1.



Drei Jahre zuvor


London Mai 1096

Es war kühl an diesem Morgen.

Harscher Wind strich von Osten heran, und die zähen Nebelschwaden, die während der Nacht über dem Fluss gelegen hatten, krochen die Uferbänke herauf und in die Gassen der Stadt.

Die ersten, die sich auf dem Richtplatz einfanden, waren die Krähen. Ihr sicheres Gespür dafür, wann und wo es etwas zu fressen gab, lockte sie zu der Wiese, die sich östlich der Stadt erstreckte, zwischen dem hingeworfenen Gewirr der strohgedeckten Häuser und der steinernen Mauer, die vom Fluss gen Norden verlief und noch aus römischer Zeit stammte. Kreischend ließen sich die Vögel auf dem grob gezimmerten Galgenbaum nieder und warteten. Fünf Silhouetten, die sich unheimlich im Nebel abzeichneten, schwarzen Todesboten gleich – bis ein Stein durch die Luft flog und eine von ihnen traf.

Während die anderen Tiere aufschreckten und davonflatterten, kippte die getroffene Krähe rücklings von ihrem hohen Sitz und stürzte auf die morschen Planken. Vergeblich versuchte sie, ihre Schwingen auszubreiten und ihren Artgenossen zu folgen – der Stein hatte ihr einen Flügel gebrochen. Aufgeregt kreischend rannte sie im Kreis, solange, bis ein weiterer Steinwurf sie traf und vom Podest des Galgens fegte.

Johlendes Gelächter war die Folge. Der Straßenjunge, der den Stein mit einer primitiven Schleuder geworfen hatte, riss triumphierend die Arme empor, und seine Kumpane, die alle ebenso zerlumpt, schmutzig und abgemagert waren wie er selbst, beglückwünschten ihn zu dem Meisterschuss. In neugieriger Erwartung des Ereignisses, das sie an diesem frühen Morgen zu sehen bekommen würden, setzten sie sich in das noch feuchte Gras rings um den Galgenbaum.

Sie blieben nicht lange allein.

Weitere Schaulustige – Bauern, Mägde und Tagelöhner, aber auch Handwerker und Händler – fanden sich auf der Henkersweide ein. Unter den wenigen Zerstreuungen, die das Leben den einfachen Leuten bot, war eine Hinrichtung immer noch die aufregendste. Und wenn es, wie an diesem Tag, auch noch eine belustigende Angelegenheit zu werden versprach, dann war dies umso besser. Je mehr Menschen kamen und je höher die Sonne über den Saum des Waldes stieg, der sich jenseits der Stadtmauer erstreckte, desto begieriger blickte jeder Einzelne zu der großen Burg, die südlich des Richtplatzes aufragte und dem König als Herrschersitz diente, sofern er nicht in Winchester oder an anderen Orten des Reiches weilte.

Schon unter seinem Vater William war der Bau begonnen worden, der die alte Römermauer miteinbezog, nach Norden und Westen jedoch von hölzernen Palisaden umgeben war. Inmitten der Ummauerung war im Lauf der vergangenen Jahre ein gewaltiger Turm aus Stein in die Höhe gewachsen, der im Vergleich zu den gedrungenen Häusern der Stadt so trutzig und einschüchternd wirkte, dass man ihn schlicht nur den »Turm von London« nannte. Mehr als fünfzehn Mannslängen maß er bereits, und er war noch immer nicht fertiggestellt – ein weiteres Monument normannischer Baukunst, von denen es in England inzwischen so viele gab, steingewordener Beleg dafür, dass die Eroberer vom Festland ihre Beute niemals wieder aufzugeben gedachten.

