9.
Guillaumes Laune hatte sich merklich gebessert, und das aus zwei Gründen.
Zum einen, weil die walisische Sklavin, die das Opfer seiner Wut geworden war, in jeder Hinsicht gehalten hatte, was ihr Äußeres versprochen hatte. Wie es aufgrund ihrer barbarischen Herkunft nicht anders zu erwarten gewesen war, hatte sie sich als wahre Wildkatze entpuppt, die Guillaume erst hatte zähmen müssen, ehe er zu seinem Recht gelangt war; aber da er einige Erfahrung darin besaß, den Willen eigensinniger Sklavinnen zu brechen, und er ihr zudem körperlich weit überlegen gewesen war, hatte ihn dies vor keine größeren Probleme gestellt. Im Gegenteil hatte die Tatsache, dass sich das Mädchen mit Händen und Füßen gewehrt hatte, seine Lust nur noch gesteigert, ebenso wie das Ausmaß der Befriedigung, das er empfunden hatte, als er mit Gewalt in sie eingedrungen war, wieder und wieder, so lange, bis sie ihren Widerstand endlich aufgegeben hatte und in seinen Armen ein willenloses Stück Fleisch geworden war.
Zum anderen aber auch, weil er unmittelbar nach seiner Rückkehr in die Halle darüber informiert worden war, dass Ranulf von Bayeux, rechte Hand und oberster Berater des Königs, ihn dringend zu sprechen wünsche. Was, so fragte er sich, mochte der oberste Berater des Königs von ihm wollen?
Über Ranulf wusste Guillaume nur wenig. Er stammte aus der Normandie, hatte bereits unter dem alten König William gedient und sich unter der Herrschaft seines Sohnes zu dessen einflussreichstem Berater emporgearbeitet. Manche behaupteten gar, dass Ranulf, der noch zur Zeit des ersten William die Weihe zum Kaplan empfangen hatte, in Wahrheit die Staatsgeschäfte lenkte und ein Meister darin war, unliebsame Konkurrenten gegeneinander auszuspielen, indem er gezielt Streit in deren Reihen trug. Nicht umsonst wohl lautete sein Beiname Flambard – »Brandstifter«.
All das hatte Guillaume freilich nur gerüchteweise gehört. Nicht von seinem Vater, der ihn für unreif hielt, von derlei Dingen Kenntnis zu erhalten, sondern von seiner Mutter. Eleanor de Rein war in politischen Dingen nicht weniger beschlagen als der Baron, und auch wenn sie diesem stets das Gefühl der Überlegenheit einräumte, zweifelte Guillaume nicht daran, dass sie Renald de Rein in Wahrheit weit übertraf, sowohl ihre Klugheit betreffend als auch ihre Ambitionen.
Seine gute Laune wurde gedämpft, als er am Fuß der Treppe, die zur oberen Halle führte, auf seinen Vater traf. Offenbar, so wurde ihm missmutig klar, hatte Ranulf nicht nur ihn zur Unterredung bestellt, sondern auch den Baron.
Renald de Rein trug noch immer die dunkelgrüne, bortenverzierte Tunika. Die Arme hatte er ablehnend vor der Brust verschränkt, die Mundwinkel missbilligend herabgezogen. »Da bist du ja.« Er musterte Guillaume vom Scheitel bis zur Sohle. »Wo hast du dich nur wieder herumgetrieben? Du stinkst wie ein ganzer Pferdestall!«
»Gewiss, Vater«, erwiderte Guillaume kaltschnäuzig. »Habt nicht Ihr selbst mir befohlen, nach den Pferden und unseren Leuten zu sehen und Sorge zu tragen, dass es ihnen gut geht?«
»Und das hast du getan?«
»Gewiss«, antwortete Guillaume, ohne mit der Wimper zu zucken. »Zweifelt Ihr etwa daran?«
Renald kam nicht dazu, etwas zu erwidern, denn ein kleinwüchsiger Mann mit einem Frettchengesicht, der einen gelben Überwurf trug, kam die gewendelten Stufen herab und verbeugte sich vor ihnen.
»Die Herren de Rein?«, erkundigte er sich beflissen, von einem zum anderen schauend.
»So ist es.«
»So folgt mir bitte.«
Mit gravitätischer Miene wandte das Frettchengesicht sich um und erklomm die Stufen mit einer solchen Schnelligkeit, dass zumindest der Baron Mühe hatte, ihm auf den Fersen zu bleiben. Guillaume war klug genug, seinem Vater mit einigen Schritten respektvollen Abstands zu folgen. Der Baron hatte ihn schon aus weit geringeren Anlässen gezüchtigt, und er verspürte kein Verlangen danach, erneut vor aller Augen erniedrigt zu werden.
Vorbei an bewaffneten Wachen, die das obere Ende der Treppe besetzten, wurden die Besucher in den Thronsaal geführt, der sich genau über der unteren Halle befand. Mächtige Balken und Säulen aus Eichenholz stützten eine hohe Decke, und die ebenso schmalen wie hohen Fenster, die die steinernen Wände durchbrachen, verliehen dem Saal etwas von einer Kathedrale. Dazu trugen auch die reich bestickten Teppiche bei, die zwischen den Fenstern hingen und von den ruhmreichen Taten des Eroberers kündeten, sowie die zahllosen Kerzen, die auf eisernen Ständern staken und den vorderen Teil der Halle beleuchteten. Der rückwärtige Teil, in dem nur ein Kaminfeuer flackernden Schein verbreitete, lag in schummrigem Halbdunkel. Erst als die beiden Besucher dem Diener durch die Halle folgten, nahmen sie die beiden Gestalten wahr, die sie am anderen Ende erwarteten. Die eine stand, die zweite saß auf dem Thron von England.
Es war das erste Mal, dass Guillaume de Reine seinen Monarchen und obersten Lehnsherren erblickte, und es kostete ihn einige Anstrengung, sich seine Überraschung nicht anmerken zu lassen. Denn der Mann, der auf dem aus Eichenholz gefertigten, mit reichen Schnitzereien versehenen Sitz thronte, entsprach nicht den Vorstellungen, die er sich von seinem König gemacht hatte.
William von England war ein kleinwüchsiger und dabei leicht untersetzter Mann, unter dessen Arm- und Beinkleidern aus eng anliegendem Samt sich jedoch stählern anmutende Muskeln abzeichneten. Guillaume hatte gehört, dass der König sich, der Tradition seines Vaters folgend, vor allem als Krieger sah und es liebte, zur Jagd auszureiten und sich körperlich zu ertüchtigen. Die bunten Farben seiner Kleidung, die in schreiendem Rot und Gelb um die Gunst des Betrachters wetteiferten und dem Herrscher von England etwas Geckenhaftes, fast Weibisches verliehen, relativierten diesen Eindruck allerdings wieder. Das Alter des Königs war unmöglich zu schätzen. Als Guillaume ihm jedoch ins Antlitz blickte, wurde ihm jäh klar, wie dieser zu seinem Beinamen Rufus – der »Rote« – gekommen war. Denn das lange blonde Haar, das in der Mitte gescheitelt war und bis auf die Schultern herabfiel, umarmte ein fleckiges, puterrotes Gesicht, aus dem den Besuchern zwei Augen unterschiedlicher Farbe unverwandt entgegenstarrten.
Davon irritiert, richtete Guillaume seinen eigenen Blick zu Boden. Den anderen Mann, der am Fuß des mit Fellen beschlagenen Thronpodests stand, nahm er deshalb nur flüchtig wahr, aber er konnte erkennen, dass sowohl dessen schlanke Gestalt als auch seine dunkle, an eine Mönchskutte gemahnende Robe in krassem Gegensatz zur grellen Erscheinung des Königs standen.
