24.
Berge von Nakura, nördlich von Acre
23. Mai 1099
Es war eine seltsame Gestalt, die über die kargen Hügel nach Norden ritt, das Meer zur Linken und den Bergen entgegen, die sich zwischen Acre und Tyros erstreckten und ihrer treppenförmigen Anordnung wegen die »Leiter von Tyros« genannt wurden.
Auf den ersten Blick hätte man den Reiter für einen ghulam halten können, denn in seiner Kettenrüstung mit den ledergepanzerten Schulterplatten, dem leuchtend gelben Übergewand und dem Umhang aus dunkelgrüner Seide wirkte er tatsächlich wie einer jener schwergepanzerten Kämpen, die in allen muslimischen Armeen anzutreffen waren. Bei näherem Hinsehen freilich erkannte man, dass am Ende seiner aus Bambusholz gefertigten Lanze das Kreuzbanner im Wind flatterte.
Das Banner war eine Vorsichtsmaßnahme. So dankbar Conn Hauptmann Bahram dafür war, dass er ihm seine wenige Habe zurückerstattet und ihm Waffen und Rüstung gegeben hatte, so gefährlich war es andererseits, die Kleider des Feindes zu tragen. Zwar war es nicht weiter ungewöhnlich, dass christliche Ritter sich mit Ausrüstungsgegenständen ihrer Gegner ausstatteten, dennoch wollte Conn nicht Gefahr laufen, irrtümlich für einen Feind gehalten und von einem übereifrigen Posten mit Pfeilen gespickt zu werden.
Erbarmungslos trieb er den Araberhengst zur Eile an, den Bahram ihm anstelle seines eigenen Pferdes gegeben hatte. Die Hufe des Tieres schienen den sandigen Boden kaum zu berühren, so schnell galoppierten sie darüber hinweg. Conn wusste nicht genau, wo das Kreuzfahrerheer lagerte; bei Baldrics Aufbruch waren die Streiter Christi noch in der Nähe von Tyros gewesen, das einen halben Tagesritt entfernt lag. Inzwischen waren sie sicher schon weitergezogen. Wie nahe sie Acre tatsächlich bereits gekommen waren, erkannte Conn jedoch erst, als er seinen Hengst über einen ebenso schmalen wie steinigen Pfad auf einen Hügelgrat lenkte – und die Zelte gewahrte, die in der Senke unterhalb des Hügels errichtet worden waren.
Kreuzfahrer!
Die Vorhut des Heeres hatte die Leiter von Tyros also bereits erklommen und stand bereit, um gegen Acre vorzurücken. Die Zeit drängte also noch mehr, denn wer vermochte zu sagen, was aus Baldric werden würde, wenn die Kreuzfahrer erst die Stadtmauern bestürmten? Und was aus Chaya?
Der Hengst schien die Unruhe seines Reiters zu spüren, denn er bäumte sich wiehernd auf und tänzelte auch dann noch hin und her, als Conn beruhigend auf ihn einsprach und ihm den Hals tätschelte. Dann trieb er das Tier die andere Seite des Bergrückens hinab, den Zelten und seinem Schicksal entgegen.
»Du bist also tatsächlich gekommmen.«
Guillaume de Rein schien einen Anflug von Bewunderung zu empfinden, während er Conn von Kopf bis Fuß musterte. Vor allem aber war es Häme, die aus den Worten des jungen Barons sprach.
»Ja, Herr«, erwiderte Conn, wobei er sich mit aller Macht davon abhalten musste, auf seinen Erzfeind loszugehen. Zwar hatte man ihm alle seine Waffen abgenommen, sodass es wohl ein ziemlich aussichtsloses Unterfangen gewesen wäre, jedoch war der Zorn, den er empfand, als er Nias Mörder Auge in Auge gegenüberstand, geradezu überwältigend.