Nur die wenigsten Bürger von London wussten, wie es jenseits der Mauern und Palisaden der Burg aussah. Aber wie es hieß, war der große Turm mit allem nur denkbaren Prunk ausgestattet: einer großen Halle, die den Soldaten und Hausbediensteten als Unterkunft diente, und einer weiteren, darüberliegenden, in der der König Hof hielt und seine Getreuen empfing. Sogar eine eigene Kapelle gab es, in der der Herrscher dem Allmächtigen huldigte und in der sein Kaplan Ranulf von Bayeux zum vergangenen Osterfest eine Heilige Messe abgehalten hatte. Zahlreiche Edle des Landes waren zu diesem Anlass nach London gekommen, wohl nicht nur Gott, sondern vor allem dem König zu Ehren, wie Conn feixend vermutete.

Er verstand nicht viel von solchen Dingen, und sie waren ihm auch einerlei. Der Herr, so seine Erfahrung, half jenen, die sich selbst zu helfen wussten – vorausgesetzt, er hatte überhaupt ein Ohr für die Elenden und Niedrigen, die Armen und Unfreien, die in den Gassen der Stadt ein schäbiges Dasein fristeten. Sie vermochten weder die Bibel zu lesen wie die Mönche der Abtei von Westminster, noch konnten sie Kirchen und Klöster stiften wie die normannischen Edlen, um sich ihr Seelenheil zu erwerben. Alles, was ihnen blieb, war das Hier und Jetzt, und das war hart genug – über die Ewigkeit, das war Conns Überzeugung, konnte er sich auch später noch den Kopf zerbrechen.

Inmitten eines weiteren Pulks von Schaulustigen kam er auf der Henkersweide an. In seiner schäbigen Kleidung mit den wollenen, an zahllosen Stellen ausgebesserten Hosen und der löchrigen, von einem Strick zusammengehaltenen Tunika unterschied er sich in nichts von den übrigen Zaungästen, die die angekündigte Hinrichtung auf den Plan gerufen hatte. Eine Gugel bedeckte sein vom langen Winter noch dunkelblondes Haar, das ihm bis in den Nacken reichte, ein verwilderter Kinnbart verbarg seine Jugend. Das blaue Augenpaar jedoch, das unter der Kapuze hervorlugte, blickte nicht in sensationslüsterner Neugier wie bei den anderen, sondern voller Wachsamkeit.

Inzwischen hatte sich der Richtplatz mit Menschen gefüllt. Conn schätzte, dass es gut dreihundert Zuschauer waren, die sich eingefunden hatten, um Tostigs letzten Gang zu begaffen. Aufgeregt tuschelten sie miteinander, lachten und deuteten nach dem Galgen, an dem der glücklose Dieb in Kürze baumeln würde.

Als sich das Nordtor der Burg öffnete, wurde es schlagartig still auf dem Platz. Das Getuschel und das raue Gelächter verstummten, und zwei bewaffnete Wachen traten hervor, gefolgt von einem Mann, der hoch zu Ross saß. Er trug einen Helm mit Nasenschutz und einen wollenen Umhang, um sich vor der Kälte des Morgens zu schützen. Die silberne Fibel, die das Kleidungsstück hielt, erweckte Conns Aufmerksamkeit, aber mit Blick auf die beiden Wachen und das normannische Langschwert, das griffbereit in der Scheide des Reiters steckte, verwarf er den Gedanken gleich wieder.

Sofort bildete sich in der Menge der Schaulustigen eine Gasse, die den Reiter und seine Männer passieren ließ. Ihnen folgte ein Ochsenkarren, wie er gewöhnlich zum Heutransport benutzt wurde. Darauf kauerte eine verloren wirkende Gestalt, der man ein Eisen um den Hals gelegt hatte.

Tostig.

Tostig der Eierdieb, wie er spöttisch genannt wurde, weil sein Mut nie dazu ausgereicht hatte, sich an etwas anderem zu vergreifen als an ein paar Rüben oder Eiern, um seinen hungrigen Bauch zu füllen. Vor ein paar Tagen jedoch hatte er Äpfel von einem Karren gestohlen, der auf dem Weg zur Burg gewesen war. Und wer seine Hand an das Eigentum des Königs legte, den traf die härteste Strafe.

