katze aus dem Sack?« »Nein«, sagte Travis. »Keinen Ton.«

»Wie lange?« »Dreißig Tage.«

»Verdammt! In der Zeit haben das doch Ihre eigenen Mitarbeiter ausgeplaudert«, sagte Roberts. »Das gebe ich Ihnen schriftlich.« »Dann dementieren Sie«, sagte Travis. »Ich brauche noch dreißig Tage, um den Kontrakt durchzuziehen.« »Wissen wir, was da draußen passiert ist?« »Nein«, sagte Travis. »Aber wir werden es erfahren.« »Wie?«

»Von den Bändern.« »Die sind ein einziges Durcheinander.«

»Noch«, sagte Travis. Dann rief er die Konsolenspezialisten herein. Travis war schon längst zu dem Ergebnis gekommen, daß die ERTS, auch wenn ihr politische Berater auf der ganzen Welt zur Verfügung standen, die meisten Informationen wahrscheinlich im eigenen Haus bekommen konnte. »Alles, was wir von der KongoExpedition wissen«, sagte er, »ist auf dem letzten Videoband registriert. Ich will eine Ton- und Bildaufbereitung auf sieben Frequenzen haben. Fangen Sie sofort an. Das Band ist alles, was wir haben.« Die Spezialisten machten sich an die Arbeit.

3. Aufbereitung

Das Verfahren, nach dem sie arbeiteten, hieß bei der ERTS »Datenaufbereitung« oder bisweilen auch »Datenbergung«. Der letzte Begriff ließ an TiefseeBergungsaktionen denken und war auf merkwürdige Weise zutreffend.

Für eine Aufbereitung oder Bergung von Daten mußte aus den Tiefen umfangreicher elektronisch gespeicherter Angaben ein zusammenhängender Sinn an die Oberfläche gezogen werden. Und wie die Bergung eines Schiffes war das ein langwieriger Vorgang, der größtes Feingefühl erforderte: eine falsche Bewegung konnte den unwiederbringlichen Verlust dessen bedeuten, was man ans Tageslicht zu fördern trachtete. Die ERTS hatte ganze Bergungsmannschaften, die sich auf die Kunst der Datenaufbereitung verstanden. Eine von ihnen machte sich unverzüglich an die Aufbereitung der Tondaten, eine andere an die der Bilddaten.

Karen Ross war bereits auf eigene Faust mit einer Bildaufbereitung beschäftigt. Sie arbeitete nach hochkomplizierten und nur bei der ERTS praktisch anwendbaren Verfahren. Die Earth Resources Technology war ein vergleichsweise junges Unternehmen. Ihre Gründung im Jahre 1975 war eine Reaktion auf das explosionsartige Anwachsen von Informationen über die Erde und ihre Schätze. Der Umfang des von der Gesellschaft bearbeiteten Materials war schwindelerregend: allein Landsat

hatte schon über fünfhunderttausend Bilder geliefert, und stündlich kamen sechzehn weitere hinzu -vierundzwanzig Stunden am Tag. Zählte man die herkömmliche Luftfotografie und die Luftfotogrammetrie, Infrarotaufnahmen und Aufnahmen mit Schrägsichtradar mit künstlicher Verschlußöffnung hinzu, belief sich der Gesamtbestand des der ERTS zugänglichen Materials auf über zwei Millionen Bilder, die sich pro Stunde um jeweils dreißig vermehrten. All diese Angaben mußten katalogisiert, gespeichert und für den sofortigen Zugriff aufbereitet werden. Die ERTS war wie eine riesige Bibliothek, die täglich siebenhundert neue Bücher erwarb. So überraschte es nicht, daß die »Bibliothekare« fieberhaft rund um die Uhr arbeiteten.