»Baron Renald de Rein und sein Sohn Guillaume«, stellte der Hofbeamte die beiden Neuankömmlinge vor, worauf beide niederknieten. William Rufus schien Gefallen daran zu finden, seinen irritierenden Blick eine endlos scheinende Weile lang auf den Besuchern ruhen zu lassen. Erst dann gestattete er ihnen, sich wieder zu erheben. Der Hofbeamte hatte sich längst entfernt und die Pforte des Thronsaals hinter sich geschlossen.
»Seid mir gegrüßt, Baron«, sagte der König schließlich mit knabenhaft weicher Stimme. »Wie war die Reise aus dem fernen Northumbria?«
»Sehr gut, Sire«, beeilte Renald sich zu versichern. »Wir waren geehrt, als Eure Einladung uns erreichte.«
»Das nehme ich an.« Der König lächelte. »Wie ich höre, habt Ihr im Kampf gegen die Pikten neue Erfolge zu vermelden?«
»Die Grenzen sind so sicher wie seit Jahren nicht mehr«, bestätigte der Baron mit vor Stolz geschwellter Brust.
»Dann seid Ihr unseres Dankes gewiss«, erwiderte Rufus gönnerhaft. »Ihr habt Euch als verlässlicher Streiter und wahrhaft treuer Vasall erwiesen – auch dann, als der Verräter Mowbray und der nicht minder verräterische Carileph von der Krone abgefallen sind und sich gegen mich gestellt haben. Dies ist der Grund, warum Ihr hier seid.«
Guillaume merkte, wie seine innere Anspannung wuchs. Es schien sich also zu bewahrheiten, dass sich der König bei denjenigen seiner Getreuen bedanken wollte, die ihm im Zuge des von Robert Mowbray, dem Earl von Northumbria, und dem mit ihm verbündeten William Carileph, dem Bischof von Durham, angezettelten Aufstands die Treue gehalten hatten. Vier lange Sommer hatte der Kampf gegen die Rebellen gedauert, ehe es im vergangenen Jahr gelungen war, Mowbrays Burgen in Newcastle, Tynemouth und Morpeth einzunehmen und seine Macht zu brechen. Seither war Northumbria direkt dem König unterstellt, ebenso wie die normannischen Edlen, die die Grenzburgen besetzten – und mit ihnen auch Renald de Rein. Was aber würde der König ihnen zu sagen haben? Die geheime Hoffnung, es könnte zurückgehen in die alte Heimat, hatte Guillaume noch immer nicht losgelassen, so töricht und aussichtslos sie auch sein und so sehr ihn sein Vater dafür verachten mochte.
»Mein König«, entgegnete der Baron mit der ihm eigenen plumpen Beflissenheit, wobei er beide Hände an den Griff seines Schwertes legte, »diese Klinge gehört Euch, wo auch immer ich sie in Eurem Auftrag führen soll.«
»Gut gesprochen, Baron«, ergriff erstmals der andere Mann das Wort, der bislang unbeteiligt dabeigestanden hatte, dunkel und schweigend wie ein Schatten. Erst jetzt kam Guillaume dazu, ihn gebührend zu betrachten. Schmale, berechnende Augen, die etwas Furchteinflößendes hatten, blickten aus einem hageren, fast asketisch wirkenden Gesicht, ein ernster Mund und ein energisches Kinn verrieten Entschlossenheit und Durchsetzungswillen. Das dunkle Haar war, im Gegensatz zu dem des Monarchen, auf traditionelle Normannenart kurz geschnitten. Guillaume hegte keinen Zweifel, dass es gefährlich war, sich mit diesem Mann anzulegen, und er war überzeugt, keinen anderen als Ranulf den Brandstifter vor sich zu haben, den obersten und einflussreichsten Berater des Königs. »Seid versichert, dass wir dieses Euer Versprechen wohlwollend in Erinnerung behalten werden, denn es werden ferne Lande sein, in die Euch der Auftrag des Königs führen wird.«
»Ferne Lande?« Renald de Rein war kaum weniger überrascht als sein Sohn, der eine Rückkehr in die Normandie plötzlich wieder in greifbare Nähe rücken sah. Euphorie erfüllte ihn, die ein Lächeln über seine blassen Züge sandte – ein Lächeln, das der König zu seiner Bestürzung flüchtig erwiderte.
»Genauso ist es, mein Freund«, bestätigte Rufus und streifte seinen Berater mit einem Seitenblick. »Erlaubt, dass ich Euch Ranulf von Bayeux vorstelle, meine rechte Hand.«
Der Baron nickte in Richtung des schwarz Gewandeten, verzichtete jedoch darauf, sich zu verbeugen. Seine buschigen Brauen hatten sich über den Augen zusammengezogen, und das Unbehagen war ihm anzusehen.
»Baron de Rein«, fuhr Ranulf fort, dessen Stimme Guillaume an das Klirren von Eis erinnerte, »uns ist zu Ohren gekommen, mit welch großem Einsatz und welch selbstloser Pflichterfüllung Ihr im Norden des Reiches gedient habt. Da der Verräter Carileph den Winter nicht überlebt hat und die Grenzen nach Schottland dank Eurer Verdienste sicher scheinen, hat der König beschlossen, Euch zur Belohnung für Eure Dienste mit einer neuen Aufgabe zu betrauen. Einer Aufgabe, die Eure gesamte Loyalität, Euren ganzen Mut und womöglich sogar Euer Leben erfordern wird.«
»Ich habe geschworen, Euch bis in den Tod zu dienen, mein König, wie zuvor schon Eurem Vater«, sagte Renald, nicht in Flambards Richtung, sondern an seinen Monarchen gewandt. »Befehlt, und ich werde tun, was Ihr verlangt.«
»Eure Treue ehrt Euch«, entgegnete der Berater ungerührt anstelle des Königs. »Dennoch sollt Ihr zunächst erfahren, wer es gewesen ist, der die Kunde von Euren Verdiensten und Eurer unbedingten Pflichterfüllung an unser Ohr getragen hat. Mylady, wenn Ihr so gütig sein wollt …«
Flambard wandte sich nach der unbeleuchteten Seite der Halle, und zur Überraschung der Besucher regte sich dort eine Gestalt, die so still in der Dunkelheit zwischen den Säulen verharrt hatte, dass keiner der Besucher sie bemerkt hatte. Sie war von schlankem Wuchs, und ein Kleid umwallte sie, das bis zum Boden reichte und bei jedem ihrer Schritte raschelte. Der Lichtschein des Kaminfeuers erfasste sie schließlich und hob ihre Züge aus der Dunkelheit – und Renald de Rein gab einen Laut der Verblüffung von sich, als er das schmale Gesicht seiner Gemahlin erblickte.