»Um ehrlich zu sein, habe ich nicht daran gezweifelt«, tönte Guillaume, der auf einem mit kunstvollen Ziselierungen versehenen Hocker saß. »Schließlich hat unser gemeinsamer Freund Berengar mir berichtet, in welch engem Verhältnis du zu der Jüdin stehst.«
Conn würdigte den Mönch, der im hinteren Bereich des Zeltes stand, keines Blickes. Wäre es nur um den Vertrauensbruch gegangen und den Diebstahl des Buchs, hätte Conn ihm vielleicht irgendwann verzeihen können. Da er nun auch noch Chayas Leben gefährdete, war dies jedoch unmöglich geworden.
»Wo ist Chaya?«, fragte Conn.
»Sei beruhigt«, versicherte Guillaume auf seine gewohnt herablassende Art. »Sie ist in Sicherheit.«
»Ich will sie sehen.«
»Du hast nichts zu fordern, Angelsachse.«
»Dann werdet Ihr auch nichts bekommen«, entgegnete Conn ruhig.
Einen Augenblick lang wurde es still im Zelt, während die beiden Kontrahenten einander mit Blicken taxierten und Guillaume zu überlegen schien, ob er ihn auf der Stelle oder erst etwas später töten sollte.
»Wie du willst, Angelsachse«, knurrte Guillaume und machte ein nachlässige Handbewegung. Zwei seiner Ritter, die in einem Halbkreis um Conn herumstanden, verließen daraufhin das Zelt. Nur Augenblicke später kehrten sie in Begleitung einer jungen Frau zurück.
»Chaya!«
»Conn!«
Die Hoffnung, die er in ihren Augen sah, entschädigte ihn für alles. Chaya schien wohlauf zu sein. Sie war an den Händen gefesselt, aber offenbar hatten de Reins Schergen sie nicht misshandelt.
»Nun?«, erkundigte sich Guillaume. »Ich habe meinen Teil des Handels eingelöst. Nun erfülle du den deinen.«
Chaya sagte nichts, aber aus dem Augenwinkel sah Conn, wie sie sich verkrampfte. Vermutlich hatte man ihr gesagt, aus welchem Grund sie festgehalten wurde, und nun schien ihr aufzugehen, welch hoher Preis für ihre Freilassung entrichtet werden sollte.
Conn stand unbewegt. Wie lange hatte er auf eine Gelegenheit wie diese gewartet! Wie lange darauf gesonnen, Renald de Reins Sohn gegenüberzustehen und ihn für seine Untaten zu bestrafen! Doch noch war die Zeit nicht reif dafür.
Sich mit aller Macht zur Ruhe zwingend, griff Conn unter seinen Umhang und holte einen Behälter hervor, jenem nicht unähnlich, in dem auch Chaya das Buch von Ascalon einst aufbewahrt hatte. Das Siegel Salomons allerdings fehlte, denn gewöhnlich wurden Depeschen fatimidischer Boten darin aufbewahrt.
»Oh, nein, Conn«, flüsterte Chaya kopfschüttelnd. Tränen stiller Verzweiflung rannen ihr über die Wangen. »Was hast du nur getan?«
»Ich konnte nicht anders«, erwiderte er und hielt Guillaume den Köcher entgegen.
»Berengar«, sagte der Baron nur, worauf sich der Mönch in Bewegung setzte und auf Conn zutrat. Den Blick allerdings hielt er weiter gesenkt, auch dann, als er den Behälter entgegennahm. Hastig öffnete er die Verschlusskappe, entnahm ihm das Pergament, entrollte es und begann zum sichtlichen Vergnügen seines Auftraggebers darin zu lesen.
»Und?«, erkundigte sich Guillaume mit dem Lächeln des Triumphators. »Ist das der Text, der dir entwendet wurde?«
Berengar antwortete nicht sofort. Stattdessen las er noch einige Zeilen, dann übersprang er einige Abschnitte und entrollte das Buch weiter, so als suche er eine bestimmte Stelle.
»Was ist?«, fragte Guillaume ungeduldig.
»Das kann nicht sein«, stieß der Mönch hervor. Seine Hände begannen zu beben.
