6. Tag Liko 18. Juni 1979

1. Regenwald

Am Morgen des folgenden Tages drangen sie in den feuchten Regenwald am Kongo ein, der in einer immerwährenden Düsternis liegt.

Munro bemerkte, daß ihn wieder das von früher bekannte Gefühl der Bedrücktheit und des Eingeschlossenseins beschlich, verbunden mit einer seltsamen, übermächtigen Mattigkeit. Als Söldner am Kongo in den sechziger Jahren hatte er den Dschungel gemieden, wo immer das möglich war. Die Mehrzahl der militärischen Auseinandersetzungen hatte in freiem Gelände stattgefunden - in den Kolonialstädten der Belgier, an Flußufern, an den unbefestigten Straßen, die sich wie ein rotes Band durchs Land zogen. Niemand wollte im Dschungel kämpfen. Den Söldnern war er verhaßt, und die abergläubischen Simba hatten Angst vor ihm. Beim Vorrücken der Söldner flohen die Aufständischen oft in den Dschungel, aber nie sehr weit, und Munros Soldaten folgten ihnen nicht dorthin, sondern warteten einfach, bis sie wieder herauskamen. Auch in den sechziger Jahren blieb der Dschungel unbekanntes Land, ein Reich, in das die Mittel der modernen hochtechnisierten Kriegführung nicht recht einzudringen vermochten. Und das hatte seinen guten Grund, dachte Munro. Der Mensch gehörte einfach nicht hierher. Munro freute sich absolut nicht, wieder im Dschungel zu sein.

Elliot, der noch nie im Regenwald gewesen war, war fasziniert. Der Dschungel war anders, als er ihn sich vorgestellt hatte. Er war nicht darauf gefaßt, daß alles so riesig war - die gigantischen Bäume, die hoch über ihm himmelwärts strebten, mit Stämmen groß wie Häuser und dicken, moosbedeckten Wurzeln, die sich am Boden wanden.

In dem weiten Raum unter den Bäumen kam man sich vor wie im Dämmerlicht einer Kathedrale: Die Sonne war völlig ausgesperrt, und am Belichtungsmesser seines Fotoapparats konnte er keinen Zeigerausschlag beobachten.

Auch hatte er sich den Dschungel weit dichter vorgestellt, als er sich nun zeigte. Sie konnten frei und unbehindert hindurchziehen. Dieser Wald schien auf eine überraschende Weise öde und still zu sein - zwar hörte man gelegentlich einen Vogelruf und kreischende Affen, aber sonst lag über allem tiefe Stille. Außerdem war alles seltsam monoton: Obwohl er im Blattwerk und in den Schlingpflanzen jede Schattierung von Grün bemerken konnte, gab es nur wenige Blumen oder Blüten. Sogar die hier und da wachsenden Orchideen sahen blaß und gedämpft aus. Er hatte erwartet, überall Fäulnis und Moder vorzufinden, aber auch das stimmte nicht. Der Boden unter den Füßen fühlte sich oft fest an, und die Luft hatte einen neutralen Geruch. Doch war es unglaublich heiß und feucht, und alles schien naß zu sein - die Blätter, Baumstämme, der Erdboden und sogar die bedrückend regungslose Luft, die unter den Bäumen gleichsam gefangen war.

Elliot hätte sicherlich Stanleys Beschreibung aus dem vergangenen Jahrhundert zugestimmt: »Zu unseren Häupten versperrten die weit ausladenden Zweige allem Tageslicht den Zutritt ... Wir zogen in schwachem Dämmerlicht dahin ... ohne Unterlaß fiel mit klatschendem Geräusch Tau auf uns hernieder ... Unsere Kleidung war damit getränkt... Aus allen Poren drang Schweiß, denn die Luft war erdrückend ... Wie abweisend stellte das dunkle Unbekannte sich uns entgegen!«

Da Elliot sich auf seine erste Begegnung mit dem äquatorialen Urwald gefreut hatte, war er überrascht, wie schnell er sich bedrückt fühlte - und wie schnell er ihn wieder verlassen wollte. Dabei waren in den tropischen Regen wäldern die meisten neuen Lebensformen entstanden, der Mensch eingeschlossen. Der Dschungel ist kein gleichförmiges Biotop. Er besteht vielmehr aus vielen unterschiedlichen Kleinstumgebungen, die wie eine Schichttorte übereinander angeordnet sind. Jede enthält einen bestürzenden Reichtum an tierischem und pflanzlichem Leben, aber alle Arten sind jeweils mit nur wenigen Exemplaren vertreten. Im tropischen Dschungel gab es viermal so viele Tierarten wie in einem vergleichbaren Wald in der gemäßigten Klimazone. Während er durch den Urwald schritt, merkte Elliot, daß er ihm wie ein riesiger, warmer, dunkler Mutterleib erschien; ein Ort, an dem unter immer gleichbleibenden Bedingungen neue Arten gediehen, bis sie in der Lage waren, dem Leben in den härteren und veränderlicheren gemäßigten Zonen zu trotzen. So war es Jahrmillionen hindurch gewesen.

Amys Verhalten änderte sich, kaum daß sie die dunklen Tiefen ihrer eigentlichen Heimat betrat. Im nachhinein meinte Elliot, er hätte ihre Reaktion voraussehen können, wenn er alles gründlich durchdacht hätte.

Amy blieb nicht mehr bei der Gruppe.

Sie machte kleine Ausflüge abseits vom Pfad, hockte sich gelegentlich hin und aß zarte Triebe und Gräser. Sie ließ sich durch nichts zur Eile antreiben und nahm Elliots Aufforderungen, bei den anderen zu bleiben, nicht zur Kenntnis. Sie aß gemütlich, wobei auf ihrem Gesicht ein Ausdruck des Wohlbehagens lag. An Stellen, an denen einzelne Sonnenstrahlen das Blätterdach durchdrangen, legte sie sich auf den Rücken, rülpste und seufzte zufrieden.

»Was zum Teufel hat das zu bedeuten?« fragte Karen Ross ärgerlich. So konnten sie die verlorene Zeit nicht aufholen. »Sie ist wieder ein Gorilla geworden«, sagte Elliot. »Gorillas sind Vegetarier und essen praktisch den ganzen Tag. Immerhin sind es große Tiere, und sie brauchen viel Futter.« Amy hatte sich sofort auf dieses Merkmal ihrer Art zurückbesonnen. »Schön, aber können Sie nicht dafür sorgen, daß sie mit uns Schritt hält?«

»Ich versuche es. Aber sie beachtet mich nicht.« Er wußte auch, warum - Amy war endlich wieder in einer Welt, in der ein Peter Elliot nichts zu bedeuten hatte. Hier konnte sie selbst ihre Nahrung finden, Obdach, Zuflucht und was auch immer sie brauchte.

