19.
Inzwischen war die Dunkelheit hereingebrochen, doch die Suche nach ihm dauerte noch immer an.
Conn hatte alles versucht, um in den steingrauen Gassen des jüdischen Viertels zu verschwinden, aber es war ihm nicht recht gelungen. Obschon er seinen angelsächsischen Schopf unter der Kapuze zu verbergen suchte, war er immer wieder entdeckt worden. Die Nachricht, dass sich ein Feind in der Stadt aufhielt, hatte sich wie ein Lauffeuer verbreitet, sodass ihm nicht nur mehr die Bürgerwehr auf den Fersen war.
Conn wusste nicht, was Caleb seinen Vorgesetzten erzählt hatte, aber offenbar war es genug gewesen, um seinetwegen die gesamte Garnison in helle Aufregung zu versetzen. In den Straßen und Gassen wimmelte es von Soldaten in orangefarbenen Mänteln, Bogenschützen mit hohen Turbanen auf den Köpfen besetzten die Türme und hielten mit Argusaugen Ausschau. Daran, ungesehen aus dem Viertel zu entkommen und die Stadt durch eines der Tore zu verlassen, war längst nicht mehr zu denken. Wenn Conn überhaupt noch Hoffnung hatte, seinen Häschern zu entrinnen, dann nur, indem er sich irgendwo versteckte und darauf wartete, dass der Feind die Suche aufgab. Im Augenblick allerdings schien diese Hoffnung ziemlich gering.
In eine enge Mauernische gepresst, wartete Conn ab.
Er war erschöpft vom schnellen Laufen und Klettern, sein Atem ging keuchend und stoßweise. Zweimal hatten sie ihn entdeckt, zweimal war er ihnen wieder entkommen. Das nächste Mal würde er womöglich weniger Glück haben.
Zwar verstand Conn nicht, was die Soldaten einander zuriefen, aber es klang nicht freundlich. Hin und wieder glaubte er das Wort franca zu hören, was wohl »Franke« oder ganz allgemein »Europäer« heißen sollte. Dass er kein Franke war, interessierte hier niemanden. Er war ein Fremder, ein Eindringling, und vermutlich hielten sie ihn für einen Spion der Kreuzfahrer. Darüber, was mit ihm passieren würde, wenn sie ihn fassten, machte Conn sich folglich keine Illusionen. Dennoch war er froh, allein nach Acre gekommen zu sein und nicht in Baldrics Begleitung. Das Wissen, nun auch noch seinen Adoptivvater, dem er so viel zu verdanken hatte, in die Sache hineingezogen zu haben, hätte ihn umgebracht.
Klirrende Schritte waren plötzlich zu vernehmen, die genau auf ihn zukamen. Fackelschein drang in die Gasse, dem lange, bizarr anmutende Schatten vorauseilten.
Conn musste verschwinden!
Blitzschnell löste er sich aus seinem Versteck und eilte die Gasse hinab. Dass das Licht der Fackeln ihn einen Augenblick lang streifte, konnte er nicht verhindern, und so hörte er schon im nächsten Moment heisere Rufe hinter sich.
Conn rannte, so schnell seine müden Beine ihn trugen. Der schwere Umhang um seine Schultern war ihm beim Laufen hinderlich, aber er hatte ihn behalten, weil er Schutz vor Blicken bot. Er hörte die stampfenden Schritte seiner Verfolger hinter sich, wagte jedoch nicht, sich umzusehen, aus Furcht, dabei zu viel Zeit zu verlieren.
Abrupt bog er in eine Seitengasse ab. Die Hauswände, zwischen denen sie sich hindurchwand, hatten sich einander zugeneigt, sodass sie mit hölzernen Balken gegeneinander abgestützt werden mussten. Conn folgte ihnen durch ein Gewirr von Ecken und Vorsprüngen, die Soldaten noch immer hinter sich – als die Gasse plötzlich endete.