Besuchern der ERTS schien nie recht klar zu sein, daß man noch vor zehn Jahren eine solche Datensammlung auch mit Computer-Unterstützung unmöglich hätte bewältigen und verwalten können. Ebensowenig verstanden sie, um welche Art von Informationen es sich handelte - die meisten nahmen an, die Bilder auf den Bildschirmen seien Fotografien - und eben das waren sie nicht. Die Fotografie beruht auf einem chemischen Verfahren aus dem 19. Jahrhundert zur Aufzeichnung von Informationen mit Hilfe lichtempfindlicher Silbersalze. Bei der ERTS benutzte man ein elektronisches Verfahren des 20. Jahrhunderts -analog den chemisch hergestellten Fotografien, aber gänzlich anders. Statt Kameras verwendete man bei der ERTS Mehrfachspektrum-Abtastgeräte und statt Filmmaterial computerverträgliche Bänder. In Wirklichkeit also gab es dort keine »Bilder«, wie man sie sich von altväterlichen fotografischen Techniken her vorstellt. Die ERTS kaufte »DatenAbtastungen«, die sie bei Bedarf in »DatenDarstellungen« umwandelte.

Da die Bilder der ERTS nichts anderes als auf Magnetband gespeicherte elektronische Signale waren, ließen sie sich auf vielerlei Weise elektronisch manipulieren. Die ERTS verfügte über achthundertsiebenunddreißig Computerprogramme zur Veränderung von Bildern: man konnte sie verstärken, unerwünschte Bestandteile eliminieren oder Einzelheiten deutlicher hervortreten lassen. Karen Ross bearbeitete das Kongo-Band mit vierzehn Programmen - vor allem den vor atmosphärischen Bildstörungen kaum erkennbaren Abschnitt, auf dem die Hand und das Gesicht zu sehen waren, kurz vor der Zerstörung der Antenne.

Zuerst führte sie den »Waschzyklus« durch, der die atmosphärischen Bildstörungen beseitigte. Sie stellte fest, daß die Störungslinien in bestimmten Stellungen der Abtastvorrichtung auftraten und daß man ihnen einen spezifischen Graukeilwert zuordnen konnte. Sie beauftragte den Computer, diese Linien zu beseitigen.

Anschließend wies das Bild Lücken an den Stellen auf, an denen die Störungen herausgenommen worden waren. Also gab sie dem Computer den Auftrag, »die Lücken zu füllen«, das heißt entsprechend der jeweiligen Umgebung der Lücken zu »interpolieren«. Bei diesem Verfahren erriet der Computer auf logischer Grundlage das Fehlende.

Nun waren zwar keine atmosphärischen' Bildstörungen mehr zu sehen, aber das Bild war verschwommen und unscharf. Also steigerte sie die Schärfe durch ein Spreizen der Grauwerte. Aber sie erhielt auch eine ihr nicht erklärliche Phasenverzerrung, die sie beseitigen mußte; dadurch wurden zuvor unterdrückte Zacken sichtbar, zu deren Unterdrückung sie drei weitere Programme durchlaufen lassen mußte ...

Mit solchen technischen Einzelheiten war sie eine gute Stunde lang beschäftigt, bis plötzlich ein klares, sauberes Bild zum Vorschein kam. Sie hielt den Atem an, als sie es sah - ein finsteres Gesicht mit schweren Brauen, aufmerksamen Augen, einer platten Nase und vorspringenden Lippen.

Aus den flimmernden Zeilen des Videobildes stierte ihr das Gesicht eines Gorillamanns entgegen.

Travis kam kopfschüttelnd von der anderen Seite des Zimmers auf sie zu. »Wir sind mit der Tonaufbereitung des zischelnden Geräuschs fertig. Der Computer bestätigt, daß es sich um menschliches Atmen handelt, mit mindestens vier getrennten Quellen. Aber es ist seltsam, denn der Analyse zufolge handelt es sich um ein Geräusch, das beim Einatmen entsteht, nicht beim Ausatmen, wie das bei Menschen an sich üblich ist.« »Der Computer irrt«, sagte Ross. »Es ist kein menschlicher Atem.« Sie wies auf den Bildschirm und den Gorillakopf. Travis zeigte sich nicht überrascht: »Das ist getürkt«, sagte er. »Das ist es nicht.«

»Sie haben die Lücken auffüllen lassen und dabei einen Türken bekommen. Wahrscheinlich haben die Jungs in der Mittagspause wieder mit den Programmen herumgespielt.« Er meinte die jungen Programmierer, die sich gern einen Spaß daraus machten, Programme so zu ändern, daß sich raffinierte Abwandlungen von Kugelspielen ergaben. Diese Spiele gelangten manchmal auch in andere Programme.