»Die Schule ist aus«, faßte Munro die Lage zusammen. Aber er wußte zugleich eine Lösung. »Lassen Sie sie nur«, sagte er munter und führte die anderen weiter. Er hielt Elliot fest anxEllbogen. »Drehen Sie sich nicht um«, sagte er. »Einfach weitergehen. Kümmern Sie sich nicht um sie.« Sie gingen einige Minuten schweigend weiter. Elliot fragte: »Und wenn sie nicht kommt?« »Unsinn, Professor«, sagte Munro. »Ich dachte, Sie kennen sich mit Gorillas aus?«

»Ich kenne mich auch aus«, sagte Elliot.

»Dann wissen Sie auch, daß es in diesem Teil des Regenwalds keine gibt.«

Elliot nickte. Er hatte keine Schlafnester oder Kothaufen gesehen. »Aber sie findet hier alles, was sie braucht.« »Nicht alles«, sagte Munro. »Zum Beispiel keine Artgenossen.« Wie alle Herrentiere sind Gorillas gesellig. Sie leben in einer Gruppe und fühlen sich allein nicht wohl - und auch nicht sicher. Die meisten Primatenforscher vermuteten, daß sie ein dringendes Bedürfnis nach gesellschaftlichem Kontakt hatten, das sie ebenso stark empfanden wie Hunger, Durst oder Ermüdung. »Wir sind ihre Herde«, sagte Munro. »Sie paßt schon auf, daß wir uns nicht zu weit von ihr entfernen.«

Einige Minuten später brach Amy etwa fünfzig Meter vor ihnen durch das Unterholz. Sie beobachtete die Gruppe und warf Peter böse Blicke zu.

»Schon gut, Amy«, sagte Munro. »Komm, ich kraule dich.« Amy richtete sich auf und legte sich dann vor ihm auf den Boden. Munro kraulte sie.

»Sehen Sie, Professor? Es ist alles in Ordnung.« Amy entfernte sich nie mehr weit von der Gruppe. Während Elliot mit unguten Gefühlen den Regenwald als die natürliche Heimat »seines« Tiers betrachtete, begutachtete Karen Ross ihn als Quelle von Rohstoffen - allerdings hatte er da nicht allzuviel zu bieten. Sie ließ sich nicht von der üppigen übergroßen Vegetation täuschen, die, wie sie wußte, ein außergewöhnlich wirksames Ökosystem bildete, das auf praktisch unfruchtbarem Boden errichtet war.[ Das Ökosystem der Regenwälder ist ein Energienutzungssystem, das mit weit höherem Wirkungsgrad arbeitet als irgendein vom Menschen entwickeltes System zur Energieumwandlung. Siehe dazu C. H. Higgins u. a., Energy Resources and Ecosystem Utilization (Englewood Cliffs, N. J.: Prentice Hall, 1977), pp. 232-255. ]

Die Entwicklungsländer in der dritten Welt hatten das nicht verstanden und mußten feststellen, daß der Boden, wenn der Urwald gerodet war, nur enttäuschende Erträge brachte. Und doch wurden Regenwälder mit der unglaublichen Quote von zwanzig Hektar in der Minute gerodet, Tag und Nacht. Annähernd sechzig Millionen Jahre lang hatten die Regenwälder der Welt den Äquator in einem grünen Gürtel umspannt - doch der Mensch würde sie binnen zwanzig Jahren gerodet haben. Diese Art der Zerstörung hatte größte Beunruhigung und Bedenken ausgelöst, die Karen Ross jedoch nicht teilte. Sie zweifelte, daß das Weltklima dadurch wesentlich beeinflußt oder der Sauerstoffgehalt der Atmosphäre dadurch gemindert würde. Karen Ross ließ sich nicht so schnell in Panik versetzen und auch nicht so leicht von den Berechnungen der ängstlichen Pessimisten beeindrucken. Wenn sie Unbehagen empfand, so deshalb, weil man so wenig vom Urwald wußte. Bei einer Rodungsgeschwindigkeit von zwanzig Hektar pro Minute starb in jeder Stunde eine Tier- oder Pflanzenart aus. Lebensformen, die zu ihrer Entwicklung Millionen Jahre gebraucht hatten, werden binnen weniger Minuten weggewischt, und niemand konnte die Folgen dieser mit unglaublicher Geschwindigkeit erfolgenden Zerstörung voraussagen. Die Ausrottung von Arten ging schneller vonstatten, als irgend jemandem wirklich klar war, und die veröffentlichten Listen »gefährdeter« Arten verrieten nur einen Bruchteil der Wahrheit.

Das Übel reichte bis hinab zu den niedrigsten Lebensformen: Insekten, Würmern und Moosen.

In Wahrheit zerstörte der Mensch bedenkenlos und ohne zurückzublicken ganze Ökosysteme. Und diese Ökosysteme waren zum größten Teil voller Geheimnisse, kaum erforscht. Karen Ross fühlte sich in eine Welt versetzt, die gänzlich anders war als die erforschbare Welt mineralischer Rohstoffe. In dieser Umgebung herrschte das pflanzliche Leben vor. Kein Wunder, dachte sie, daß die Ägypter dieses Gebiet das »Baumland« nannten. Der Regenwald bildete für pflanzliches Leben ein Treibhausklima, eine Umgebung, in der Riesenpflanzen dominierten und begünstigter waren als Säuger, auch als die zwar hochentwickelten, aber dennoch unbedeutenden Säuger der Gattung Mensch, die sich jetzt ihren Weg durch die immerwährende Finsternis des Urwalds bahnten.

Die Kikuyu-Träger hatten ihre besondere Art, auf den Wald zu reagieren: Sie fingen an zu lachen, zu scherzen und so viel Lärm wie möglich zu machen. Karen Ross sagte zu Kahega: »Die sind aber lustig.«

»Nein, nein«, sagte Kahega. »Sie warnen.« »Warnen?«

Kahega erklärte, daß die Männer Lärm machten, um Büffel und Leoparden von sich fernzuhalten. »Und den tembo«, fügte er hinzu und deutete auf den Pfad, den sie gerade entlangzogen.

»Ist das ein tembo-Weg?« fragte sie. Kahega nickte. »Leben tembo in der Nähe?«

Kahega lachte: »Hoffentlich nicht, tembo ist Elefant.« »Dann ist dies also ein Wildpfad. Werden wir Elefanten sehen?« »Vielleicht. Vielleicht auch nicht«, sagte Kahega. »Ich hoffe nicht. Elefanten sind sehr groß.«

Gegen diese Erklärung war nichts einzuwenden. Karen Ross sagte: »Ich höre, die Männer sind deine Brüder.« Sie deutete mit einer Kopfbewegung auf die Reihe der Träger.