»Was kann nicht sein? Wovon sprichst du?«
»E-es ist nicht der richtige Text! Es ist eine Fälschung!«
»Was?«
Guillaume sprang auf. Das Siegerlächeln war aus seinen bleichen Zügen verschwunden, Mordlust loderte in seinen Augen.
»Das ist nicht wahr!«, widersprach Conn entschieden. »Dies ist die Schriftrolle, die ich aus Eurem Besitz entwendet habe!«
»Nein, sie ist es nicht.« Berengar schüttelte beharrlich das geschorene Haupt, und erstmals brachte er es über sich, Conn ins Gesicht zu sehen. »Diese Schrift ist eine Fälschung, das Pergament nicht wert, auf das sie geschrieben wurde.«
»Eine Fälschung«, echote Guillaume keuchend. »Du verfluchter Hund von einem Angelsachsen wagst es, mit einer Fälschung zu mir zu kommen? Hast du geglaubt, ich würde es nicht bemerken?«
»Ich weiß nichts von einer Fäschung«, beteuerte Conn, während er in Chayas Richtung zurückwich. Guillaumes Schergen hatten bereits ihre Klingen gezückt, sodass beide von blankem Stahl umgeben waren.
»Es ist eine Fälschung, so wahr ich vor Euch stehe, Herr«, beharrte Berengar. »Dies ist nicht das Buch, in dem ich einst gelesen habe, das schwöre ich bei meiner unsterblichen Seele!«
»Lügner!«, rief Conn.
»Willst du einen Mann der Kirche der Lüge bezichtigen,
noch dazu, wenn er bei seiner Seele schwört?«, fragte Guillaume, der nun seinerseits nach dem Schwert griff. »Du nichtswürdiger kleiner Cretin hast meine Kreise zum letzten Mal gestört! Ich werde dich bei lebendigem Leibe aufschlitzen und deine Gedärme an die Hunde verfüttern, und deine Judenbraut werde ich durchs Lager treiben, damit jedermann sein Vergnügen mit ihr hat, ehe ich sie auf dem Scheiterhaufen verbrennen lasse!«
»Mit mir mach, was du willst, aber sie lass gehen«, erwiderte Conn und legte schützend den Arm um Chayas vor Furcht bebende Gestalt – auch wenn ihm klar war, dass die Geste angesichts der Bedrohung geradezu lächerlich wirken musste.
»Angelsächsischer Bauer, du hast mir nichts zu befehlen. Den Idioten, der sich mein Vater nannte, magst du mit deinem erbärmlichen Edelmut beeindruckt haben, mich nicht. Deine Judenbraut wird genau wie du für ihre Frechheit bezahlen!«
»Nein!«, schrie Conn. »Du wirst ihr nichts antun!«
Guillaume, der jetzt unmittelbar vor ihm stand, das Schwert stoßbereit erhoben, grinste. »Willst du mir etwa drohen?«
»Ich werde kein zweites Mal dabeistehen und zusehen, wie du jemanden umbringst, Guillaume de Rein.«
»Kein zweites Mal?« Guillaume hob eine schmale Braue.
»Ihr Name war Nia«, stieß Conn hervor. »Du hast sie vergewaltigt und so schwer misshandelt, dass sie daran starb.«
»Wann und wo soll das gewesen sein?«
»In London, vor drei Jahren.«
Guillaume hob auch noch die andere Braue. »Und du erwartest, dass ich mich daran erinnere?«
»Du solltest dich erinnern, elender Bastard«, antwortete Conn in dem Wissen, dass es die letzten Worte sein würden, die er im Leben sprach. »Denn sie war die Frau, die ich liebte und mit der ich eine Familie gründen wollte.«
»Tatsächlich? Du scheinst in der Wahl deiner Weiber nicht sehr wählerisch zu sein.«
Conn kam es vor, als verlöre er den Boden unter den Füßen.