Karen Ross selbst hatte sich gelegentlich darüber beklagt. »Das Bild hier ist echt«, erklärte sie und deutete auf den Schirm. »Hören Sie zu«, sagte Travis, »letzte Woche hat Harry bei einem Bild aus dem Karakorum die Lücken aufgefüllt. Herausgekommen ist ein Mondlandespiel - man landet gleich neben der Mac-Donald-Imbißbude: ungeheuer witzig.« Er wandte sich zum Gehen. »Kommen Sie lieber zu den anderen in mein Büro. Wir berechnen, wieviel Vorlauf wir brauchen, um wieder an den Ball zu kommen.« »Das nächste Team führe ich.«

Travis schüttelte den Kopf. »Kommt gar nicht in Frage.« »Und das hier?« wollte sie wissen. Sie zeigte auf den Bildschirm. »Das Bild kaufe ich Ihnen nicht ab«, sagte Travis. »Gorillas machen so etwas nicht. Nein, das muß ein Türke sein.« Er sah auf seine Uhr. »Im Augenblick ist meine einzige Überlegung, wie schnell wir wieder ein Team in den Kongo schicken können.«

4. Die neue Expedition

Travis hatte im Grunde seines Herzens nie daran gezweifelt, daß es weitergehen würde. Von dem Augenblick an, als er die Videobänder aus dem Kongo sah, lautete die Frage nur noch, wie es am besten weiterging. Er holte alle Abteilungsleiter zusammen: Finanzen, diplomatische Beziehungen, Fernüberwachung,Geologie, Logistik, Rechtsberatung. Alle gähnten und rieben sich die Augen. Travis eröffnete die Zusammenkunft mit den Worten: »Ich will, daß wir in sechsundneunzig Stunden wieder im Kongo sind.«

Dann lehnte er sich in seinen Sessel zurück und ließ sich auseinandersetzen, warum das nicht möglich sei. Gründe gab es mehr als genug.

»Wir können die Luftfrachteinheiten frühestens in hundertsechzig Stunden zusammenstellen«, sagte Cameron, der Mann für Logistik.

»Und wenn wir das Himalaya-Team verschieben und dessen Ausrüstung nehmen?« fragte Travis. »Das ist eine Hochgebirgsexpedition!«

»Man kann die wenigen abweichenden Ausrüstungsteile in neun Stunden auswechseln«, sagte Travis.

»Aber wir haben nichts, um sie rauszufliegen«, sagte Levis, der Transportfachmann.

»Die Korean Airlines haben im Moment noch einen Fracht-Jumbo in San Francisco, der zur Verfügung stünde. Sie haben mir gesagt, er kann in neun Stunden hier sein.«

»Sie haben eine Maschine da einfach so rumstehen?« »Ich nehme an«, sagte Travis, »daß ein anderer Kunde im letzten Augenblick seine Charter storniert hat.«

Irwin, der Mann für Finanzen, stöhnte: »Und was soll das alles kosten?«

»Wir bekommen unmöglich rechtzeitig die nötigen Visa für Zaire«, sagte Martin, der für diplomatische Beziehungen zuständige Mann. »Außerdem ist es sehr fraglich, ob die Botschaft Zaires in Washington uns Visa erteilen würde. Wie Sie wissen, wurden uns die ersten Kongo-Visa auf Grund der Mutungsrechte erteilt, die uns die Regierung des Landes Zaire gewährt hat - und die sind keineswegs exklusiv. Sie haben nicht nur uns reingelassen, sondern auch die Japaner, die Deutschen und die Holländer mit ihrem Abbaukonsortium. Wenn man in Zaire argwöhnt, daß unsere Expedition Schwierigkeiten hat, wird man uns kurzerhand ausschalten - dann können die Euro-Japaner ihr Glück probieren. Zur Stunde drücken sich dreißig Angehörige der japanischen Handelsmission in Kinshasa herum und werfen mit Yen nur so um sich.«