»Ja, es sind meine Brüder.« »Aha.«

»Sie meinen, daß sie und ich dieselbe Mutter haben?«

»Ja, selbstverständlich.«

»Nein«, sagte Kahega, »so ist das nicht.«

Karen Ross war verwirrt. »Ihr seid also keine wirklichen Brüder?«

»Doch, wir sind wirkliche Brüder. Aber wir haben nicht dieselbe Mutter.«

»Und wieso seid ihr dann Brüder?« »Weil wir im selben Dorf leben.«

»Mit euren Eltern?«

Kahega schien entsetzt. »Nein«, sagte er mit Betonung. »Nicht im selben Dorf.«

»Also in einem anderen?«

»Ja, natürlich - wir sind doch Kikuyu.« Und er erklärte ihr, daß bei den Kikuyu alle jungen Männer, alle »Brüder«, beim Eintritt in die Pubertät das Dorf ihrer Eltern verließen und in ein neues Dorf zogen, wo sie dann heirateten und ihrerseits Kinder aufzogen.

Er bot ihr an, die elektronischen Geräte zu tragen, die sie sich umgehängt hatte. Doch sie lehnte diese Hilfe ab. Sie mußte im Laufe des Tages immer wieder versuchen, mit Houston Verbindung aufzunehmen, und gegen Mittag fand sie tatsächlich eine Lücke, wahrscheinlich, weil der für die Störungen zuständige Operator des Konsortiums gerade Mittagspause machte. Sie kam durch und setzte eine neue Zeit- und Positionsangabe ab. Auf dem Bildschirm konnte sie lesen: UEBBPRUBPN ORTSZT -10:03 H.

Sie hatten seit der letzten Überprüfung am Vorabend fast eine Stunde verloren. »Wir müssen schneller vorwärts kommen«, sagte sie Munro.

»Wollen Sie joggen?« fragte Munro mit einem spöttischen Lächeln. »Ist auf jeden Fall sehr gesund.« Dann fügte er begütigend hinzu: »Zwischen hier und den Virunga-Vulkanen kann noch eine Menge passieren.«

Sie hörten fernes Donnergrollen, und Minuten später waren sie von einem sturzflutartigen Regen durchnäßt. Die Tropfen waren so schwer und dicht, daß sie ihnen Schmerz bereiteten. Es regnete die ganze folgende Stunde hindurch. Dann hörte der Regen ebenso plötzlich wieder auf, wie er begonnen hatte. Sie waren alle klatschnaß und fühlten sich elend, und als Munro in einer Lichtung eine Essenspause einlegen ließ, protestierte Karen Ross nicht.

Amy machte sich sogleich im Urwald auf Futtersuche. Die Träger bereiteten sich eine Mahlzeit aus Curryfleisch und Reis, während Munro, Karen Ross und Elliot mit Zigaretten die Zecken von ihren Beinen wegbrannten, die sich voller Blut gesogen hatten. »Ich habe sie nicht einmal bemerkt«, sagte Karen Ross. »Bei Regen sind sie noch schlimmer als sonst«, sagte Munro. Dann blickte er rasch auf und ließ seine Augen suchend über den Urwald gleiten. »Ist etwas nicht in Ordnung?«

»Nein, es ist nichts«, sagte Munro und erklärte ausführlich, warum man die Zecken wegbrennen muß. Wenn man sie herauszog, blieb ein Teil des Kopfes im Fleisch zurück und führte zu einer Infektion.

Kahega brachte etwas zu essen, und Munro sagte leise: »Ist bei den Männern alles in Ordnung?«

»Ja«, sagte Kahega. »Alles in Ordnung. Sie haben keine Angst.« »Angst wovor?« fragte Elliot.

»Essen Sie weiter, geben Sie sich ganz natürlich«, sagte Munro. Elliot sah sich nervös um.

»Weiteressen!« sagte Munro. »Beleidigen Sie sie nicht. Sie dürfen sich nicht anmerken lassen, daß Sie von ihrer Gegenwart wissen.« Die Gruppe aß schweigend weiter. Dann raschelte es ganz in der Nähe, und ein Pygmäe trat aus dem Wald heraus.

2. Tänzer der Gottheit

Er war hellhäutig, etwa anderthalb Meter groß, mit vorgewölbter Brust. Er trug nur einen Lendenschurz. Seinen Jagdbogen und seinen Pfeilköcher hatte er über die Schulter gehängt. Er betrachtete die Mitglieder der Expedition. Offensichtlich wollte er herausfinden, wer der Führer war.

Munro stand auf und sagte rasch etwas in einer fremden Sprache - Swahili war es nicht. Der Pygmäe antwortete. Munro bot ihm eine von den Zigaretten an, mit denen sie die Zecken ausgebrannt hatten. Der Pygmäe wollte sie sich nicht anstecken; er tat sie in ein Lederbeutelchen, das er am Körper trug. Es folgte eine kurze Unterhaltung, in deren Verlauf er mehrfach in den Dschungel deutete.

»Er sagt, in ihrem Dorf sei ein toter Weißer«, sagte Munro. Er nahm seine Last auf, die auch ein Erste-Hilfe-Päckchen enthielt. »Ich muß mich beeilen.«

Karen Ross sagte: »Wir können uns den Zeitverlust nicht leisten.«

Munro sah sie mit einem zornigen Blick an. »Wieso, wenn er doch tot ist«, sagte sie.

»Er ist nicht ganz tot«, sagte Munro. »Er ist nicht >tot für immer<.«

Der Pygmäe nickte heftig. Munro erklärte ihr, wie die Pygmäen verschiedene Krankheitsgrade bezeichneten. Zuerst war ein Mensch heiß, dann fiebrig, dann krank, dann tot, dann ganz tot -und schließlich tot für immer.

Jetzt traten drei weitere Pygmäen aus dem Wald. Munro nickte. »Ich dachte mir schon, daß er nicht allein ist«, sagte er. »Diese Kerle sind nie allein. Sie ziehen nicht gern allein umher. Die anderen haben uns beobachtet. Eine falsche Bewegung, und wir hätten einen Pfeil in den Rippen gehabt. Sehen Sie die braunen Spitzen da? Vergiftet.«

Doch die Pygmäen wirkten jetzt gelöst und heiter, bis Amy durch das Unterholz zurückgestürmt kam. Rufe ertönten und Bogen wurden gespannt. Amy rannte angstvoll zu Peter Elliot hin, sprang an ihm hoch und umklammerte seine Brust, wobei sie ihn von oben bis unten mit Schlamm beschmierte.