»Eleanor!«, entfuhr es ihm. »Was bei allen Heiligen …?«
»Ich kann mir vorstellen, dass Ihr verwundert seid, Baron«, antwortete Flambard an ihrer Stelle. »Bei allem, was Ihr nun erfahren werdet, bitten wir Euch jedoch zu bedenken, dass Euer Weib einer überaus bedeutsamen und um die Krone verdienten Familie entstammt. Wusstet Ihr, dass ihr Vater bei Hastings an des Königs Seite gefochten hat?«
»Ja«, entgegnete Renald trocken, »er hat keine Gelegenheit ausgelassen, mich daran zu erinnern.«
»Und wusstet Ihr weiter, dass Bischof Maurice von London, der langjährige Lordkanzler des Reiches, bei dem zu dienen ich selbst die Ehre hatte, sein engster und vertrautester Freund gewesen ist?«
»Und?«, fragte Renald nur. Seinen verkniffenen Zügen, die plötzlich etwas von einem Keiler hatten, der bei der Jagd in die Enge getrieben worden war, war nicht zu entnehmen, ob er auch davon Kenntnis gehabt hatte; wohl aber konnte man ihm ansehen, dass ihm die Art, wie sich das Treffen mit dem König entwickelte, ganz und gar nicht behagte. Guillaume hingegen triumphierte innerlich, denn durch das Auftauchen seiner Mutter hatten die Dinge eine Wendung genommen, die zumindest für ihn nur Vorteile bringen konnte.
»Den Einfluss ihrer Familie nutzend, hat Eure Gemahlin unsere Nähe gesucht«, fuhr der königliche Berater fort.
»In der Tat«, brummte der Baron und bedachte Eleanor mit einem undeutbaren Blick. »Hat sie das.«
»Ihr solltet ihr dankbar dafür sein, denn ohne ihr Zutun hätten wir womöglich niemals Kunde von Euren großen Taten erlangt. Da Lady Eleanor nicht nur über die normannischen Tugenden der Schönheit und Anmut verfügt, sondern auch über herausragende Klugheit, bat sie uns, Euren Einsatz im Grenzland neu zu bewerten und zu erwägen, ob es Aufgaben gäbe, die einem Mann von Euren Fähigkeiten und Verdiensten angemessener wären – wohl wissend, dass Ihr selbst viel zu bescheiden und von zu großer Freude an der Pflichterfüllung beseelt seid, um jemals selbst dergleichen zu erbitten.«
»Sire, ich …«, wollte Renald sich an seinen Lehnsherren wenden, doch Ranulf ließ ihn auch diesmal nicht zu Wort kommen.
»Aus diesem Grund und eingedenk der treuen Dienste, die Ihr für die Krone geleistet habt«, fuhr er fort, »sind wir bereit, Euch mit einer Mission zu betrauen, die Euch weit über alle anderen Vasallen des Königs stellen und Euch, solltet Ihr sie erfolgreich abschließen, zu einem der größten und einflussreichsten Edlen des gesamten Reiches machen wird.«
»Ich danke Euch, Sire«, erwiderte der Baron steif und deutete eine Verbeugung an. So empfänglich er für Komplimente seine Ritterlichkeit betreffend war und so sehr die Worte des Beraters ihm sicher schmeichelten, so vorsichtig blieb er dennoch. Die Tatsache, dass seine Gemahlin ohne sein Wissen und seine Zustimmung ihren eigenen Einfluss bemüht und den Kontakt zum König gesucht hatte, beschämte ihn und machte ihn misstrauisch. Der argwöhnische Blick, den er umherschweifen ließ, traf zuerst sie, dann Flambard und schließlich Guillaume, der ein wenig versetzt hinter seinem Vater stand und nicht wusste, was er von alldem halten sollte, da seine Mutter ihn ebenso wenig in ihre Pläne eingeweiht hatte wie den Baron.
Als er jedoch die Unsicherheit in den bohrenden Blicken seines Vaters bemerkte, da begann er zumindest eines zu ahnen: dass jene Gelegenheit, von der seine Mutter noch am Abend gesprochen hatte, jene günstige Stunde, schon bedeutend näher gerückt war. Hatte sie da schon gewusst, was geschehen würde? Natürlich! Weshalb aber hatte sie ihn nicht eingeweiht? Guillaume verspürte eine gewisse Enttäuschung.
»Was also habt Ihr mir zu sagen?«, wandte sich Renald de Rein erstmals direkt an Flambard. Ihm schien aufgegangen zu sein, dass an dem königlichen Berater kein Weg vorbeiführte. »Was für eine Mission ist das, mit der Ihr mich betrauen wollt?«
»Nicht hier«, beeilte Flambard sich zu erklären. »Dinge wie diese sollten nur in aller Verschwiegenheit besprochen werden.«
»In aller Verschwiegenheit? Welcher Ort könnte verschwiegener sein als der Thronsaal des Monarchen?«
»Folgt mir«, forderte der Berater sie alle auf und ging voraus zu einem von einem Rundbogen überwölbten Durchgang, den eine schwere Eichenholztür verschloss. Flambard öffnete den Riegel, und die Besucher fanden sich in der Kapelle der Festung wieder.
Steinsäulen umliefen die Wände und stützten eine hohe Decke. In der halbrunden Apsis, durch deren hohe Fenster infolge des Unwetters, das draußen tobte, immer wieder grelles Blitzlicht fiel, befand sich ein kleiner Altar, auf dem das Kreuz des Erlösers stand. Auf der Seite war in einer Wandnische eine Figur des Heiligen Georg untergebracht, zu dessen Füßen sich der erschlagene Drache wand. Gegenüber gab es ein steinernes Taufbecken, wohl dazu da, den Nachkommen des Königs das erste Sakrament zu spenden und sie zu Kindern des Allmächtigen zu machen – bislang jedoch hatte Rufus nicht beliebt, einen Erben in die Welt zu setzen oder sich auch nur eine Frau zu nehmen.
Eine hölzerne, mit kunstvollen Schnitzereien versehene Bank war vor dem Altar aufgestellt. Kerzen, die in großen eisernen Leuchtern brannten, verbreiteten schummriges, verschwörerisch anmutendes Licht, das die Säulen geisterhafte Schatten werfen ließ. Im hinteren Bereich der Kapelle gab es eine quadratische, von einem hölzernen Geländer umgebene Öffnung im Boden, und eine schmale Treppe führte hinab in das untere Stockwerk des Gotteshauses, das den Vasallen des Königs offenstand. Dort zeichneten sich, im sich verlierenden Lichtschein kaum zu erkennen, noch mehr Bänke und ein einfaches Holzkreuz ab.
Flambard wartete, bis sich auch der König in der Kapelle eingefunden hatte, dann verriegelte er sorgsam die Türen, nicht nur jene zum Thronsaal, sondern auch jene im unteren Stockwerk. Rasch stieg er die Stufen hinab und schob geräuschvoll den Riegel vor. Als er wieder zurückkehrte, sah es so aus, als würde eine schwarz gewandete Schreckgestalt aus der dunklen Tiefe heraufsteigen. Guillaume spürte, wie ihn Beklemmung befiel. Seine Anspannung wuchs, und seine Hände begannen zu schwitzen. Trost spendete ihm allein, dass es seinem Vater, dem gestrengen Baron, nicht besser ging, während seine Mutter alle Gelassenheit der Welt in sich zu vereinen schien. Er begann zu ahnen, warum sie ihn nicht in ihre Pläne eingeweiht hatte. Nicht etwa, weil sie ihm misstraut hätte, sondern um ihn zu schützen.
»Hier sind wir für uns«, sagte Flambard schließlich in das von Donnergrollen unterlegte Schweigen. »Nichts von dem, was hier gesprochen wird, darf diese Mauern jemals verlassen. Wollt Ihr das schwören?«
Der Baron, seine Gemahlin und auch sein Sohn beschworen es, und noch viel mehr als zuvor hatte Guillaume das Gefühl, etwas Verbotenes zu tun und einem Kreis von Verschwörern anzugehören.
»Bedauerlicherweise«, fügte Flambard erklärend hinzu, »sind wir auf solche Vorsichtsmaßnahmen angewiesen, denn ich habe allen Grund zu der Annahme, dass unserem geliebten Herrscher Ungemach droht.«
»Von welcher Seite?«, wollte Renald grimmig wissen.