Alles was er sah, waren die blassen, von blondem Haar umrahmten Gesichtszüge seines Feindes, aus denen ihm Hohngelächter entgegenschlug, und der überwältigende Wunsch, sie zum Verstummen zu bringen, ergriff von ihm Besitz.
Ein Ruck durchlief ihn, mit bloßen Fäusten wollte er sich auf seinen Erzfeind stürzen – und wäre geradewegs in dessen offene Klinge gerannt. Dass es nicht dazu kam, lag an Chaya, die sich an ihn klammerte und ihn mit aller Kraft zurückhielt.
»Nicht!«, schrie sie, während Guillaume weiterlachte und Conn versuchte, sich aus ihrer Umklammerung zu befreien, rasend vor Wut und Schmerz. Dann plötzlich änderte sich die Situation.
Das Reißen von Stoff war zu hören, helles Tageslicht fiel ins Zelt. Nicht nur Conn und Chaya, auch Guillaume de Rein und seine Leute fuhren verblüfft herum und sahen, wie die Seitenwände des Zeltes mit blanken Klingen aufgeschnitten und heruntergerissen wurden.
Die Soldaten, die dies taten, waren provenzalische Kämpfer. Ihnen zu Füßen lagen die mit Pfeilen gespickten Leichen von Guillaume de Reins Wachen, im Hintergrund lauerten noch mehr bis an die Zähne bewaffnete Streiter, zu Fuß und zu Pferde, die das Zelt umzingelt zu haben schienen.
»Was, in aller Welt, hat das zu bedeuten?«, begehrte der Baron auf. »Seid ihr von Sinnen?«
Einige der Reiter lösten sich aus dem Kordon und lenkten ihre Tiere auf das Zelt zu. Ihr Anführer war ein Mann, dessen Gesichtszüge Conn entfernt bekannt vorkamen. Er war von mittlerer Größe und hatte kurz geschnittenes Haar, ein wattiertes Gewand und ein weiter Umhang bildeten seine Kleidung.
»Das will ich Euch sagen, Guillaume de Rein«, erhob der Fremde die Stimme. »Ich bin Hugo, Graf von Monteil – und bezichtige Euch des Mordes an meinem Bruder Adhémar!«
Hätte ein Blitz in das karge Gestrüpp eingeschlagen, das die Lagerstätte umgab, und es in helle Flammen gesetzt, die Reaktionen hätten nicht heftiger ausfallen können. Guillaume de Rein erbleichte, was bei seinen ohnehin schon farblosen Zügen geradezu grotesk wirkte, während sich seine Gefolgsleute lautstark empörten. Mit blanken Waffen scharten sie sich schützend um ihren Anführer, dessen Gesicht allmählich wieder an Farbe gewann.
»Was Ihr da behauptet, Monsieur, ist unerhört und entbehrt jeder Grundlage!«
Hugo von Monteil – immerhin wusste Conn nun, warum dessen Miene ihm vertraut erschienen war – zügelte sein Pferd. »Es gibt Beweise, die meinen Verdacht erhärten. Sie sollen vor dem Fürstenrat gehört werden.«
»Ihr wollt mich vor ein Gericht schleppen?« Guillaumes Augen weiteten sich, dass es den Anschein hatte, als wollten sie herausfallen. »Mich, einen Baron von vornehmem normannischem Geblüt?«
»Nicht der Baron ist es, den ich zur Rechenschaft ziehen will, sondern der Mörder.«
»Schöne Worte. Und wo sind die Beweise, von denen Ihr so vollmundig sprecht? Habt Ihr einen Zeugen, der gesehen haben will, wie ich Euren werten Bruder erstach?«
Die Mundwinkel des Herrn von Monteil fielen vor Abscheu nach unten. Zu Conns Überraschung blieb Graf Hugo jedoch eine Antwort schuldig. Stattdessen spähte er verstohlen und – so schien es jedenfalls – hilfesuchend zu Berengar, der sich bislang auffallend zurückgehalten hatte. Und wie ein Geschoss, das er von sich ablenkte, schickte der Mönch den Blick des Grafen an Conn weiter.