Die Pygmäen begannen eine lebhafte Unterhaltung. Sie wollten wissen, was Amys Ankunft zu bedeuten hatte, und bestürmten Munro mit Fragen. Schließlich setzte Elliot Amy wieder ab und fragte Munro: »Was haben Sie ihnen gesagt?«

»Sie wollten wissen, ob das Ihr Gorilla ist, und ich habe ja gesagt. Dann fragten sie, ob es ein Weibchen ist, und ich habe ja gesagt, und zum Schluß wollten sie wissen, ob Sie Beziehungen mit ihr haben, und ich habe nein gesagt. Sie sagen, das sei gut, Sie sollten sich nicht zu eng an den Gorilla anschließen, denn das bereite Ihnen Schmerz.« »Wieso das?«

»Sie sagen, daß ein Gorilla, wenn er älter wird, entweder in den Urwald verschwindet und Ihnen das Herz bricht oder Sie umbringt.«

Karen Ross war immer noch gegen den Umweg zum Pygmäendorf, das einige Kilometer entfernt am Ufer des Liko lag. »Wir sind hinter unserer Zeitprojektion zurück«, sagte sie, »und verlieren jeden Augenblick mehr Zeit.«

Munro wurde heftig. »Hören Sie zu, Doktor«, sagte er. »Wir sind hier nicht in Houston, sondern mitten im gottverdammten, Urwald. Jede Verletzung muß man hier ernst nehmen. Wir haben Medikamente - vielleicht braucht der Mann sie. Man läßt nicht einfach einen Menschen im Stich. Das gehört sich nicht.«

»Wenn wir zu dem Dorf gehen«, sagte Karen Ross, »kostet uns das den Rest des Tages und wir fallen noch einmal neun oder zehn Stunden zurück. Jetzt könnten wir es gerade noch schaffen. Bei einer weiteren Verzögerung haben wir keine Chance mehr.«

Einer der Pygmäen sprach rasch auf Munro ein. Er nickte und sah mehrmals zu Karen Ross hinüber. Dann wandte er sich den anderen zu.

»Er sagt, daß der kranke Weiße ein Zeichen auf der Brusttasche seines Hemds hat, Er will es uns zeigen.« Karen Ross blickte seufzend auf ihre Uhr.

Der Pygmäe nahm einen Stock und zeichnete große Buchstaben in den schlammigen Boden zu ihren Füßen. Er gab sich große Mühe und konzentrierte sich mit angestrengtem Blick auf die ihm fremden Schriftzeichen: ERTS. »Gott im Himmel«, sagte Karen Ross leise.

Die Pygmäen gingen nicht durch den Urwald - sie liefen in einem leichten Trab, schlüpften durch Gerank und Geäst und wichen Pfützen und knorrigen Baumwurzeln aus, so behende, daß es ganz einfach wirkte. Gelegentlich blickten sie zurück und lachten leise über die Schwierigkeiten, die es den drei Weißen machte, ihnen zu folgen.

Elliot fiel der Weg am schwersten. Er stolperte über Baumwurzeln, Zweige schlugen ihm an den Kopf, dornige Ranken rissen seine Haut in Fetzen. Keuchend versuchte er, mit den kleinen Männern Schritt zu halten, die mühelos vor ihm herhuschten. Karen Ross ging es nicht viel besser als ihm, und selbst Munro, der erstaunlich schnell und agil war, zeigte Zeichen von Ermüdung.

Schließlich kamen sie an einen Bach, und vor ihnen tat sich eine sonnenbeschienene Lichtung auf. Die Pygmäen hockten sich zur Rast auf Felsen und wandten ihre Gesichter der Sonne zu. Die Weißen ließen sich keuchend und ächzend zu Boden fallen. Die Pygmäen schien das zu erheitern, doch ihr Gelächter wirkte nicht verletzend.

Die ersten Menschen, die den Regenwald am Kongo bewohnten, waren Pygmäen. Wegen ihrer geringen Körpergröße, ihres unverkennbaren Wesens und ihrer unglaublichen Behendigkeit war ihre Existenz schon sehr lange weithin bekannt. Vor mehr als viertausend Jahren war ein ägyptischer Heerführer namens Herkouf in den großen Urwald westlich der Mondberge eingedrungen. Dort hatte er eine Rasse kleiner Männer vorgefunden, die zu Ehren ihrer Gottheit tanzten und sangen. Herkoufs erstaunliche Beschreibung erschien glaubwürdig, und sowohl Herodot als auch später Aristoteles beharrten darauf, daß Berichte von den kleinen Menschen nicht ins Reich der Fabeln gehörten. Doch unvermeidlich rankten sich im Verlauf der Jahrhunderte Mythen um diese Tänzer der Gottheit.

Noch im 17. Jahrhundert zweifelte man in Europa, ob es tatsächlich kleine Männer mit Schwänzen gab, die durch die Bäume fliegen, sich unsichtbar machen und Elefanten töten kennten. Die Verwirrung wurde dadurch vergrößert, daß man gelegentlich Schimpansenskelette mit denen von Pygmäen verwechselte. Colin Turnbull hat angemerkt, daß viele Bestandteile der Legende der Wahrheit entsprechen: der herab hängende Lendenschurz aus weichgeklopfter Baumrinde sieht tatsächlich wie ein Schwanz aus, die Pygmäen können sich ihrer Umgebung im Wald derart anpassen, daß sie nicht mehr sichtbar sind, und sie haben schon in früheren Zeiten durchaus erfolgreich Elefanten gejagt. Die Pygmäen lachten, als sie wieder aufstanden und davontrabten. Die Weißen erhoben sich unter großem Gestöhn und stolperten hinter ihnen her. Die Pygmäen liefen eine weitere halbe Stunde ohne Pause und ohne ihr Tempo zu verlangsamen. Dann roch Elliot Rauch, und sie gelangten auf eine Lichtung an einem Bach, in der das Dorf lag.

Er zählte zehn in einem Halbkreis angeordnete niedrige Rundhütten, höchstens ein Meter zwanzig hoch. Alle Dorfbewohner waren an diesem Nachmittag vor den Hütten. Die Frauen putzten Pilze und Beeren, die sie offenbar am Tage gesammelt hatten, oder brieten über knisterndem Feuer Ferkel und Schildkröten. Kleine Kinder tollten umher und belästigten die Männer vor ihren Hütten, die pfeiferauchend den Frauen bei der Arbeit zusahen. Auf Munros Zeichen hin warteten sie am Rand der Siedlung, bis man sie bemerkt hatte und hineinführte. Ihre Ankunft rief großes Aufsehen hervor, die Kinder wiesen kichernd mit den Fingern auf sie, die Männer wollten von Munro und Elliot Tabak haben, und die Frauen berührten Karen Ross' blondes Haar und äußerten sich laut darüber. Ein kleines Mädchen kroch ihr zwischen die Hosenbeine und sah prüfend nach oben. Munro erklärte, die Frauen seien sich nicht einig darüber, ob Karen Ross ihr Haar färbe, und das kleine Mädchen habe sich bereit erklärt, das herauszubekommen.

»Sagen Sie ihnen, die Farbe ist natürlich«, sagte Karen Ross und errötete.

Munro sprach kurz mit den Frauen. »Ich habe ihnen gesagt, daß ihr Vafer dieselbe Haarfarbe hatte«, sagte er dann zu ihr. »Ich bin mir aber nicht sicher, ob sie es auch glauben.« Er gab Elliot Zigaretten zum Verteilen, für jeden Mann eine. Sie wurden mit breitem Lächeln und mädchenhaftem Gekicher entgegengenommen.

Nachdem die einleitenden Formalitäten abgeschlossen waren, führte man sie zu einer neuerbauten Hütte am äußersten Rand des Dorfs, wo der »tote« Weiße sich aufhalten sollte. Sie fanden einen vor Schmutz starrenden bärtigen Mann um die Dreißig vor, der mit untergeschlagenen Beinen im niedrigen Eingang der Hütte saß und ins Licht stierte. Elliot merkte bald, daß er sich im Zustand der Katatonie befand - er rührte und regte sich nicht.