So unvermittelt tauchte die Mauer aus dem Halbdunkel auf, dass Conn beinahe dagegengeprallt wäre. Entsetzt blieb er stehen, schaute sich nach einer Tür oder einem Fenster um, aber es gab weder das eine noch das andere. Dann der Blick nach oben – und kurz entschlossen sprang Conn hinauf, umfasste einen der Balken und zog sich daran empor.
Mit zusammengebissenen Zähnen stemmte er sich vollends hinauf – und das keinen Augenblick zu früh. Schon konnte er sehen, wie unter ihm seine mit Fackeln bewehrten Häscher das Ende der Gasse erreichten. Unter verblüfftem Geschrei blieben sie stehen, konnten sich einen Moment lang nicht erklären, wohin der Eindringling verschwunden war – bis einer von ihnen den Blick nach oben richtete und Conn gewahrte.
»Franca!«
Conn hatte die Zwischenzeit genutzt, um sich nach einem Ausweg umzusehen. Ein Stück die Gasse hinab gab es einen Balkon, von dem aus er auf das Dach eines benachbarten Hauses gelangen konnte. Da nicht viel Zeit zum Nachdenken blieb, spurtete Conn einfach los – in riesigen Sprüngen von einem Stützbalken zum nächsten, über die Köpfe seiner verblüfften Verfolger hinweg.
Es kam ihm zugute, dass sich die Meute in der Enge der Gasse gegenseitig behinderte. Um einen Speer auf ihn zu schleudern, dazu reichte der Platz nicht aus, und bis die Bogenschützen dazu kamen, die Pfeile von den Sehnen schnellen zu lassen, hatte Conn den Balkon bereits erklommen. Er duckte sich, worauf eines der gefiederten Geschosse am Mauerwerk zerbarst; ein weiteres zuckte an ihm vorbei ins Leere. Blitzschnell federte Conn aus seiner Deckung empor, kletterte auf das flache, in der Mitte von einer Kuppel gekrönte Dach und hastete weiter. Die wütenden Rufe der Soldaten fielen hinter ihm zurück, und einen Moment lang glaubte Conn bereits, wieder aufatmen zu können – als aus der Gasse, die auf der anderen Seite des Hauses verlief, ein nicht weniger aufgeregter Schrei drang.
Sein Vorhaben, auf dieser Seite des Gebäudes wieder hinunterzuklettern, verwarf Conn rasch wieder. Stattdessen schlug er einen Haken. Ohne Anlauf zu nehmen, sprang er über eine Kluft von gut fünf Schritten auf das nächste Dach, das so flach war wie ein Tisch. Er rollte sich ab, sprang wieder auf die Beine und lief über eine Reihe aneinandergrenzender Dächer bis zu einer Palme, die sich aus einem Dachgarten erhob. Kurzerhand kletterte Conn daran herab und wollte über das steinerne Geländer einen vorsichtigen Blick in die darunter verlaufende Gasse werfen, als ihm von dort etwas entgegenkam.
Es war ein Stein, auf den Weg gebracht von der Schleuder eines Soldaten – und er traf Conn an der Schläfe.
Der Schmerz war ebenso kurz wie intensiv.
Conn merkte noch, wie er wankte, dann wurde es dunkel um ihn. Als er die Augen wieder aufschlug, konnten nur wenige Augenblicke verstrichen sein. Er fand sich auf dem Boden des Dachgartens liegend, an Händen und Füßen gefesselt, und blickte zu einem Mann auf, der mit verschränkten Armen über ihm stand und ihn argwöhnisch musterte.
Er mochte noch keine fünfzig Winter zählen; sein schwarzes Haar, soweit man es unter dem Turban sehen konnte, war von grauen Fäden durchzogen, ebenso wie der gepflegte Kinnbart. Seiner Kleidung nach gehörte er zur fatimidischen Garnison, wo er den Rang eines Unterführers zu bekleiden schien. Er fragte etwas, das Conn nicht verstand – es mochte Persisch oder Aramäisch sein, und eine Stimme, die er nur zu gut kannte, übersetzte.