»Wohlan«, sagte Hugo daraufhin und nickte beruhigt. »Zwar kann ich nicht beweisen, dass Ihr, Guillaume, meinen Bruder eigenhändig gemeuchelt habt …«
»Sieh an«, tönte der Beschuldigte.
»… jedoch kenne ich einen Zeugen, der vor Gott und aller Welt beschwören kann, dass Ihr kein Mann von Ehre seid und vor keiner noch so verwerflichen Untat zurückschreckt, um Eure Macht und Euren Einfluss zu mehren. Nicht wahr, Conwulf?«
Conn stand, als hätte ihn ein Schwertstreich getroffen.
Nun erst begriff er, worauf all dies hinauslief und dass Guillaume de Rein offenbar nicht der Einzige gewesen war, der einen Köder ausgelegt und eine Falle gestellt hatte. Auch Hugo von Monteil war auf Vergeltung aus, und Conn sollte sein Werkzeug sein.
Woher der Graf von den Ereignissen von London wusste, vermochte Conn nicht zu sagen, aber die Anspielung war zu eindeutig gewesen, als dass etwas anderes damit gemeint sein konnte. Irgendwie hatte er davon erfahren, und Berengar schien dabei zumindest eine Rolle gespielt zu haben, auch wenn Conn keine Ahnung hatte, wie …
»Schon wieder du?« Mit geringschätzigem Blick wandte sich Guillaume zu ihm um. »Was hast du zu sagen, Angelsachse? Was, das dich nicht vor aller Welt als Lügner entlarvt?«
»Sprecht, Conwulf«, forderte auch Hugo ihn auf. »Seid ehrlich und offen und Ihr habt nichts zu befürchten.«
Verblüfft schaute Conn von einem zum anderen, und er begriff, dass dies der Augenblick war, auf den er drei lange Jahre gewartet hatte.
Der Augenblick der Wahrheit.
Mit pochendem Herzen löste er sich aus Chayas Umarmung und trat einen Schritt vor, um deutlich zu machen, dass sie mit dem, was folgen würde, nichts zu tun hatte.
»Es war vor drei Jahren«, begann er, und es klang in seinen Ohren so seltsam, dass er das Gefühl hatte, einem Fremden zuzuhören. »Ich liebte eine junge Frau, eine walisische Leibeigene, die dieser Mann« – er deutete auf Guillaume – »so brutal vergewaltigt hat, dass sie in meinen Armen starb. Daraufhin schwor ich ihm bittere Rache, und ich schlich mich in den Turm von London mit dem festen Vorsatz, ihn in dieser Nacht zu töten. Doch was ich stattdessen erfuhr, änderte alles.«
Guillaume zuckte zusammen.
Es war unmöglich festzustellen, ob ihm in diesem Augenblick dämmerte, von welcher Nacht in London Conn sprach, aber seine anfängliche Selbstsicherheit schien zumindest Risse zu bekommen.
»Was habt Ihr erfahren, Conwulf?«, verlangte Graf Hugo zu wissen.
»Ich hörte, wie jemand einen feigen Plan schmiedete, ein hinterhältiges Komplott mit dem Ziel, Robert, den Herzog der Normandie, zu ermorden und auf diese Weise seine Ländereien, die er seinem Bruder König William von England verpfändet hatte, wieder unter dessen Krone zu vereinen. Und der Mann, der sich bereitwillig erbot, den tödlichen Streich gegen den Herzog der Normandie zu führen, war kein anderer als Guillaume de Rein!«
»Das ist nicht wahr! Nicht ein einziges Wort davon!«
Obwohl Guillaume wie von Sinnen schrie und Conns Aussage aufs Heftigste bestritt, waren die Worte ausgesprochen, und sie verfehlten ihre Wirkung nicht. Nicht nur die Ritter und Soldaten aus dem Gefolge Graf Hugos, sogar Guillaumes eigene Leute tauschten fassungslose Blicke und taten lautstark ihre Ablehnung kund. Eines Mordkomplotts bezichtigt zu werden, war an sich schon ehrabschneidend; beschuldigt zu werden, aus niederer Gewinnsucht einen Fürsten ermorden zu wollen, der noch dazu ein Kreuzfahrerbruder war, gab Anlass zum Aufruhr.