»Ach, du großer Gott«, sagte Karen Ross. »Das ist Bob Driscoll.« »Kennen Sie ihn?« fragte Munro.

»Er war der Geologe bei unserer ersten KongoExpedition.« Sie beugte sich dicht über ihn und bewegte ihre Hand vor seinem Gesicht hin und her. »Bobby, ich bin es, Karen. Was ist mit Ihnen?«

Driscoll reagierte nicht, zuckte nicht einmal mit den Wimpern. Er sah einfach geradeaus vor sich hin.

Einer der Pygmäen bot Munro eine Erklärung dafür an. Munro übersetzte: »Er ist vor vier Tagen in ihr Lager gekommen. Er war so wild, daß sie ihn bändigen mußten. Sie glaubten, es läge am Schwarzwasserfieber, also haben sie ihm eine Hütte gebaut und etwas Medizin gegeben. Daraufhin hat er sich beruhigt. Jetzt läßt er zwar zu, daß sie ihm zu essen geben, aber er sagt kein Wort. Sie glauben, daß General Mugurus Männer ihn vielleicht gefangengenommen und gefoltert haben - oder daß er agudu ist, stumm.« Karen Ross wich entsetzt zurück. »Gott im Himmel«, sagte sie. »Ich wüßte nicht, was wir für ihn tun könnten«, sagte Munro. »In dem Zustand, in dem er sich befindet. Körperlich scheint ihm nichts zu fehlen, aber sonst ... « Er schüttelte den Kopf.

»Ich gebe einen Bericht nach Houston durch«, sagte Karen Ross.

»Die können dann von Kinshasa aus Hilfe schicken.«

Driscoll hatte die ganze Zeit über apathisch dagesessen. Doch als Elliot sich vorbeugte, um sich seine Augen anzusehen und ihm dabei näher kam, rümpfte Driscoll die Nase. Sein Körper spannte sich an. Aus seinem Mund drang ein dumpfer Klagelaut -»Ah-ah-ah-ah« - als werde er gleich laut aufschreien.

Erschreckt trat Elliot einen Schritt zurück. Driscoll beruhigte sich, verfiel wieder in sein Schweigen.

»Was zum Teufel hatte das zu bedeuten?« sagte Elliot.

Einer der Pygmäen flüsterte Munro etwas zu. »Er sagt«, erklärte Munro, »Sie riechen nach Gorilla.«

3. Ragora

Zwei Stunden später fanden sie, von einem Pygmäen durch den Regenwald südlich von Gabutu geführt, Kahega und die anderen wieder. Aber sie waren alle drei verdrießlich und wortkarg - sie hatten Durchfall.

Die Pygmäen hatten darauf bestanden, daß sie zu einem vorverlegten Abendessen blieben, und Munro hatte keine Möglichkeit gesehen, die Einladung abzuschlagen. Das Mahl bestand in der Hauptsache aus kleinen wildwachsenden Kartoffeln, die kitsombe genannt wurden und wie verschrumpelter Spargel aussahen, aus im Wald wachsenden Zwiebeln, die sie als otsa bezeichneten, und aus modoke, Blättern von wildem Maniok, sowie verschiedenen Arten von Pilzen. Dazu gab es kleine Portionen säuerlich schmeckendes, zähes Schildkrötenfleisch und ein paar Heuschrecken, Raupen, Würmer, Frösche und Schnecken. Zwar enthielt diese Nahrung dem Gewicht nach doppelt so viel Eiweiß wie Beefsteak, aber sie bekam den an sie nicht gewöhnten Mägen nicht besonders. Und die Neuigkeiten, die sie am Lagerfeuer hörten, waren auch nicht dazu angetan, ihre Laune zu verbessern.

Den Berichten der Pygmäen zufolge hatten General Mugurus Leute ein Nachschublager am Steilabhang von Makran eingerichtet - genau dort, wohin Munro wollte. Es schien ein Gebot der Klugheit, den Soldaten auszuweichen. Munro erklärte, das Swahili habe kein Wort für Ritterlichkeit oder sportsmännischen Geist, und das gelte auch für die im Kongo gesprochene Variante, Lingala. »In diesem Teil der Welt heißt es: >Fressen oder gefressen werden.< Da halten wir uns am besten heraus.« Die einzige mögliche Ausweichroute führte sie nach Westen, zu einem Fluß, der Ragora hieß. Munro studierte mit gerunzelter Stirn seine Karte, während Karen Ross, ebenfalls mit gerunzelter Stirn, auf ihre ComputerKonsole sah. »Was ist denn los mit dem Ragora?« wollte Elliot wissen. »Vielleicht ist ja alles in Ordnung«, sagte Munro. »Es kommt darauf an, wie stark es letzthin geregnet hat.« Karen Ross sah auf ihre Uhr. »Wir sind jetzt zwölf Stunden hinter unserem Zeitplan zurück«, sagte sie. »Das einzige, was wir tun können, ist, die ganze Nacht hindurch den Fluß hinunterzufahren.«

»Das würde ich sowieso tun«, erklärte Munro. Karen Ross hatte noch nie gehört, daß ein Führer eine Expedition bei Nacht durch die Wildnis führte. »Und warum?« »Darum«, sagte Munro. »Weil die Hindernisse am Unterlauf nachts sehr viel leichter zu überwinden sein werden.« »Was für Hindernisse?« »Darüber reden wir, wenn es soweit ist«, sagte Munro.

Knapp zwei Kilometer vom Ragora entfernt hörten sie bereits das dumpfe Brausen des Wassers. Amy war sofort ängstlich. Sie machte immer wieder Zeichen, wollte wissen: Was Wasser? Elliot versuchte sie zu beruhigen, aber viel konnte er nicht machen -Amy mußte sich mit dem Fluß abfinden, trotz ihrer Angst. Als sie schließlich das Ufer erreichten, merkten sie, daß das Rauschen von den weiter flußabwärts gelegenen Strom schnell en kam. Unmittelbar vor ihnen war der schlammbraune Ragora nur fünfzehn Meter breit und floß ruhig dahin.