»Von jener Seite, die ihm seine Macht von Anbeginn geneidet hat und es auch weiterhin tut, auch wenn sie vordergründig Brüderlichkeit heuchelt«, erwiderte der königliche Berater unumwunden. Obwohl er keine Namen nannte, war allen Versammelten klar, wer damit gemeint war: kein anderer als Robert, Herzog der Normandie und des Königs leiblicher Bruder, der noch zu Lebzeiten des alten William Revolten angeführt hatte, um die Macht an sich zu reißen, und noch immer nach der englischen Krone dürstete.
»Habt Ihr gehört, was sich im vergangenen November in Clermont zugetragen hat, Baron?«, erkundigte sich Ranulf Flambard unvermittelt.
»Nur am Rande. Ich weiß, dass seine Heiligkeit der Papst dazu aufgerufen hat, die heiligen Pilgerstätten von den Heiden zu befreien.«
»Genauso ist es. Viele Christenmenschen haben seinen Ruf gehört und sind bereit, ihm zu folgen. Auch unser geliebter Herrscher würde gehen, wenn seine Pflichten ihn nicht an den Thron binden würden.«
»Das ist nur zu wahr«, bestätigte der Monarch, der neben Flambard stand und im Vergleich zu diesem geradezu harmlos und unscheinbar wirkte. Obwohl er fast doppelt so alt war wie Guillaume, hatte der König von England etwas Knabenhaftes an sich. »Nach den Unruhen der vergangenen Jahre hat sich die Lage im Land nun endlich gefestigt. Kehrte ich England nun jedoch den Rücken zu, würde alles von vorn beginnen.«
»Das ist anzunehmen, Sire«, gab der Baron zu.
»Robert hingegen«, fuhr Ranulf Flambard fort, »ist bereit, das Wagnis einzugehen. Er ist gegenwärtig dabei, in Caen und Rouen Truppen zusammenzuziehen und eine Armee auszurüsten, die ihn auf seiner Pilgerfahrt begleiten soll.«
»Mein Bruder ist schon immer ein sentimentaler Hund gewesen«, bemerkte der König wenig schmeichelhaft. »Vielleicht aber«, setzte er bissig hinzu, wobei seine verschiedenfarbigen Augen angriffslustig blitzten, »will er auch nur sein Seelenheil zurückerlangen, das er noch zu Lebzeiten unseres Vaters so leichtfertig verspielt hat.«
»Um das Unternehmen zu finanzieren, hat Robert seine Besitztümer in der Normandie für eine Summe von zehntausend Silbermark an uns verpfändet«, erläuterte Flambard.
»Wozu zweifellos Ihr ihm geraten habt«, folgerte Renald. Es war bekannt, dass Ranulf als anerkannter Spezialist in Fragen der Staatsfinanzen galt. Nicht von ungefähr hatte er an der Erstellung jener Steuerlisten gearbeitet, die als Domesday Book, als »Buch vom Jüngsten Tage« in die Annalen des Reiches eingegangen waren.
»Ich habe meinen bescheidenen Beitrag zur Ausarbeitung des Vertrags geleistet, das ist wahr«, gab der königliche Berater sich bescheiden, »von weit größerer Wichtigkeit aber ist Folgendes: Sollte Robert von seiner Fahrt ins Heilige Land nicht zurückkehren, so würden seine Besitztümer mit allem, was sich darauf befindet, an seinen Bruder zurückfallen. Und das würde nicht mehr und nicht weniger bedeuten, als dass das Reich des Eroberers erstmals nach seinem Tod wieder unter einer Krone vereint wäre.«
»Und?«, wollte Renald wissen, obwohl sein düsterer Ausdruck vermuten ließ, dass er die Antwort bereits ahnte.
»Es wäre also von bedeutendem Vorteil für die Krone, wenn Robert angesichts der unzähligen Unwägbarkeiten, die im Zuge einer solch gefahrvollen Unternehmung lauern, in der Ferne etwas zustoßen würde«, ließ Ranulf die Katze aus dem Sack, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken – und Guillaume verstand jäh, weshalb der königliche Berater den Beinamen »Brandstifter« erhalten hatte.
»Was?«, fragte der Baron. Angesichts der Beiläufigkeit, mit der Flambard gesprochen hatte, hatte er wohl das Gefühl, nicht recht gehört zu haben.
»Es ist ganz einfach«, wurde Rufus deutlicher, »kehrt mein Bruder nicht zurück, so werde ich Herrscher über England und die Normandie, genau wie mein Vater vor mir. Und dafür, mein treuer Freund, sollt Ihr sorgen.«
»Sire! Ihr … Ihr erwartet von mir, dass ich für Euch zum Mörder werde? Zum Assassinen?« Wieder erhellte ein Blitz das Innere der Kapelle und beleuchtete das Gesicht des Barons. Die Farbe war aus seinen fleischigen Zügen gewichen, sein Blick verriet ehrliches Entsetzen.
»Ihr solltet Eure Worte mit mehr Bedacht wählen«, wies Flambard ihn zurecht, zischend wie eine Schlange kurz vor dem Biss. »Was der König von Euch verlangt, ist nicht mehr und nicht weniger als treue Pflichterfüllung.«
»Aber Sire!« Renalds Blick glitt hilflos zwischen seinem Lehnsherren und dessen oberstem Berater hin und her. »Ich habe einst Eurem Vater die Treue geschworen! Ich kann mich nicht gegen sein eigen Fleisch und Blut wenden!«
»Warum nicht?«, fragte Rufus. »Habt Ihr nicht auch gegen Roberts Truppen gekämpft, als ich Euch dazu aufrief?«
»Natürlich, aber …«
»Und hat mein Vater zu seinen Lebzeiten nicht selbst gegen Robert gefochten?«
»Und ihm auf dem Totenbett verziehen«, fügte der Baron hinzu. »Ich selbst war dabei, als der König seinen letzten Atemzug tat, als er den Allmächtigen um Ablass bat für seine Sünden und sich nichts sehnlicher wünschte als Frieden mit dem abtrünnigen Sohn. Verlangt Ihr, dass ich mich darüber hinwegsetze?«
»Nicht ohne Gegenleistung«, versicherte Flambard. »Ihr dürft Euch sicher sein, Baron, dass Euch der König diesen treuen Dienst nicht vergessen und Euch reich dafür belohnen wird. Beispielsweise, indem Ihr zusätzlich zu Eurem Lehen in Northumbria Eure ehemaligen Besitzungen auf dem Festland zurückerhaltet, zuzüglich einiger neuer Gebiete, die Euch binnen kürzester Zeit zu einem der mächtigsten und wohlhabendsten Männer des Reiches machen werden.«
»Und wenn ich dennoch ablehne?«
»Nun«, gestand Flambard steif, »als guter Christenmensch seid Ihr freilich Eurem Gewissen verpflichtet und müsst wissen, was Ihr tut. Allerdings sehe ich mich genötigt, Euch darauf hinzuweisen, dass Eure Verweigerung der Gefolgschaft nicht ohne Konsequenzen bleiben wird. Für Euch, Eure Familie und Euren Besitz …«
Renald de Rein bebte innerlich. Seine kleinen Augen blitzten den königlichen Berater in unverhohlener Ablehnung an, seine breite Brust hob und senkte sich heftig, seine Hände waren zu Fäusten geballt.