Obwohl Tostig nur wenige Jahre älter war als Conn, war sein Gebiss faulig und sein Haar bereits schütter. Die Flecken und Schrammen, die seine blasse Haut überzogen, verrieten, dass er im Gefängnis geschlagen worden war, und die dunklen Ränder unter seinen Augen ließen darauf schließen, dass er lange nicht geschlafen hatte.

Inmitten der Schaulustigen sah Conn zu, wie der Karren in Richtung Galgen rumpelte. Die Straßenjungen verspotteten Tostig und trieben derbe Scherze mit ihm, indem sie die Hände an die Hälse legten und ihm mit verdrehten Augen und heraushängenden Zungen vorspielten, was ihn erwartete. Die Menge fand das komisch und lachte laut, worauf Tostig in Tränen ausbrach, was die Leute nur noch mehr erheiterte.

Conn lachte nicht.

Er kannte Tostig nicht gut genug, um echtes Mitleid zu fühlen, dennoch verspürte er Beklemmung. Unwillkürlich fragte er sich, ob die Bürger von London ihm einen ähnlich freundlichen Empfang bereiten würden, wenn es zur Richtstatt ging.

Dem Karren folgten ein Mönch der Abtei Westminster, der den Blick gesenkt hatte und ein Kreuz in den Händen hielt, sowie der Büttel, der das Urteil vollstrecken würde – ein fetter, kurzbeiniger Kerl, dessen Augen so tief lagen, dass sie zwischen der vorspringenden Stirn und den feisten Wangen kaum zu sehen waren. Obwohl der Tag noch jung und es entsprechend kühl war, hatte er bereits Schweiß auf der Stirn, dabei verdiente er seinen Lohn auf denkbar einfache Weise. Und genau um diesen Lohn gedachte Conn ihn zu erleichtern.

Die Wachen und der Reiter hatten unterdessen den Galgenbaum erreicht. Ohne vom Pferd abzusteigen, wies der Behelmte seine Schergen an, den Gefangenen aufs Schafott zu führen, was sich als schwieriger erwies als gedacht. Denn sobald Tostig die Schlinge erblickte, begann er laut zu schreien und zerrte mit aller Kraft an den Fesseln, mit denen ihm die Hände auf den Rücken gebunden waren. Da jemand seine Arbeit offenbar nachlässig gemacht hatte und die Stricke locker waren, gelang es ihm tatsächlich, die Hände freizubekommen. Mit aller Kraft klammerte er sich daraufhin an die Gitterstäbe des Heuwagens, sodass die Wachen – sehr zur Erheiterung der Zuschauer – ihn zunächst nicht zu fassen bekamen und der Büttel sich genötigt sah einzugreifen.

»Willst du wohl loslassen?«, rief er schwer atmend, packte das Eisen, das der Gefangene um den Hals trug, und zog mit aller Kraft daran, um ihn wie einen Hund vom Wagen zu zerren. Doch ungeachtet des rostigen Metalls, das in seinen Hals schnitt, schrie Tostig weiter und hielt sich verzweifelt fest, so als könnte ihn dies vor dem traurigen Ende bewahren, das man ihm zugedacht hatte. Die Menge indes lachte nur noch lauter.

Der Normanne auf dem Pferd brüllte ungeduldig, Tostig solle den Unsinn lassen und sich seiner gerechten Strafe stellen, doch sein Appell verhallte ebenso ungehört wie die beruhigenden Worte, die der Mönch dem Verurteilten zusprach. Daraufhin lenkte der Reiter sein Pferd nach vorn und zückte kurzerhand das Schwert.

Conn senkte den Blick.

Er sah nicht, wie die Klinge des Normannen niederfuhr und Tostigs rechtes Handgelenk durchtrennte, er hörte nur den gellenden Schrei, der über den Richtplatz drang. Ein Raunen ging durch die Menge, die nicht damit gerechnet hatte, an diesem Morgen Blut zu sehen, aber auch nichts dagegen einzuwenden hatte.