»Elender Lügner!«, schrie Guillaume mit zornesroter Miene und hob sein Schwert, um Conn damit niederzustechen. »Ich werde dir dein Schandmaul für immer stopfen!«
Chaya schrie entsetzt auf, und womöglich hätte der Schwertstreich Conn tatsächlich getroffen, wäre dieser nicht blitzschnell zurückgewichen. Dabei verlor er jedoch das Gleichgewicht und fiel hin. Sofort war Guillaume über ihm und holte aus, um die Klinge tief in seine Brust fahren zu lassen, aber plötzlich war der Graf von Monteil zwischen ihnen, und als der Stahl niederging, traf er lediglich auf Hugos Schild. Zu einem weiteren Hieb kam Guillaume nicht mehr. Bogenschützen traten vor, die seine Leute und ihn in Schach hielten.
»Das ist unerhört! Auch für das, was dieser verleumderische Bauer sagt, gibt es nicht einen einzigen Beweis!«
»Wir haben seine Aussage,vorgetragen vor Dutzenden von Zeugen«, sagte Graf Hugo.
»Und Ihr habt die meine. Und ich sage, dass der Angelsachse Conwulf ein Dieb und ein Lügner ist!«
»Damit steht Aussage gegen Aussage«, resümierte der Graf, der mit dem Einwand gerechnet zu haben schien. »Wir werden die Sache vor den Fürstenrat bringen, aber wir alle wissen, was weltliche wie geistliche Fürsten in einem Fall wie diesem beschließen werden.«
»Ein Gottesurteil«, rief jemand.
»Ein Schwertkampf auf Leben und Tod.«
»Seid Ihr bereit, Euch einem solchen Urteil zu stellen, Conwulf?«, wandte sich Hugo an Conn.
Conn kauerte noch immer auf dem Boden. Chaya war zu ihm geeilt und klammerte sich an ihn wie eine Ertrinkende, während sein Verstand mit der Entwicklung der Ereignisse Schritt zu halten suchte. Eben noch wähnte er sich in Guillaume de Reins Gewalt, und nun bekam er die Chance, auf Leben und Tod gegen diesen zu fechten.
Beklommen erinnerte sich Conn, was Bertrand ihm einst über Guillaumes herausragende Kampfeskünste gesagt hatte; dazu kam, dass er selbst noch geschwächt war von den Folgen seiner Misshandlung in der Gefangenschaft. Aber wenn ihm die Gelegenheit zur Rache so bereitwillig dargeboten würde, so musste er sie ergreifen, zumal er nichts mehr zu verlieren hatte.
»Ich bin dazu bereit«, erklärte Conn mit fester Stimme. Chaya neben ihm zuckte zusammen, aber sie sagte kein Wort.
»Mag er bereit sein, ich bin es nicht«, erklärte Guillaume kopfschüttelnd. »Wann hätte man je gehört, dass ein Edler sich einem hergelaufenen Bauern zu stellen hätte?«
»Conwulf ist kein Bauer, Monsieur«, brachte Hugo in Erinnerung. »Er ist der rechtskräftig adoptierte Sohn Baldrics, eines normannischen Ritters …«
»… der bei seinem Vater wie bei seinem Herrn in Ungnade gefallen ist und Titel und Namen verloren hat«, spottete Guillaume. »Erwartet Ihr, dass ich einem solchen Niemand gegenübertrete?«
»Außerdem«, fuhr Hugo unbeirrt fort, »ist Conwulf ein ehrbarer Streiter Petri, rechtmäßig in den Adelsstand erhoben von meinem Bruder, dem Bischof von Le Puy, kurz bevor dieser starb.«
»Ihr lügt!«
»Ein Medaillon mit dem Symbol des Labyrinths, geteilt durch das Kreuz Christi, ist das Erkennungszeichen jener Auserwählten. Herr Conwulf – wollt Ihr so gnädig sein und dem Baron jenes Zeichen zeigen?«
Mit bebenden Händen griff Conn unter Rüstung und Tunika und beförderte die Lederschnur mit dem Anhänger zutage. Aller Augen richteten sich darauf, und nun, da Graf Hugo die Wahrheit seiner Worte so eindrucksvoll bewiesen hatte, konnte sich Guillaume de Rein seiner Verantwortung nicht mehr länger entziehen.