»Wie es den Anschein hat, Mylady«, wandte Flambard sich unvermittelt an Eleanor, »ist Euer Gemahl bei Weitem nicht so klug und vorausschauend, wie wir alle gehofft hatten.«
»Offenkundig«, erwiderte sie nur, und ihre Geringschätzigkeit überraschte selbst Guillaume. Verwundert spähte er zu seiner Mutter hinüber – und erntete ein ermunterndes Lächeln. Für ihren Gemahl schien Eleanor de Rein nichts als Verachtung übrigzuhaben, ihrem Sohn jedoch war sie nach wie vor zugetan und sandte ihm ein aufforderndes Nicken.
Guillaume stand so reglos, als hätte ihn einer der Blitze getroffen, die draußen über den nächtlichen Himmel zuckten. Atemlos hatte er alles mitangehört, konnte es jedoch kaum glauben. Hatte Ranulf Flambard tatsächlich dazu aufgefordert, des Königs leiblichen Bruder zu töten? Und hatte er als Belohnung dafür die Rückkehr aufs Festland in Aussicht gestellt? Neue Besitzungen und noch größere Macht, Einkünfte in riesigen Mengen?
Guillaume schwindelte ob der Aussichten, die sich plötzlich boten, und als er erneut in die Züge seiner Mutter blickte und die nunmehr drängende Aufforderung darin sah, erinnerte er sich an ihre Worte. Plötzlich wusste er, dass die Gelegenheit, auf die er all die Jahre gewartet hatte, gekommen war.
»Darf ich sprechen, Exzellenz?«, fragte er hastig. Seine Stimme klang dünn und brüchig, die Aufregung war ihm anzuhören.
»Nein«, schnaubte der Baron und schickte ihm einen seiner vernichtenden Seitenblicke. »Du hast nichts zu sagen.«
»Mit Verlaub, ich habe mein Wort nicht an Euch, sondern an den Berater des Königs gerichtet«, widersprach Guillaume tonlos, den Blick starr geradeaus gerichtet, damit er seinem Vater nicht in die Augen sehen musste.
»Und der Berater des Königs gestattet Euch zu sprechen, Guillaume de Rein«, erwiderte Flambard. »Was habt Ihr uns zu sagen?«
Guillaume würgte an dem Kloß, der sich in seinem Hals gebildet hatte und ihn am Sprechen hinderte. Unsicher blickte er zu seiner Mutter, die ihm jedoch ermunternd zunickte und ihm abermals zu verstehen gab, dass dies die Gelegenheit war, die es zu ergreifen galt. Ihre Gegenwart gab ihm Kraft und innere Stärke. Er straffte sich und sagte dann mit ruhiger Stimme: »Ich möchte beteuern, dass ich im Gegensatz zu meinem Vater Euer Ansinnen aus tiefster Überzeugung unterstütze. Robert hat sich gegen den König gestellt und damit gegen jedes geltende Recht verstoßen. Selbst jetzt trachtet er noch nach dem Thron von England und ist folglich ein Feind der Krone.«
»Wie schön, dass wenigstens Ihr das erkannt habt, junger Herr«, erwiderte Flambard mit leisem Spott.
»Folglich gehe ich davon aus, dass sowohl Eurer Herrschaft als auch dem Königreich ein großer Dienst erwiesen wird, wenn Euer Bruder nicht mehr unter den Lebenden weilt«, setzte Guillaume seine Ausführungen fort, lauter nun und mit größerer Überzeugung als zuvor. »Wenn mein Vater Euch also in dieser Sache seine Dienste verweigert …«
»Ja?«, fragte Flambard lauernd.
»… so bin ich gerne bereit, an seiner Stelle zu tun, was die Pflicht jedes treuen Vasallen ist«, brachte Guillaume den Satz zu Ende und trat einen Schritt vor, sodass der Baron auch optisch ins Hintertreffen geriet.
»Hast du den Verstand verloren?«, rief Renald entsprechend wütend. »Du wirst nichts dergleichen tun!«
»Verzeiht, werter Baron«, mischte Flambard sich ein, »darüber habt Ihr nicht zu befinden. Dem König allein obliegt es zu entscheiden, ob er das ebenso selbstlose wie mutige Angebot Eures Sohnes annehmen will oder nicht.«
»Kann ich mich denn auf Euch verlassen, junger Freund?«, wandte Rufus selbst sich an Guillaume, während seine so unterschiedlichen Augen ihn von Kopf bis Fuß musterten. »Vielleicht habt Ihr gehört, was man über mich erzählt. Es heißt, der König hätte keine Freunde, und das ist nur zu wahr. Mein Vater hat sich zeit seines Lebens mit Gefolgsleuten und Speichelleckern umgeben, und was hat es ihm eingetragen? Die meisten von ihnen, sogar sein eigener Bruder, haben versucht, ihn um der Macht willen zu hintergehen. Man tut also gut daran, wohl zu erwägen, wem man Vertrauen schenkt und wem nicht.«
»Meine Loyalität gehört Euch, Sire«, versicherte Guillaume und beugte abermals die Knie vor seinem Herrscher. Der König musterte ihn auch dann noch, als er sich wieder erhoben hatte. Unablässig glitt sein Blick vom Scheitel hinab zu den Beinen und wieder zurück, wobei Guillaume den Eindruck hatte, dass er in seiner Leibesmitte ein wenig länger verharrte. Und zuletzt glaubte er gar – aber natürlich konnte dies nur ein Irrtum sein! – etwas Begehrliches im Blick des Monarchen auszumachen.
»Nun gut, Guillaume de Rein«, erklärte er sich schließlich großmütig bereit, wobei sein ohnehin schon rotes Gesicht noch ein wenig dunkler wurde, »ich nehme Euer Angebot an. Bringt Ihr erfolgreich zu Ende, was wir Euch aufgetragen haben, so werdet Ihr reich dafür belohnt. Versagt Ihr jedoch, werde ich leugnen, Euch je gekannt zu haben.«
»Ich verstehe, mein König«, sagte Guillaume.
»Und was ist mit mir?«, erkundigte sich Renald ungehalten.
Flambard schaute ihn an wie eine Made, die er in einem Stück Brot gefunden hatte. »Da Eure Gemahlin hoch in der Gunst des Königs steht und Euer Sohn sich so freimütig erboten hat, Eure Stelle einzunehmen, wird Eure Weigerung folgenlos bleiben. Wir erwarten allerdings, dass Ihr Euren Sohn auf der langen Reise begleiten und ihn auf jede nur denkbare Weise unterstützen werdet.«
»Was?«
»Betrachtet es als Sicherheit. Weigert Ihr Euch oder solltet Ihr Euch außerstande sehen, die unbedingte Notwendigkeit dieses Schrittes zu begreifen, so fallen Euer Titel und Euer Besitz der Krone zu.«
»Das würdet Ihr nicht wagen«, knurrte de Rein.
»Mit Verlaub, wer sollte uns daran hindern – Ihr etwa? Durch Eure Entscheidung, werter de Rein, habt Ihr Euch in eine unvorteilhafte Lage gebracht, und wäre es nicht um Euer Weib und Euren Sohn …«
Flambard verstummte jäh, als etwas seine Aufmerksamkeit erregte. Es war ein leises Klicken, gefolgt von einem Rieseln, das von irgendwo unter ihnen zu kommen schien. Der königliche Berater fuhr herum, hastete zum Geländer der Bodenöffnung und starrte mit eng zusammengekniffenen Augen in das Halbdunkel, das unten herrschte. Dann, als erneut ein flackernder Blitz das Innere der Kapelle erhellte, glaubte er, etwas auszumachen.