»Ich glaube, das stimmt«, sagte Travis. »Falls bekannt würde, daß unsere Expedition Schwierigkeiten hat.« »Das wissen die doch, sobald wir Visa beantragen.« »Dann beantragen wir eben keine. Alle Welt weiß«, sagte Travis, »daß wir noch eine Expedition im Virunga-Gebiet haben. Wenn wir schnell genug eine zweite kleine Gruppe hinbringen, merkt niemand, daß es nicht dieselben Leute sind.« »Und was ist mit den auf die Person ausgestellten Visa zur Grenzüberquerung, den Ausrüstungsverzeichnissen...« »Lauter Kleinkram«, sagte Travis. »Dafür gibt's Schnaps.« Zur Bestechung wurden vielfach alkoholische Getränke verwandt. In vielen Teilen der Welt zogen Expeditionstrupps mit Kisten voll Whisky und mit den Dauerfavoriten - Transistorradios und Sofortbild-Kameras - durch die Gegend. »Kleinkram? Und wie wollen Sie über die Grenze kommen?« »Dafür brauchen wir einen guten Mann. Wie war's mit Munro?«

»Munro? Das kann gefährlich werden. Die Regierung von Zaire haßt Munro.«

»Er kennt eine Menge Tricks, und er kennt die Gegend.« Martin, der für diplomatische Beziehungen zuständig war, räusperte sich und sagte: »Ich glaube, ich sollte bei dieser Besprechung besser nicht anwesend sein. Ich habe den Einruck, Sie machen hier den Vorschlag, daß wir ein Team unter der Führung eines ehemaligen Kongo-Söldners illegal in das Gebiet eines souveränen Staates eindringen lassen... «

»Aber nein, ganz und gar nicht«, sagte Travis. »Ich sehe mich genötigt, eine Hilfsexpedition zur Unterstützung meiner bereits dort befindlichen Leute auszusenden. So etwas ist an der Tagesordnung. Ich habe keinen Grund zu der Annahme, daß irgend jemand Schwierigkeiten hat. Es handelt sich einfach um einen der üblichen Hilfstrupps, nur bleibt leider nicht genug Zeit, die offiziellen Wege zu beschreiten. Möglicherweise weiß ich nicht, was ich tue, und stelle den falschen Mann ein, aber das ist doch kein Verbrechen.«

Um 23 Uhr 45 in der Nacht vom 13. zum 14. Juni waren die wichtigsten Schritte für die nächste ERTS-Expedition festgelegt und vom Computer bestätigt. Eine vollbeladene 747 konnte Houston am folgenden Tag, dem 14. Juni, um 20 Uhr verlassen; die Maschine konnte am 15. Juni in Afrika sein und dort Munro oder »jemanden seines Kalibers» aufnehmen, und das volle Team konnte am 17. Juni an Ort und Stelle im Kongo sein. In sechsundneunzig Stunden.

Aus dem Datenzentrum konnte Karen Ross durch die gläsernen Trennwände in Travis' Büro sehen und den Verlauf der Besprechung verfolgen. Mit der ihr eigenen logischen Denkweise kam sie zu dem Ergebnis, daß Travis überstürzt gehandelt, das heißt aus einer unzureichenden Datenmenge falsche Schlüsse gezogen und zu früh »alles klar« gesagt hatte. Karen Ross war der Meinung, es sei erst dann sinnvoll, wieder in den Kongo zu gehen, wenn man wußte, was dort eigentlich vorgefallen war. Sie blieb an ihrer Konsole und prüfte das von ihr »geborgene« Bild.

Sie glaubte an seine Echtheit und Richtigkeit -wie aber konnte sie Travis davon überzeugen?

In der übertechnisierten Datenverarbeitungswelt der ERTS bestand immer Gefahr, daß gewonnene Informationen anfingen »abzudriften« - daß die Bilder sich von der Wirklichkeit ablösten, wie ein Schiff sich aus seiner Vertäuung lösen kann. Das passierte besonders oft dann, wenn die Daten mehreren Bearbeitungsverfahren unterworfen wurden, wenn man also zum Beispiel die.106 Pixels oder Bildelemente in einem vom Computer erzeugten Hyperraum herumwirbelte.