Die beiden Kontrahenten würden einander gegenübertreten, und nur einer von ihnen würde den Kampfplatz lebend verlassen.
Der die Wahrheit sprach, würde obsiegen.
Der Lügner im Sand verbluten.
Dies war Gottes Gericht.
Lager der Kreuzfahrer, Nakura
Nacht zum 24. Mai
Das Zelt, das man Conn zugewiesen hatte, befand sich ein Stück außerhalb des Lagers. Man hatte ihm zu essen und zu trinken gebracht und eine Wasserschüssel, damit er sich reinigen konnte, ihm gleichzeitig aber auch zu verstehen gegeben, dass er das Zelt bis zum Morgengrauen nicht verlassen dürfe. Posten aus dem Gefolge Hugo von Monteils bewachten die Behausung, wobei Conn nicht genau zu sagen wusste, ob sie ihn beschützen oder daran hindern sollten, sich unerlaubt zu entfernen.
Entsprechend hatte er von dem, was sich den Tag über im Lager ereignet hatte, nichts mitbekommen. Weder wusste er, ob der Fürstenrat Kenntnis erhalten hatte von der ungeheuren Beschuldigung, noch wie Herzog Robert darauf reagiert hatte. Und er gab sich auch keinen Illusionen hin. Weder über die Beweggründe Graf Hugos, der sich zwar als sein Gönner gebärdete, dem es in Wahrheit jedoch nur darum ging, den Tod seines Bruders auf bequeme und für ihn ungefährliche Weise zu rächen; noch über den mutmaßlichen Ausgang des Kampfes.
Während Guillaume de Rein der Spross eines normannischen Ritters war und von Geburt an gelernt hatte, mit dem Schwert umzugehen, war Conn erst vergleichsweise spät darin unterrichtet worden. Auch was sein Geschick als Reiter betraf, war er seinem Gegner fraglos unterlegen. Fast mit Wehmut erinnerte sich Conn an die Lektionen, die Baldric ihn gelehrt hatte, damals im Winterlager von Kalabrien. Sein Adoptivvater hatte ihm eingeschärft, auf Schnelligkeit zu setzen, wo es ihm an Erfahrung mangelte, und Conn hatte sich stets daran gehalten. Sein Reaktionsvermögen jedoch hatte durch Folter und Gefangenschaft gelitten, sodass er nicht sicher war, inwiefern er sich auf jene Tugenden würde verlassen können. Conn konnte nur hoffen, dass der Herr auf seiner Seite sein würde, ansonsten war er verloren.
»Conwulf?«
Als die Stimme ihn aus seinen Gedanken riss, fand er sich selbst auf dem Boden des Zeltes kniend, die Hände vor der Brust gefaltet. Er hatte beten wollen, um den Allmächtigen Herrn um Beistand zu bitten, aber seine Gedanken waren abgeschweift, wieder und wieder.
»Ja?«, fragte er und erhob sich.
Der Zelteingang wurde geteilt, und ein hagerer Mann trat ein, der sich so tief in seinen Umhang und seine Kapuze gehüllt hatte, dass er nicht zu erkennen war.
»Wer seid Ihr?«, wollte Conn wissen, worauf der andere die Kapuze abstreifte und sich zu seiner vollen Größe aufrichtete.