»Da ist jemand!«, keifte er laut und außer sich. »Wir wurden belauscht!«
Die Zeit nach Nias Tod verbrachte Conn wie in einem Albtraum.
Gefangen in einem dunklen Gefängnis aus Trauer und Verzweiflung, in das kein Strahl der Hoffnung drang, sann er auf Rache. Der geschundene Körper seiner Geliebten war in seinen Armen noch nicht erkaltet, da schwor er bereits, sie zu rächen und den Mann zu töten, der sie so grausam aus dem Leben gerissen hatte.
Guillaume de Rein.
Immer wieder hörte er Emmas Stimme den Namen des Mörders sagen, wie ein Echo hallte er durch seinen Kopf. Conn kannte diesen de Rein nicht, aber fraglos war er einer jener normannischen Ritter, die auf alles, was nicht Ihresgleichen war, mit tiefer Verachtung blickten. Vor Conns geistigem Auge nahm Guillaume Gestalt an, nicht als Mensch, vielmehr als gehörnter Dämon mit blutenden Augen, und sein Wunsch, ihn zu töten, wurde übermächtig. Selbst in seiner Verblendung war Conn klar, dass ein Angriff auf einen normannischen Edlen ein Schwerverbrechen darstellte und dass er dies nicht überleben würde. In seiner Verzweiflung war es ihm aber nicht nur gleichgültig, sondern er sehnte den Tod geradezu herbei, nun, da ihm alle Freude im Leben genommen war. Nur der eine Wunsch beseelte ihn, Nias Peiniger und Mörder zurück in den dunklen Höllenpfuhl zu stürzen, dem er entstiegen war.
Guillaume de Rein.
In seinen Gedanken riss er die nur eine Handspanne lange rostige Klinge, die er unter seinem Rock bei sich trug, gewiss ein Dutzend Mal heraus und trieb sie dem Mörder in die Kehle. Blut spritzte hervor, das seine Gedanken besudelte und auch noch den letzten Rest an Skrupeln fortspülte. Sein ganzes Leben lang hatte sich Conn nicht um die Obrigkeit gekümmert. Er hatte sein eigenes Leben zu leben versucht und sich nicht um das geschert, was die Reichen und Mächtigen taten. Warum nur hatten sie es nicht genauso gehalten? Warum waren sie in dieser Nacht in seine Welt eingebrochen und hatten sie zerstört, so grausam und endgültig, wie es nur sein konnte?
In seiner Raserei verließ Conn das Sklavenquartier und rannte hinaus in die Nacht. Um Nias Leichnam wollte er sich später kümmern, zuerst sollte ihr Mörder für sein Verbrechen bezahlen. Lauthals brüllte er Guillaumes Namen, aber infolge des tobenden Gewitters und des prasselnden Regens hörte ihn niemand. Daraufhin stürmte er die Stufen des Turmes hinauf und hämmerte gegen die Tür der großen Halle.
»Lasst mich ein!«, brüllte er dazu. »Hört Ihr nicht? Ihr sollt mich einlassen …!«
Das Spähloch in der Tür wurde geöffnet, und ein energisch blickendes Augenpaar erschien, das ihn von Kopf bis Fuß musterte. »Was willst du, Angelsachse?«
»Lasst mich ein«, ächzte Conn.
»Frierst wohl wie ein Hund da draußen, was?«, spottete der Türwächter grinsend, der Conns totenbleiche Züge und seine geröteten Augen offenbar falsch deutete. »Von mir aus, komm herein und schlaf deinen Rausch aus. Aber mach keinen Ärger, hörst du?«
Conn erwiderte etwas Unverständliches, und der Normanne ließ ihn ein, freilich nicht ohne ihn wegen seiner zerlumpten und völlig durchnässten Erscheinung auszulachen.
Conn musste an sich halten, um sich nicht mit bloßen Fäusten auf den Kerl zu stürzen. Mit Tränen in den Augen schaute er sich in der Halle um, erblickte ringsum nichts als fremde Gesichter, feixend und scherzend, Nias schrecklichen Todes ungeachtet. Conn stand kurz davor, sein Messer zu zücken und auf die herzlose Meute einzustechen, was ihn fraglos in den Kerker bringen und seinen Racheplänen ein jähes Ende setzen würde – als durch einen Nebeneingang ein Mönch die Halle betrat. Jenseits des Durchgangs gab es offenbar eine Kapelle, und kurz entschlossen lenkte Conn seine Schritte dorthin.
Was genau er in der Kapelle wollte, konnte er nicht sagen. Suchte er Ruhe? Göttlichen Beistand? Wollte er seinen Racheschwur im Angesicht des Ewigen bekräftigen? Oder erhoffte er sich in seiner Verzweiflung einfach nur ein wenig Trost?
All das war möglich, und vermutlich steckte in jeder dieser Antworten ein wenig Wahrheit. Ohne von irgendjemandem aufgehalten oder auch nur beachtet zu werden, huschte Conn in das schweigende, menschenleere Dunkel, das jenseits der Tür herrschte, und schloss sie hinter sich.
Der Lärm der Halle blieb hinter ihm zurück. Der Geruch von kaltem Weihrauch legte sich wie Balsam auf seine geschundene Seele. Conn wurde ruhiger, und anders als zuvor, als Zorn und Rachsucht ihn beherrscht hatten, brach sich der Schmerz nun ungehindert Bahn.
Conn sank nieder und betete, weder mit gefalteten Händen noch nach einer vorgegebenen Formel, sondern getrieben von unsagbarem Schmerz, der ihm die Worte eingab und ihn zum Herrn sprechen, ihn mit dem Schöpfer hadern und ihn nach dem Grund für das Schreckliche fragen ließ, das ihm widerfahren war.
Doch Conn erhielt keine Antwort.
Sein Flüstern verklang unerwidert, und die bitteren Tränen, die er vergoss und die auf den steinernen Boden der Kapelle tropften, wurden nicht getrocknet. Gott, davon war er schließlich überzeugt, hatte ihn vergessen, wenn er überhaupt je Notiz von ihm genommen hatte.
Und dann, plötzlich, erhielt Conn Gesellschaft.
Stimmen näherten sich, und über ihm, im oberen Stockwerk der Kapelle, das mit größerem Prunk ausgestattet und fraglos den Mächtigen vorbehalten war, wurden Stimmen vernehmbar, die sich in gedämpftem Tonfall unterhielten.
Conn erstarrte.
Sein erster Impuls war, die Flucht zu ergreifen, aber fraglos hätte man das Öffnen der Tür bis hinauf gehört. Das letzte, was er wollte, war Aufmerksamkeit. Also harrte er aus, und als jemand die Treppe herabkam, flüchtete er sich rasch hinter eine der steinernen Säulen, die das obere Stockwerk der Kapelle stützten und in deren dunkle Nischen der spärliche Kerzenschein nicht reichte.
Dort stand er die ganze Zeit über …
… und lauschte unfreiwillig.
Die Stimmen – Conn glaubte, vier Männer und eine Frau zu unterscheiden – unterhielten sich in gedämpftem Tonfall, und sie bedienten sich der geschliffenen Sprache der Normannen. Conn beherrschte sie nicht gut genug, um sie fließend zu sprechen, aber er kannte genügend Worte, um zumindest ansatzweise zu verstehen, worum es ging.
Um einen Feldzug, der ausgerüstet werden sollte.
Um jemanden, der Robert hieß und – sofern Conn es richtig verstand – um sein Vermögen gebracht werden sollte, indem man ihn hinterrücks ermordete.