»Sieht ja gar nicht so schlimm aus«, sagte Elliot. »Nein«, bestätigte Munro, »sieht ganz gut aus.« Aber er kannte den Kongo. Der viertgrößte Fluß der Welt nach dem Nil, dem Amazonas und dem Jangtsekiang ist in mancherlei Hinsicht einzigartig. Wie eine Riesenschlange wand er sich quer durch den Kontinent und kreuzte dabei zweimal den Äquator -beim erstenmal nordwärts, auf Kisangani zu, dann wieder bei Mbandaka nach Süden. Das war so bemerkenswert, daß noch vor hundert Jahren Geographen es nicht glauben mochten. Da nun der Kongo nördlich und südlich des Äquators floß, gab es irgendwo an seinem Lauf immer eine Regenzeit, und so war er nicht den jahreszeitlichen Schwankungen der Wasserführung unterworfen, die für Flüsse wie den Nil so charakteristisch waren. Der Kongo ergoß sich mit einer stets gleichbleibenden Wassermenge von gut zweiundvierzigtausend Kubikmeter pro Sekunde in den Atlantik. Der einzige Fluß der Welt, der an der Mündung eine vergleichbare Wassermenge führte, war der Amazonas. Wegen seines gewundenen Laufs war der Kongo allerdings auch von allen großen Flüssen der Erde am wenigsten schiffbar. Ernsthafte Schwierigkeiten für die Schiffahrt begannen bereits an den Stromschnellen von Stanley Pool, knapp fünfhundert Kilometer vom Atlantik entfernt. Dreitausend Kilometer weiter versperren bei Kisangani, wo der Fluß immerhin noch gut eineinhalb Kilometer breit war, die Wagenia-Wasserfälle der Schiffahrt endgültig den Weg. Je weiter man an den Einmündungen der Nebenflüsse vorbei flußaufwärts gelangte, desto größer wurden die Schwierigkeiten, denn oberhalb von Kisangani ergossen sich diese Nebenflüsse ungestüm abwärts in den tiefer liegenden Dschungel - sie kamen von der im Süden gelegenen Hochlandsavanne und von den östlich liegenden schneebedeckten Fünftausendern des Ru-wenzori-Massivs.

Das Bett dieser Flüsse folgte tief eingekerbten Schluchten, deren bemerkenswerteste die »Portes d'Enfer« - das Höllentor - bei Kongolo war. Hier stürzte sich der sonst friedliche Lualaba durch eine achthundert Meter tiefe und nur hundert Meter breite Schlucht.

Der Ragora war ein kleiner Nebenfluß des Lualaba, in den er in der Nähe von Kisangani mündete. Die Stämme, die an seinen Ufern lebten, nannten ihn baratawani, »die trügerische Straße«, denn er war dafür bekannt, daß er sich ständig änderte. Sein Hauptmerkmal war die Ragora-Schlucht, sechzig Meter tief in Kalkstein geschnitten und stellenweise lediglich drei Meter breit. Je nach den letzten Regenfällen war diese Schlucht entweder ein freundliches Naturschauspiel oder ein Alpdruck aus weiß siedender Gischt.

Bei Abutu befanden sie sich noch gut zwanzig Kilometer flußaufwärts von dieser Schlucht, und aus der Beschaffenheit des Flusses ließen sich keine Schlüsse daraus ziehen, wie es an der Schlucht aussah. All das war Munro bekannt, aber es erschien ihm nicht erforderlich, Elliot aufzuklären, der gerade jetzt mit Amy vollauf beschäftigt war.

Amy hatte mit wachsender Unruhe zugesehen, wie Kahegas Männer die beiden Schlauchboote aufpumpten. Sie zupfte Elliot am Ärmel und wollte wissen: Was Ballons? »Es sind Boote, Amy«, sagte er, obwohl er vermutete, daß sie sich das bereits selbst gedacht hatte und nur versuchte, die Lage zu beschönigen. Das Wort »Boot« hatte sie nur unter Schwierigkeiten gelernt, denn sie verabscheute Wasser und wollte auch nichts mit Dingen zu tun haben, die dazu bestimmt waren, auf ihm zu fahren. Warum Boot? fragte sie. »Wir fahren jetzt Boot«, sagte Elliot.

Tatsächlich waren Kahegas Männer gerade dabei, die Boote ans Wasser zu schieben, die Ausrüstung auf ihnen zu verstauen und sie an den Aussteifungen in der Nähe des Dollbords zu verzurren. Wer fahren? fragte sie. »Wir fahren alle«, sagte Elliot.

Amy sah noch einen Augenblick zu. Unglücklicherweise waren alle nervös, Munro brüllte Befehle, die Männer arbeiteten in Eile. Wie sie schon oft gezeigt hatte, war Amy empfänglich für die Stimmungen von Menschen um sie herum. Elliot mußte immer daran denken, wie sie tagelang erklärt hatte, mit Sarah Johnson stimmte etwas nicht, und dann hatte Sarah schließlich den Mitgliedern der Projektgruppe eröffnet, sie habe sich von ihrem Mann getrennt. Elliot war sicher, daß Amy ihrer aller Bedenken spürte. Wasser im Boot kreuzen? fragte sie. »Nein, Amy«, sagte er. »Nicht kreuzen. Boot fahren.« Nein, erklärte sie, setzte sich steif hin und zog die Schultern eng zusammen.

»Amy«, sagte er, »wir können dich nicht einfach hierlassen.« Dafür wußte sie eine Lösung. Andere Leute gehen. Peter Amy bleiben.

»Es tut mir leid, Amy«, sagte er. »Ich muß mit, und du auch.« Nein, bedeutete sie ihm Amy nicht gehen. »Doch, Amy.« Er holte aus seinem Gepäck die Spritze und eine Ampulle Thoralen.

Amy machte sich steif und war sichtlich zornig. Sie schlug sich mit der geballten Faust unter das Kinn. »Laß das, Amy«, warnte er sie.

Karen Ross kam mit den hellorange leuchtenden Schwimmwesten für ihn und Amy. »Etwas nicht in Ordnung?« »Sie flucht«, sagte Elliot. »Lassen Sie uns besser allein.« Karen Ross warf einen Blick auf Amys angespannten Körper. Amy machte das Zeichen für Peters Namen und schlug sich dann wieder mit der Faust unter das Kinn. Dieses Zeichen wurde in wissenschaftlichen Berichten freundlich als »vulgär« wiedergegeben, obwohl Affen es meist dann verwandten, wenn sie ihr Geschäft verrichten mußten. Die Primatenforscher gaben sich keinen Täuschungen darüber hin, was die Tiere wirklich damit meinten. Amy sagte: Peter Scheiße.

Nahezu alle sprachfähigen Primaten schimpften, und sie verwandten dazu eine Vielzahl von Wörtern. Manchmal 'schien das Schimpfwort willkürlich gewählt - so zum Beispiel »Vogel«, »Nuß« oder »Dreck«. Doch hatten mindestens acht Primaten in verschiedenen Labors unabhängig voneinander die geballte Faust als Zeichen äußersten Widerwillens benutzt. Der einzige Grund dafür, daß diese bemerkenswerte Übereineinstimmung noch nicht in die Fachliteratur eingegangen war, lag darin, daß keiner der Forscher es darauf ankommen lassen wollte. Es hatte den Anschein, daß Menschenaffen, wie auch die Menschen, die Exkremente des Körpers für ungeeignet hielten, Wut und Verachtung auszudrücken.