»Was willst du hier?«
Conn wandte den Blick und sah Caleb neben dem Offizier stehen, ein Grinsen der Genugtuung im Gesicht. Die Erinnerung an die zurückliegenden Ereignisse war Conn sofort wieder gegenwärtig – bis hin zu dem Stein, der ihn getroffen hatte. Blut rann warm und feucht an seiner Schläfe herab. Er versuchte sich aufzurichten, aber es gelang ihm nicht, weil Caleb ihm den Fuß auf die Schulter setzte und ihn wieder zu Boden drückte.
»Hauptmann Bahram hat dich gefragt, was du hier willst«, wiederholte Chayas Cousin eindringlich.
»Du weißt, warum ich hier bin«, erwiderte Conn stöhnend.
»Warum beantwortest du seine Frage nicht?«
Caleb sprach einige Worte in einer fremden Sprache, die Conn für Aramäisch hielt, woraufhin der Hauptmann Conn prüfend musterte und dann erneut einige Worte sagte.
»Was will er?«, fragte Conn.
»Er fragt dich, ob du dir der Folgen deines Schweigens bewusst bist.«
»Ich schweige nicht«, versicherte Conn. »Sag ihm, dass ich um Chayas willen nach Acre gekommen bin. Dass sie die Mutter meines Kindes ist.«
Caleb sprach einige Worte. Ob er allerdings tatsächlich übersetzte, bezweifelte Conn ernstlich. Denn auf der dunklen Stirn des Hauptmanns bildeten sich Zornesfalten, und er stieß erneut einige unfreundlich klingende Sätze hervor.
»Hauptmann Bahram empfiehlt dir, nicht mit ihm zu spielen«, übertrug Caleb genüsslich ins Französische. »Er weiß, dass du ein Spion der Kreuzfahrer bist.«
»Woher weiß er das?«
»Weil ich es ihm gesagt habe«, erklärte Caleb grinsend.
»Warum hast du das getan?«
»Sehr einfach, Christ – weil ich Chaya liebe.«
»Ich ebenso.«
»Vielleicht. Aber deine Liebe wird sie früher oder später zerstören. Meine nicht.«
Erneut sprach er einige Worte auf Aramäisch, woraufhin Bahram barsche Anweisungen erteilte. Soldaten, die Conn bislang nicht wahrgenommen hatte, traten hinzu, packten ihn und stellten ihn unsanft auf die Beine. Conns Knie waren weich, und so wäre er um ein Haar gestürzt, wenn sie ihn nicht festgehalten hätten. Jedoch rutschte die lederne Schnur mit dem Medaillon Bischof Adhémars aus seinem Gewand hervor. Hauptmann Bahram streifte es nur mit einem flüchtigen Blick, doch etwas daran schien seine Aufmerksamkeit zu fesseln.
Er erteilte eine knappe Anweisung, worauf einer der Soldaten die Schnur kurzerhand abriss und das Medaillon dem Hauptmann reichte, der es mit einer Mischung aus Argwohn und Staunen betrachtete.
Dann fragte er etwas.
»Hauptmann Bahram will wissen, woher du das hast.«
»Von einem Freund«, erwiderte Conn ausweichend. »Es ist ein Symbol.«
»Was stellt es dar?«, fragte Caleb.
»Ein Labyrinth. Ein Irrgarten, aus dem es nur einen Ausweg gibt.«
Diesmal schien Caleb die Worte angemessen zu übertragen. Mit offenkundiger Bestürzung, deren tieferen Grund Conn nicht zu erkennen vermochte, pendelte der Blick des Hauptmanns zwischen ihm und dem Anhänger hin und her, ehe er prüfend hinauf zu den Sternen schaute. Offenbar schien er dem Medaillon besondere Bedeutung beizumessen – hatte er es womöglich schon einmal gesehen?
»Warum?«, fragte Conn, »Was ist damit?« Aber weder übersetzte Caleb seine Frage, noch wurde sie beantwortet.
Einen endlos scheinenden Augenblick lang fühlte Conn die Blicke von Bahram auf sich ruhen. Dann erteilte der Hauptmann erneut einen Befehl und Conn wurde gepackt und davongeschleppt.