Die Tatsache, dass er unversehens zum Zeugen eines Mordkomplotts wurde, nahm Conn nur am Rande wahr. Zum einen überraschte es ihn nicht, dass Normannen derlei Dinge im Schilde führten, und es war ihm gleich, wenn sie sich gegenseitig umbrachten; zum anderen hielt sein eigener Schmerz ihn viel zu sehr gefangen, als dass er sich um ihre Ränke geschert hätte.
Aber dann fiel ein Name, der alles für ihn änderte.
Guillaume de Rein!
Conn traute seinen Ohren nicht.
Guillaume de Rein, der Mann, der Nia auf dem Gewissen hatte und den er zu töten trachtete, war dort oben, keine fünfzehn Schritte von ihm entfernt!
Vorsichtig wagte sich Conn einen Schritt vor, um durch die Deckenöffnung einen Blick nach oben zu erhaschen, aber alles, was er sah, waren lange Schatten, die der flackernde Kerzenschein an die Wand warf. Wem die anderen Schatten gehörten, vermochte Conn nicht zu sagen – ihn interessierte nur de Rein.
In endloser Langsamkeit glitt seine Hand unter die Tunika und griff nach dem Messer. Wie Conn erkennen sollte, welcher der vier Männer Guillaume war, wie er an den anderen vorbeigelangen und den tödlichen Stoß anbringen sollte, all das wusste er nicht. Aber sein Wille, Nias Tod zu rächen und ihren Mörder der gerechten Strafe zuzuführen, war so unbändig, dass der Verstand ihm nichts entgegenzusetzen hatte.
Lautlos löste sich Conn aus seinem Versteck zwischen den Säulen, wollte zur Treppe, um sie hinaufzuhuschen – als sich plötzlich ein Gesteinsbrocken löste.
Mit einem Geräusch, das die verschwörerische Stille durchbrach, fiel er zu Boden. Und in dem Moment, als der Wortführer oben zu sprechen aufhörte, wusste Conn, dass er entdeckt war.
»Da ist jemand«, schallte es herab. »Wir wurden belauscht!«
Entsetzt prallte Conn zurück – und ihm war, als würde er plötzlich aus dem Todesrausch gerissen, in den er wegen seiner Trauer über Nias Tod verfallen war.
Glasklar stand ihm plötzlich vor Augen, wer er war und wo er sich befand. Zwar wollte er noch immer die Stufen hinauf, um Guillaume de Rein zu töten, aber das metallische Geräusch von Schwertern, die aus ihren Scheiden gerissen werden, machte ihm unmissverständlich klar, dass jeder Versuch aussichtslos, ja eine an Irrsinn grenzende Narrheit gewesen wäre. Und endlich wandte er sich zur Flucht.
»Da ist er!«, rief jemand hinter ihm, in der näselnden Sprache der Besatzer. »Ich kann ihn sehen!«
»Fasst ihn!«, brüllte ein anderer. »Wer immer es ist, er darf nicht entkommen!«
Conn war bereits an der Tür. Mit aller Kraft riss er am Riegel, aber das schwere Eisen gehorchte nicht. Schritte polterten die Stufen herab, und ein flüchtiger Blick über die Schulter zeigte Conn zwei Gestalten, die eine kräftig, die andere hager, mit blanken Klingen in den Händen. Entsetzen packte ihn, er riss noch einmal am Riegel, zerrte ihn beiseite – und riss die Tür auf.
Er prallte gegen einen Diener, den er kurzerhand zur Seite stieß. Mit wenigen Schritten war er an der Tür, die nach draußen führte, und noch ehe der Wächter reagieren konnte, war er schon hindurchgeschlüpft.
Es regnete noch immer.
Kalter Wind schlug Conn entgegen, Wasser peitschte ihm ins Gesicht. Er biss die Zähne zusammen und rannte weiter, stürmte die hölzernen Stufen hinab. Seine Hoffnung, der dichte Regenschleier möge ihn schon nach wenigen Schritten den Blicken seiner Verfolger entziehen, zerschlug sich, als er sie erneut rufen hörte.
»Da läuft er!«
»Wachen!«, schrie ein anderer. »Ein Eindringling! Fasst ihn!«
Rings um Conn wurde die Dunkelheit lebendig.
Auf den Wehrgängen der alten Römermauer, die die Festung nach Osten begrenzte, tauchten Soldaten auf, die aus den Unterständen stürmten, in die sie sich vor dem Unwetter geflüchtet hatten. Fackeln flammten auf, Helme und Speerspitzen schimmerten in der Dunkelheit. »Ein Eindringling! Fasst ihn!«, schallte der Alarmruf von den Mauern und pflanzte sich wie ein Echo fort.
Abrupt änderte Conn die Laufrichtung. Durchs Osttor zu entkommen, konnte er nun nicht mehr hoffen. So schnell seine zitternden Beine ihn trugen, rannte er weiter, die Böschung hinab, die sich zwischen dem Großen Turm und dem Innenhof erstreckte, während er hören konnte, wie seine Verfolger immer mehr wurden.
»Dort läuft er!«
»Er darf nicht entkommen!«
»Bogenschützen!«
Das Wort war kaum verklungen, als Conn bereits ein helles Surren vernahm. Instinktiv zog er den Kopf zwischen die Schultern. Der gefiederte Tod verfehlte ihn und bohrte sich in den vom Regen aufgeweichten Boden. Es war jedoch nur eine Frage von Augenblicken, bis der nächste Pfeil auf ihn abgeschossen wurde.
Die Jagd war eröffnet.
Conn rannte, so schnell die Beine ihn trugen. Eine Leiter, die an die Steinmauer angelehnt war, damit man auf den Wehrgang gelangen konnte, stach ihm ins Auge. Es gab keinen Plan, dem Conn folgte. Der pure Überlebenswille lenkte seine Schritte und ließ ihn die Sprossen erklimmen.
»Da! Er steigt die Leiter hinauf!«
»Er flieht! Schießt doch, ihr blinden Hunde …!«
Wieder war das gräßliche Flirren von Pfeilen zu hören, doch der Wind und die schlechte Sicht erschwerten den Bogenschützen ihre Arbeit. Conn zuckte zusammen, als links und rechts von ihm Geschosse in die Burgmauer schlugen. Nur eines davon blieb stecken, die anderen zerbarsten am harten Gestein. Endlich erreichte Conn das Ende der Leiter und setzte darüber hinweg auf den steinernen Wehrgang, der die Zinnen säumte – nur um sich einem Wachsoldaten gegenüber zu sehen.
Der Mann, der einen spitz geformten Helm und ein Kettenhemd trug, hatte den Speer gesenkt. Wie ein wütender Stier schnaubte er heran, bereit und willens, Conn zu durchbohren. Dieser reagierte jedoch blitzschnell, indem er sich zur Seite fallen ließ. Der tödliche Stoß ging ins Leere, und noch während er zu Boden ging, bekam Conn den Schaft des Speers kurz hinter der Spitze zu fassen. Mit dem Gewicht seines stürzenden Körpers riss er daran, was den Wächter ins Taumeln brachte. Ein dumpfer Schrei fuhr aus der Kehle des Normannen, im nächsten Moment trat sein Fuß ins Leere, und hilflos mit den Armen rudernd, verschwand er in die Tiefe.
Conn nahm sich nicht die Zeit nachzusehen, was aus ihm geworden war. Längst hatten seine Verfolger den Innenhof überquert und schickten sich ebenfalls an, die Mauer zu erklimmen. Kurzerhand packte Conn die Leiter und stieß sie um, worauf wütendes Geschrei von unten drang. Dann eilte er an die Zinnen.