Daher entwickelte die ERTS andere Möglichkeiten, um die Richtigkeit von Bildern zu überprüfen, die sie aus dem Computer erhielt. Karen Ross kontrollierte das Gorilla-Bild mit Hilfe zweier solcher Prüfprogramme. Das erste arbeitete mit der »Voraussage des folgenden Bildes«.

Man kann Videobänder wie einen Kinofilm behandeln - eine Aufeinanderfolge von Standbildern. Sie führte dem Computer nacheinander mehrere solcher »Standbilder« vor und forderte ihn dann auf, das nächste Bild vorauszusagen. Das vorausgesagte Bild wurde dann mit dem tatsächlich folgenden verglichen.

Sie führte diesen Schritt achtmal hintereinander durch, und das Ergebnis war jedesmal stichhaltig. Falls bei der Datenverarbeitung ein Fehler gemacht worden war, handelte es sich zumindest um einen konsequent durchgehaltenen Fehler. Von diesem Erfolg ermutigt, machte sie als nächstes eine »schnelle 3-D-Probe«. Dabei wurde das zweidimensionale Videobild so behandelt, als habe es gewisse auf Grauwertmustern beruhende dreidimensionale Eigenschaften. Im wesentlichen entschied der Computer dabei, ob der Schatten, den eine Nase oder ein Gebirgsmassiv warf, bedeutete, daß diese Nase oder das Gebirgsmassiv über die umgebende Fläche hinausragte. Unter dieser Voraussetzung konnten aufeinanderfolgende Bilder geprüft werden. An Hand der Bewegungen des Gorillas wies der Computer nach, daß das zweidimensional aufgezeichnete Bild in der Tat dreidimensional und zusammenhängend war.

Damit war die Echtheit des Bildes über jeden Zweifel hinaus bewiesen.

Sie ging zu Travis.

»Schön, gehen wir davon aus, ich akzeptiere dieses Bild«, sagte Travis mit gerunzelter Stirn. »Dann sehe ich immer noch nicht ein, warum Sie die nächste Expedition leiten sollten.« Karen Ross fragte: »Was haben denn die anderen rausgekriegt?« »Die anderen?« fragte Travis mit Unschuldsmiene. »Sie haben das Band doch noch einer anderen Aufbereitungsgruppe gegeben, um mein Ergebnis zu überprüfen«, sagte Karen Ross.

Travis sah auf seine Uhr. »Bis jetzt noch nichts.« Und fügte hinzu: »Wir wissen, daß Sie mit Datenmaterial schnell sind.« Karen Ross lächelte. »Deshalb brauchen Sie mich auch als Expeditionsleiterin«, sagte sie. »Ich kenne das Datenmaterial, weil ich es hergestellt habe. Und wenn Sie sofort einen neuen Trupp losschicken wollen, bevor das Rätsel um den Gorilla gelöst ist, kann Ihre einzige Hoffnung nur darin liegen, daß der Teamleiter schnell an Ort und Stelle etwas mit den Daten anfangen kann. Diesmal brauchen Sie da draußen einen Konsolenartisten. Sonst endet die nächste Expedition wie die vorige. Denn Sie wissen doch immer noch nicht, was da eigentlich passiert ist.« Travis saß an seinem Schreibtisch und sah sie lange an. Sie deutete sein Zögern als Zeichen dafür, daß sein Widerstand nachließ.

»Außerdem möchte ich mich draußen vergewissern«, sagte Karen Ross.

»Bei einem Außenstehenden?«

»Ja. Bei einem Experten unter unseren freien Mitarbeitern.« »Das ist riskant«, sagte Trafis. »Ich ziehe zu diesem Zeitpunkt ungern Außenstehende in die Sache hinein. Sie wissen, daß das Konsortium uns auf den Fersen ist. Rechnen Sie sich mal aus, wie hoch die Wahrscheinlichkeit steigt, daß etwas durchsickert.« »Es ist aber wichtig«, erklärte Karen Ross beharrlich.