Peter Scheiße, gab sie ihm wieder zu verstehen. »Amy ...« Er zog eine doppelte Dosis Thoralen auf. Peter Scheiße Boot Scheiße Menschen Scheiße. »Amy, hör sofort auf.« Er machte seinen eigenen Körper steif und beugte sich vor, ahmte die Wuthaltung eines Gorillas nach. Dadurch ließ Amy sich oft zum Rückzug bewegen. Doch diesmal half es nichts.

Peter Amy nicht mögen. Jetzt schmollte sie, wandte sich von ihm ab und machte ihre Zeichen ins Blaue hinein. »Sei nicht albern«, sagte Elliot und näherte sich ihr mit der Spritze in der Hand. »Peter Amy mögen.« Sie wich zurück und ließ ihn nicht an sich heran, so daß er sich gezwungen sah, das Narkosegewehr zu laden und ihr einen Betäubungspfeil in die Brust zu schießen; was er in all den Jahren, die sie gemeinsam verbracht hatten, erst drei- oder viermal getan hatte. Sie zog den Pfeil mit traurigem Gesichtsausdruck heraus. Peter Amy nicht mögen.

»Tut mir leid«, sagte Peter Elliot und eilte auf sie zu, denn ihre Augen verdrehten sich nach oben, und er konnte sie gerade noch in seinen Armen auffangen.

Amy lag flach atmend auf dem Rücken, im zweiten Boot, Elliot zu Füßen. Voraus sah Elliot Munro, der im ersten Boot stand und den Weg wies, während das Wasser sie geräuschlos talwärts trug. Munro hatte die zwölf Angehörigen der Expedition auf zwei Boote verteilt. Er selbst hatte das erste Boot bestiegen und im zweiten Elliot, Karen Ross und Amy unter Kahegas Befehlsgewalt gestellt. Wie Munro sich ausdrückte, sollte das zweite Boot »aus unseren Mißgeschicken lernen.«

Doch in den beiden ersten Stunden gab es auf dem Ragora keine Mißgeschicke. Es war außerordentlich friedlich, im Bug des Boots zu sitzen und zuzusehen, wie der Urwald an beiden Ufern in zeitlosem Schweigen an ihnen vorbeiglitt -es war eine geradezu hypnotisierende Stimmung.

Allerdings war die Idylle heiß, so daß Karen Ross die Hand über den Rand ins schlammige Wasser hängen ließ, bis Kahega ihr das verwehrte. »Wo Wasser ist, ist auch immer mamba«, sagte er. Kahega wies auf die Schlammbänke, auf denen sich Krokodile in der Sonne rekelten, die von ihrem Näherkommen keinerlei Notiz zu nehmen schienen. Gelegentlich gähnte eines der riesigen Reptile und streckte dabei gezackte Kiefer in die Luft, doch meistens schienen sie einfach nur träge dazuliegen und sich um nichts zu kümmern.

Elliot war insgeheim enttäuscht. In den Dschungelfilmen, die er gesehen hatte, glitten die Krokodile jedesmal bedrohlich ins Wasser, sobald sich die Bugspitze eines Boots zeigte. »Wollen sie uns nichts tun?« fragte er.

»Zu heiß«, sagte Kahega. »Mamba schläfrig, außer wenn es kühl ist - frißt morgens und nachts, nicht jetzt. Die Kikuyu sagen, tagsüber ist mamba bei der Armee, eins-zwei-drei-vier.« Und er lachte.

Es dauerte eine Weile, bis aus den Erklärungen deutlich wurde, daß Kahegas Stammesgenossen aufgefallen war, wie die Krokodile tagsüber Liegestütze machten, das heißt, ihre schweren Leiber auf ihren Stummelbeinen mit einer Bewegung vom Boden hoben, die Kahega an Übungen zur Körperertüchtigung denken ließ, wie sie bei der Armee an der Tagesordnung waren. »Weshalb macht sich Munro nur solche Sorgen?« fragte Elliot. »Wegen der Krokodile?« »Nein«, sagte Kahega. »Wegen der Ragora-Schlucht?« »Nein«, sagte Kahega. »Weswegen dann?« ' »Nach der Schlucht«, sagte Kahega.

Jetzt begann der Ragora sich zu winden, und als sie um eine Flußbiegung kamen, hörten sie ein sich stetig steigerndes Donnern. Elliot meinte zu spüren, wie das Boot immer schneller wurde und wie das Wasser an den seitlichen Gummiwülsten entlangschoß. Kahega rief laut: »Festhalten!« Dann waren sie in der Schlucht.

Später hatte Elliot nur bruchstückhafte, kaleidoskopartige Erinnerungen: das aufgewühlte, schlammige Wasser, das im Licht der Sonne weiß schäumte, die unkontrollierten, ruckartigen Bewegungen des Boots, Munros Boot, das vor ihnen auf den Wellen tanzte und zu kentern schien, es aber wunderbarerweise nicht tat. Die Fahrt ging jetzt so rasch, daß es schwerfiel, den Blick auf bestimmte Stellen an den vorbeischießenden roten Wänden der Schlucht zu heften. Sie bestanden aus nacktem Fels, von gelegentlichen, sich mühevoll haltenden kleinen Büschen abgesehen. Das erschreckend kalte, schlammige Wasser, das immer wieder über ihnen zusammenschlug, bildete einen scharfen Kontrast zu der heißen, feuchten Luft, und um die schwarzen, aus dem Wasser herausragenden Felsen sprühte die weiße Gischt, so daß sie aussahen wie kahle Schädel ertrunkener Männer. Alles geschah viel zu rasch.

Sie verloren Munros Boot oft minutenlang aus den Augen, wenn riesige Wellen schlammigen Wassers, die an ihm emporleckten, es ihren Blicken entzogen. Das Dröhnen hallte mit sich steigernder Lautstärke von den Felswänden zurück, es wurde Teil ihrer Welt, wo in den Tiefen der Schlucht, in denen die Nachmittagssonne den schmalen Streifen dunklen Wassers nicht mehr erreichte, die Boote durch eine brodelnde Hölle eilten, von Felswänden abprallten, sich um sich selbst drehten, während die Bootsführer brüllten, fluchten und sie mit Paddeln von den Felswänden zurückstießen.

Amy lag auf dem Rücken. Sie war noch immer an einer der Seitenversteifungen festgebunden, und Elliot fürchtete ständig, die Schlammwogen, die über den Dollbord hereinprasselten, würden sie ertränken. Allerdings ging es Karen Ross kaum besser. Mit leiser eintöniger Stimme sagte sie immer wieder: »O mein Gott, o mein Gott, o mein Gott«, während das Wasser in unaufhörlichen Wellen auf sie niederstürzte und sie bis auf die Haut durchnäßte.