Ein Blick hinab sagte ihm, dass es keine gute Idee gewesen wäre zu springen. Bis zum Boden waren es gut und gerne an die vier Mannslängen, und wenn er sich beim Aufprall die Beine brach, war nichts gewonnen. Folglich huschte er weiter, den Wehrgang hinab auf den Turm zu, der sich im südöstlichen Winkel der Burg erhob, während rings um ihn Pfeile durch die Dunkelheit zischten, einige davon weit weg, andere gefährlich nah.
»Ihr Idioten!«, hörte er eine Stimme rufen, die anders klang als die bisherigen. Autorität und unbändiger, nur mühsam in Zaum gehaltener Zorn sprachen aus ihr. »Holt ihn endlich da runter, hört ihr nicht? Muss ich erst einen von euch hängen lassen, ehe ihr gehorcht?«
Durch die Nacht und den Regen rannte Conn auf den Eckturm zu, der zugleich den Zugang zur Südmauer bildete, gegen deren Fundamente bei Flut das Wasser des Flusses schlug. Vielleicht …
Conn verlangsamte jäh seinen Schritt, als aus dem Eingang zum Turm ein dunkler Schatten trat – ein weiterer Wächter, in ledernem Waffenrock und mit Pfeil und Bogen bewehrt. Schon hatte er das Geschoss auf der Sehne und zog sie zurück. Conn tat, wozu die pure Verzweiflung ihm riet. Lauthals schreiend, um den Schützen einzuschüchtern, rannte er weiter und machte sich dabei so klein wie möglich. Die Sehne schnellte, der Pfeil zuckte ihm entgegen – und Conn fühlte einen brennenden Schmerz an seinem Hals.
Halb überrascht, noch auf den Beinen zu stehen, hastete er weiter und erreichte den feindlichen Schützen nur einen Herzschlag später. Der Mann war zu verblüfft oder entsetzt, um organisierte Gegenwehr zu leisten. Halbherzig hob er den Bogen, doch Conn warf sich mit dem ganzen Gewicht seines Körpers auf ihn, drängte ihn ins Dunkel des Turmes zurück und brachte ihn zu Fall.
Mit einem dumpfen Aufschrei gingen beide nieder, und ein verzweifelter Kampf entbrannte. Conn spürte, wie sich die Hand des Gegners um seine Kehle legte und ihm die Luft abdrücken wollte, aber infolge der Pfeilwunde, die er davongetragen hatte, war sein Hals glitschig von Blut, sodass der Normanne ihn nicht zu fassen bekam. Mit einer Drehung entwand sich Conn seinem Griff, und seine geballte Faust drosch dorthin, wo er das Gesicht des Gegners vermutete. Der Schlag blieb wirkungslos, weil er zu tief angesetzt war und nur den Kettenkragen des Wächters traf. Conn spürte, wie die Haut über den Knöcheln aufplatzte und ihm warmes Blut an der Hand herabrann. Zu einem weiteren Schlag kam er nicht, weil der Normanne nun seinerseits zuschlug, und das mit weitaus mehr Erfolg.
Conn sah Sterne vor Augen, als der mit Nieten versehene Handschutz des Bogenschützen ihn traf. Er wankte und kam seitlich zu Fall. Die Pranke seines Gegners packte ihn am Schädel und drückte ihn nieder. Vergeblich versuchte Conn sich zu befreien, schnappte in der Dunkelheit nach Luft, während er das Keuchen des Mannes im Ohr hatte, der ihm den Schädel zerquetschen wollte.
Die Sinne drohten ihm zu schwinden, als er sich plötzlich seines Traumes entsann, der blutigen Vision, die er gehabt hatte – und des Messers, das darin eine so wichtige Rolle gespielt hatte! Mit zitternden Händen griff er danach, bekam den Griff zu fassen und riss die rostige Klinge heraus.
Conn überlegte nicht lange, wie er das Messer ansetzen oder wohin er die Klinge lenken sollte. Kurzerhand stach er zu, einmal, zweimal, und plötzlich ging das Keuchen seines Gegners in einen gequälten Schrei über. »Verdammter Bastard!«
Conn schickte noch einen dritten Stich hinterher, dann schüttelte er die kraftlos gewordene Hand des Soldaten ab, rappelte sich auf die Beine und stürzte durch den Ausgang zur Südmauer nach draußen.
Er war dort nicht allein.
Nicht nur über den Burghof kamen immer mehr Wachleute und Bogenschützen angerannt; den Wehrgang herab kam eine weitere Meute, angeführt von einem hageren Kerl mit langem blondem Haar, der nur unwesentlich älter sein mochte als er selbst. In der einen Hand führte er ein blitzendes Schwert, in der anderen hielt er eine Fackel, deren Schein seine smaragdgrünen Augen gefährlich funkeln ließ. »Du!«, schrie er. »Bleib stehen!«
Conn hatte nicht vor, ihm den Gefallen zu tun. Kurzerhand wandte er sich den Zinnen zu und sprang hinauf. Den Fluss gewahrte er unter sich als tiefschwarzes Band, in das der Regen unablässig schäumende Kerben schlug. Die Tiefe, die das Wasser unterhalb der Mauer haben mochte, ließ sich unmöglich schätzen. Conn hoffte nur, dass es tief genug war.
»Er will springen! Schießt!«
Conn hörte den Befehl des Blonden, aber er scherte sich nicht darum. Als die Sehnen fauchten, hatte er bereits die Arme nach vorn geworfen und sprang so weit hinaus, wie er nur konnte, hinab in die gähnende Tiefe.
Einen kurzen Augenblick lang erfüllte ihn das triumphierende Gefühl, seinen Häschern entronnen zu sein. Dann biss ihn etwas in seinen linken Arm.
Conn kam nicht dazu, Schmerz zu empfinden oder auch nur zu erschrecken, denn der Abgrund verschlang ihn. Einen Lidschlag später stürzte er in die aufgewühlten Fluten.
Kälte umgab ihn und eine Schwärze, die dunkler war als jede Nacht. Conn merkte, wie die Strömung ihn erfasste und er zum Grund des Flusses hinabgezogen wurde. Er wollte Schwimmbewegungen machen, aber infolge des Fremdkörpers, der in seinem linken Unterarm steckte, gelang es ihm nicht. Noch ehe sich seine Lungen bemerkbar machten und ihn daran erinnerten, dass er ein menschliches Wesen war und Luft zum Atmen brauchte, spürte er den Schmerz.
Beißend.
Brennend.
Überwältigend.
Vergeblich strampelte Conn mit den Beinen.
Weder gelang es ihm, zur Oberfläche zu kommen, noch hatte er der Strömung etwas entgegenzusetzen, die ihn gnadenlos mit sich riss. Sehen konnte er nichts, ein Oben und Unten schien es nicht mehr zu geben. Alles, was er wahrnahm, war ein alles durchdringendes Rauschen, wobei er nicht zu sagen vermochte, ob es das Tosen des Flusses oder sein eigenes Blut war, das in seinen Schläfen pulsierte.
Seine Lungen drohten zu bersten, und er riss die Augen auf, sah jedoch nichts als abgründige Schwärze. Zuerst wehrte er sich noch dagegen, dann befiel ihn Gleichgültigkeit.
Seine Kräfte ermatteten, und einen Augenblick, ehe er das Bewusstsein verlor, glaubte er, noch einmal Nias zarte Lippen auf den seinen zu spüren. Ein letzter zaghafter Kuss.
Dann das Vergessen.