Travis seufzte. »Schön, wenn Sie meinen, daß es wichtig ist.« Er seufzte wieder. »Nur, sehen Sie zu, daß wir uns keine Verspätung einhandeln.«

Karen Ross packte bereits ihre Unterlagen zusammen.

Als Travis wieder allein war, runzelte er die Stirn und dachte noch einmal über seine Entscheidung nach. Selbst wenn es gelang, die nächste KongoExpedition im Ruckzuckverfahren binnen vierzehn Tagen abzuschließen, würden die festen Kosten immer noch mehr als dreihunderttausend Dollar betragen. Der Aufsichtsrat würde zetern: Wie konnte man ein unerprobtes Kind von vierundzwanzig Jahren, eine Frau, mit einer solchen Verantwortung in den Busch schicken? Noch dazu bei einem so wichtigen Projekt, bei dem so ungeheuer viel auf dem Spiel stand, und bei dem sie zeitlich bereits in Verzug waren und längst den Kostenrahmen überschritten hatten. Und Karen Ross, die so kühl und unnahbar war, würde sich wahrscheinlich als schlechte Expeditionsleiterin erweisen und die anderen Teilnehmer vor den Kopf stoßen.

Andererseits, dachte Travis, sprach auch einiges für den Ross-Gletscher. Aus seinen Regenmacherzeiten hatte er die ManagerPhilosophie mitgebracht, daß man ein Projekt am besten dem anvertraute, dem ein Erfolg am meisten nützen oder dem ein Fehlschlag am meisten schaden würde.

Er wandte sich seiner Konsole zu, die neben seinem Schreibtisch stand. »Travis«, sagte er, und der Bildschirm leuchtete auf. »Psychographische Unterlagen«, sagte er. Auf dem Bildschirm erschien eine Liste von Abrufpositionen. »Ross, Karen«, sagte Travis.

Auf dem Bildschirm flackerte KURZE DENKPAUSE. Das war die übliche Angabe in solchen Fällen. Sie bedeutete, daß Daten herausgezogen wurden. Er wartete.

Dann wurde das zusammengefaßte Psychogramm auf dem Bildschirm ausgegeben. Alle bei der ERTS Beschäftigten wurden drei Tage lang gründlichen psychologischen Tests unterzogen, bei denen es nicht nur um Fähigkeiten und Kenntnisse, sondern auch um mögliche Tendenzen ging. Er war sicher, daß die Einstufung von Karen Ross den Aufsichtsrat beruhigen würde.

HOCHINTELLIGENT / LOGISCHES DENKVERMOEGEN / FLEXIBEL / FINDIG / SPEZIELLE BEGABUNG FUER UMGANG MIT DATEN / DENKPROZESS RASCH WECHSELNDEN ECHTZEITSITUATIONEN ANGEPASST / GROSSE ANTRIEBS ST AERKE BEI BEKANNTEN VORGEGEBENEN ZIELEN / GEISTIG HOCH UND DAUERHAFT BELASTBAR /

Das sah aus wie die Beschreibung des idealen Leiters der nächsten Kongo-Expedition. Er ließ den Blick weiter über den Bildschirm laufen, um die einschränkenden Angaben zu lesen. Sie waren weniger beruhigend.

JUGENDLICH-RUECKSICHTSLOS /

SCHWACH ENTWICKELTE FAEHIGKEIT ZU MENSCHLICHEN BEZIEHUNGEN / DOMINIEREND / INTELLEKTUELLE

ARROGANZ / MANGELNDES

FINGERSPITZENGEFUEHL / SUCHT ERFOLG UM JEDEN PREIS /

Und dann folgte die abschließende »Umkipp«-Analyse. Die Vorstellung, daß jeder vorherrschende Charakterzug unter extremen Bedingungen plötzlich in sein Gegenteil umschlagen konnte, war bei den Testverfahren der ERTS entwickelt worden. So konnten väterliche Männer und mütterliche Frauen »umkippen« und zu infantilen Quenglern werden, und wer zur Hysterie neigte, konnte unter solchen Bedingungen eiskalt werden. Logisch denkende Menschen wurden plötzlich impulsiv.