Die Natur hielt noch weitere Unbilden für sie bereit. Selbst hier, im brodelnden, dröhnenden Innersten der Schlucht hingen Moskitos in schwarzen Trauben in der Luft und stachen gnadenlos auf sie ein. Es schien unmöglich: inmitten des dröhnenden Chaos der Ragora-Schlucht konnte es keine Moskitos geben - aber sie waren da. Die Boote tobten mit heftigen, zermürbenden Bewegungen durch die stehenden Wellen, und in der zunehmenden Dunkelheit schöpften die Insassen mit der gleichen Verbissenheit, mit der sie nach den Moskitos schlugen, das Wasser aus. Und dann plötzlich weitete sich der Fluß, die Strömung des schmutzigen Wassers verlangsamte sich, und die Wände der Schlucht strebten auseinander. Der Fluß war wieder friedlich. Elliot ließ sich ins Boot zurückgleiten, spürte die Strahlen der mit verminderter Kraft scheinenden Sonne in seinem Gesicht und hörte das Wasser am Boot entlangplätschern. »Wir haben es geschafft«, sagte er.

»Erst einmal«, sagte Kahega. »Wir Kikuyu sagen, daß im Leben keiner mit dem Leben davonkommt. Jetzt nicht nachlassen!« »Irgendwie«, sagte'Karen Ross matt, »glaube ich ihm.«

Sie trieben eine weitere Stunde lang sachte flußabwärts, und die Felswände zu beiden Seiten wichen noch weiter zurück, bis sie schließlich wieder im ebenen afrikanischen Regenwald waren. Es schien, als hätte es die Ragora-Schlucht nie gegeben. Der Fluß war breit und lag träge im goldenen Schein der untergehenden Sonne. Elliot streifte sein durchnäßtes Hemd ab und zog sich einen Pullover an. Die Abendluft war kühl. Zu seinen Füßen schnarchte Amy; er hatte sie mit einem Handtuch zugedeckt, damit es ihr nicht zu kalt wurde. Karen Ross überprüfte ihre Sendeanlage, und als sie feststellte, daß alles in Ordnung war, hatte die Sonne sich bereits unter den Horizont geschoben. Jetzt wurde es rasch dunkel. Kahega holte ein Gewehr und lud es mit großkalibrigen Patronen. »Wofür ist das«, fragte Elliot.

»Kiboko«, sagte Kahega. »Ich kann es nur in unserer Sprache sagen.« Er rief: »Mze! Nini maana kiboko?«

Munro, im vorderen Boot, sah sich um: »Flußpferd«, sagte er.

»Sie haben es gehört?« sagte Kahega.

»Sind sie gefährlich?« fragte Elliot.

»Nachts nicht, hoffen wir«, sagte Kahega. »Ich glaube aber schon.«

Im 20. Jahrhundert hatten Ergebnisse einer intensiven Erforschung wildlebender Tiere dazu geführt, daß zahlreiche, bis dahin gültige Meinungen revidiert werden mußten. Man wußte jetzt, daß das freundliche, sanftäugige Reh in Wirklichkeit in einer rücksichtslosen, tückischen Gesellschaft lebte, während der angeblich böse Wolf Musterbeispiel eines treusorgenden Familienvaters war. Dem afrikanischen Löwen - dem stolzen König der Tiere

- wies man nunmehr den Status eines umherschleichenden Aasfressers zu, während die verachtete Hyäne neue Würde gewonnen hat. Das Mißverständnis hatte darauf beruht, daß jahrzehntelang Beobachter, die im Morgengrauen zu einem gerissenen Tier kamen, feststellten, daß sich Löwen daran gütlich taten, während Hyänen die Szene umschlichen und darauf warteten, ihre Bröckchen abzubekommen. Erst nachdem die Wissenschaftler begonnen hatten, die Tiere auch nachts zu beobachten, kam die Wahrheit heraus: Hyänen rissen das Opfer und wurden von faulen Löwen vertrieben, die nur auf eine günstige Gelegenheit gewartet hatten. Daher die so oft beobachtete Szene im Morgengrauen. Dazu paßte auch die Beobachtung, daß Löwen in mancherlei Hinsicht unberechenbar und niedrig waren, während Hyänen eine hochentwickelte Sozialstruktur besaßen - auch hier wieder ein Beispiel für menschliche Vorurteile gegenüber der natürlichen Welt der Tiere.

Doch das Flußpferd, das Herodot in der Antike als »Hippopota-mos« bezeichnete, blieb trotz aller neueren Forschungen ein Tier, von dem man nur wenig wußte; obwohl es der größte afrikanische Landsäuger nach dem Elefanten war. Seine Angewohnheit, sich im Wasser aufzuhalten, so daß lediglich Augen und Nüstern herausschauten, machte es zu einem schwierigen Forschungsobjekt. Die Flußpferde gruppierten sich jeweils um ein männliches Tier. Ein geschlechtsreifer Bulle hatte einen Harem von mehreren Kühen und ihrem Nachwuchs - eine Herde von acht bis vierzehn Tieren.

Trotz ihres tonnenschweren Leibs und ihres leicht erheiternden Erscheinungsbildes waren Flußpferde unvorstellbarer Leistungen fähig. Der Bulle war ein gewaltiger Koloß, gut vier Meter lang und über drei Tonnen schwer. Wenn er angriff, bewegte er sich mit einer für ein so plumpes und schwerleibiges Tier verblüffenden Geschwindigkeit. Seine gewaltigen, stumpf aussehenden unteren Eckzähne waren in Wirklichkeit an den Seiten rasiermesserscharf, so daß ein Flußpferd beim Angriff nicht etwa biß, sondern mit wuchtigen seitlichen Kopfschlägen kämpfte. Im Unterschied zu anderen Tieren führte ein Kampf zwischen zwei Bullen oft dazu, daß der eine seinen tiefen Verletzungen erlag. Beim Kampf von Flußpferden war nichts rituell oder symbolisch gemeint. Das Tier war auch dem Menschen gefährlich. In Flußgebieten, in denen sich Herden aufhielten, schrieb man die Hälfte der Todesfälle, bei denen Eingeborene angreifenden Tieren zum Opfer fielen, Flußpferden zu; der Rest entfiel auf Elefanten und Großkatzen.

Flußpferde waren Pflanzenfresser. Sie kamen nachts aus den Flüssen an Land und fraßen dort ungeheure Mengen Gras. Ein Flußpferd außerhalb des Wassers war besonders gefährlich, und wer zwischen ein Tier und den Fluß geriet, dem es zustrebt, überlebte die Begegnung gewöhnlich nicht. Für das Ökosystem der afrikanischen Flüsse war das Flußpferd von wesentlicher Bedeutung. Seine in ungeheuren Mengen ausgeschiedenen Exkremente düngten das Flußgras, in dem Fische und andere Tiere leben konnten. Ohne das Flußpferd hätten die afrikanischen Flüsse weder Flora noch Fauna, und wo man es vertrieben hatte, starben die Flüsse ab.

Soviel ist bekannt - und noch etwas: das Flußpferd wachte eifersüchtig über sein Revier. Ein männliches Tier verteidigt seinen Fluß gegen jeden Eindringling. Und wie sich bei zahlreichen Gelegenheiten gezeigt hatte, wurden als Eindringlinge andere Flußpferde, Krokodile und den Fluß passierende Boote angesehen - mitsamt den Menschen darin.

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