Das Antlitz des Fremden wirkte vornehm. Seine Haare waren nicht lang und feuerfarben wie beim roten Rufus, sondern blond und nach Normannenart geschnitten, auch war die Gesichtsfarbe weniger blass; dennoch war eine gewisse Familienähnlichkeit zwischen dem König von England und dem unerwarteten Besucher nicht zu leugnen.
»Weißt du, wer ich bin?«
»Ja, Herr.« Conn nickte und verbeugte sich. »Ihr seid Robert, der Herzog der Normandie.«
»Der bin ich – auch wenn ich meine Herrscherpflichten seit nunmehr drei Jahren nicht wahrgenommen und mich auf dieses große Wagnis begeben habe, an dem wir alle teilnehmen.« Er unterbrach sich und musterte Conn mit aufmerksamem Blick. »Ist es wahr, was Ihr behauptet? Mein Bruder will meinen Tod?«
»Ja, Herr.«
Robert verzog den Mund zu einem schmerzlichen Lächeln. »Eine solche Behauptung sollte ich eigentlich als dreiste Lüge abtun und dir dafür die Zunge herausschneiden lassen. Die Wahrheit jedoch ist, dass ich meinem Bruder nicht trauen kann. Ich weiß, dass er mir meinen Besitz neidet und die Herrschaft, die unser Vater mir all unseren Streitigkeiten zum Trotz übertragen hat, und ich kenne ihn gut genug, um zu wissen, dass ihm feiger Meuchelmord durchaus zuzutrauen ist. Deswegen, Conwulf, stehe ich in diesem Kampf auf deiner Seite.«
»Ich danke Euch, Herr.«
»Als Mitglied des Fürstenrates habe ich mich offizell so lange neutral zu halten, bis der höchste Richter sein Urteil gefällt hat – doch unter vier Augen sage ich dir, dass meine guten Wünsche dich begleiten. Solltest du siegen und die Wahrheit deiner Worte beweisen, so werde ich mich erkenntlich zeigen.«
»Danke, Herr«, sagte Conn noch einmal.
»Du hast eine Rüstung?«
»Ja, Herr«, bestätigte Conn und deutete auf die Orientalenrüstung, die er noch immer trug.
»Auch eine Klinge?«
Conn bejahte abermals und zeigte die Klinge an seiner Seite.
»Bist du gewohnt, ein gekrümmtes Schwert zu führen?«, erkundigte sich Robert.
»Nein, Herr«, gestand Conn ehrlich.
»Sein Gewicht ist anders verteilt als bei unseren Klingen«, erläuterte der Herzog. »In den Händen eines erfahrenen Kämpfers vermag es schnell und furchtbar zuzuschlagen. Demjenigen, der damit nicht umzugehen weiß, trägt es jedoch erhebliche Nachteile ein, zumal es nur auf einer Seite scharf geschliffen ist.« Kurz entschlossen griff Robert an seinen eigenen Waffengurt und zog sein Breitschwert, dessen Klinge schartig, jedoch aus gutem Stahl gearbeitet war. »Hier«, sagte er, während er Conn die Waffe mit dem Griff voraus reichte. »Wer für die Wahrheit streitet, sollte wohlgerüstet in den Kampf gehen.«
Conn zögerte nur einen Augenblick, dann griff er nach der Waffe. Sie war leichter als jede andere Klinge, die er je getragen hatte; die Parierstange war leicht gebogen, der halbkugelförmige Knauf so gehalten, dass er die Waffe trefflich ausbalancierte. Conn führte ein, zwei Hiebe damit, und es schmiegte sich so vollendet in seine Rechte, als hätte es nie einen anderen Besitzer gehabt.
»Ich danke Euch, Herr«, sagte er abermals und verbeugte sich.
Robert nickte nur, nahm auch das Schwertgehänge ab und reichte es Conn. Dann schlug er erneut die Kapuze über sein Haupt, wandte sich ab und verließ das Zelt.
Conn blieb zurück, allein mit den Gedanken, Ängsten und Sorgen, die ihn quälten. Auf das Schwert des Herzogs gestützt, ließ er sich erneut nieder, um zu beten.