UMKIPP-MUSTER: DIE VORHERRSCHENDE {MOEG-LICHERWEISE UNERWUENSCHTE} OBJEKTIVITAET KANN VERLORENGEHEN, WENN DAS ANGESTREBTE ZIEL IN SICHT KOMMT / DAS ERFOLGSSTREBEN KANN ZU GEFAEHRLICH IMPULSIVEN REAKTIONEN FUEH-REN / DIESE RICHTEN SICH VOR ALLEM GEGEN VATERFIGUREN / DAHER IST ABGEFRAGTE PERSON BEI ZIELORIENTIERTEN VERFAHREN IN DEN ENDPHASEN ZU UEBERWACHEN /

Travis sah auf den Bildschirm und kam zu dem Ergebnis, daß eine solche Situation bei der nächsten Kongo-Expedition höchst unwahrscheinlich war. Er schaltete den Computer ab.

Karen Ross war nahezu berauscht von ihrer neuen Aufgabe. Kurz vor Mitternacht ließ sie sich die Liste der freien Mitarbeiter auf ihren Datenplatz geben. Die ERTS arbeitete mit den verschiedensten Tierexperten zusammen, die sie mit Geldern aus einer gemeinnützigen Stiftung, dem Earth Resources Wildlife Fund, förderte. Die Liste war nach Fachgebieten geordnet. Unter »Primaten« waren vierzehn Adressen aufgeführt, einige in Borneo, Malaysia, und Afrika, andere in den Vereinigten Staaten. Unter den letzteren beschäfigte sich nur einer mit Gorilla-Forschung, ein Primatologe namens Dr. Peter Elliot an der University of California in Berkeley.

Den Bildschirmangaben zufolge war Elliot neunundzwanzig Jahre alt, unverheiratet und Privatdozent am Zoologischen Institut. Sein Hauptforschungsgebiet war offensichtlich »Kommunikation von Primaten (Gorilla)«. Die von der ERTS gewährten Beiträge wurden für ein »Projekt Amy« verwendet. Sie sah auf die Uhr. Es war gerade Mitternacht in Houston, in Kalifornien demnach zehn Uhr abends. Sie wählte Elliots Privatnummer.

»Hallo«, meldete sich eine zurückhaltende männliche Stimme. »Spreche ich mit Dr. Peter Elliot?«

»Ja...« Es klang so, als zögerte der Mann, als sei er auf der Hut. »Sind Sie von der Presse oder vom Fernsehen?« »Nein«, sagte sie. »Hier spricht Dr. Karen Ross in Houston. Ich habe mit dem Earth Resources Wildlife Fund zu tun, der Ihre Forschung unterstützt.«

»Oh, ja...« Immer noch der vorsichtige Klang in der Stimme. »Sie sind wirklich nicht Reporterin? Ich sage Ihnen der Ordnung halber, daß ich dieses Gespräch als eventuelles Beweisstück mitschneide.«

Karen Ross zögerte. Das hatte ihr gerade noch gefehlt - ein Wissenschaftler, der sich verfolgt fühlte und wichtige Entwicklungen bei der ERTS aufzeichnete. Sie schwieg. »Sind Sie Amerikanerin?« fragte er. »Selbstverständlich.«

Karen Ross sah angestrengt auf die ComputerBildschirme, auf denen jetzt die Angabe erschien: STIMME ERKANNT: ELLIOT, PETER, 29 JAHRE.

»Sagen Sie, weshalb Sie anrufen«, sagte Elliot. »Nun, wir stehen im Begriff, eine Expedition in das Virunga-Gebiet im Kongo zu schicken, und... «

»Tatsächlich? Wann denn?« Plötzlich klang die Stimme begeistert, jungenhaft. »In zwei Tagen, und...« »Ich möchte mitkommen«, sagte Elliot.

Karen Ross war so überrascht, daß sie kaum wußte, was sie sagen sollte. »Ja, Dr. Elliot, deswegen rufe ich Sie eigentlich nicht an...«

»Ich wollte sowieso dorthin«, sagte Elliot. »Mit Amy.« »Wer ist Amy?« »Ein Gorilla«, sagte Peter Elliot.

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