Seinen Widerstand hatte Tostig aufgegeben, dafür schrie er wie ein Schwein auf der Schlachtbank, den ganzen Weg vom Wagen bis zum Galgenbaum. Blut schoss aus dem Stumpf an seinem rechten Arm und besudelte die Wachen und den Büttel, der ungerührt seiner Arbeit nachging, den Verurteilten erneut fesselte und ihm anschließend den Strick um den Hals legte. Tostig brüllte weiter, auch dann noch, als der Mönch vortrat, um seine sündige Seele dem höchsten Richter zu empfehlen. Erst als der Henker ihn nach vorn ins Leere stieß, verebbte sein Geschrei und ging in ein grässliches Gurgeln über.

Es dauerte lange, bis Tostig von seinen Qualen erlöst wurde, so sehr klammerte er sich an das Leben. Zappelnd hing er am Strick, während weiterhin Blut aus dem Stumpf triefte. Anfangs wurde hier und dort noch gescherzt und schadenfroh gekichert, dann wendeten die Ersten den Blick ab. Als Tostig der Eierdieb sein irdisches Dasein schließlich beendet hatte, lachte niemand mehr – außer dem Büttel, dem der Mann zu Pferd einen Beutel klingenden Geldes zuwarf.

Der Feiste bedankte sich mit einem Nicken, und während der Reiter und seine Schergen sich abwandten und in die Burg zurückkehrten, blieb er zurück, denn auch das Abnehmen und Begraben des Hingerichteten gehörte zu seinen Pflichten.

Die Meute der Gaffenden löste sich ebenfalls auf, nun, da es nichts mehr zu sehen gab, und der Augenblick, auf den Conn gewartet hatte, war gekommen.

Wenn die Erfahrung ihn etwas gelehrt hatte, dann dass es keinen Sinn hat, zu bescheiden zu sein. Natürlich musste man ein offenes Auge haben und sich gut überlegen, wen man um seine Habe erleichtern wollte und wen nicht, aber Tostigs grässliches Schicksal bewies, dass Bescheidenheit nicht vor Strafe schützte, ebenso wie zu große Vorsicht. Wer zögerte, der lief nur Gefahr, entdeckt und womöglich geschnappt zu werden, und beides wollte ein Dieb tunlichst vermeiden.

Die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, bahnte sich Conn einen Weg durch die abziehende Menge und arbeitete sich an den Büttel heran, der am Fuß des Galgens stand und, seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, mit dem Ergebnis seiner Arbeit durchaus zufrieden war. Mit dem Handrücken fuhr er sich über die Stirn und verwischte dabei das Blut, mit dem er besudelt war. Der Feiste jedoch schien es nicht einmal zu bemerken – das Ledersäckchen, das er an seinem Gürtel befestigt hatte, entschädigte ihn für alle Mühen.

Inzwischen war Conn fast heran, nur noch wenige Schritte trennten ihn vom Galgen. Mit flinken Blicken wog er seine Möglichkeiten ab und handelte kurz entschlossen.

Ein vierschrötiger Mann, der an ihm vorbei wollte, wurde unversehens zum Komplizen. Conn tat so, als hätte er ihn nicht gesehen, und rempelte ihn an. Der Fremde, den Schwielen an den Händen und den muskulösen Oberarmen nach ein Schmied, ließ sich das nicht gefallen und stieß ihn zurück, nicht ohne ihm eine bittere Verwünschung mit auf den Weg zu geben – und Conn, nur dem Augenschein nach von der Macht des Zufalls geleitet, prallte gegen die massige Gestalt des Büttels.

»Verdammt! Kannst du nicht aufpassen?«

»Verzeiht, Herr«, beeilte sich Conn zu versichern und senkte das Haupt in einer Geste, die unterwürfig wirken sollte, in Wahrheit jedoch dazu diente, seine Gesichtszüge zu verbergen. »Es wird nicht wieder vorkommen.«

»Das hoffe ich, du Schmeißfliege! Pack dich fort, hörst du?«

»Natürlich, wie Ihr wollt, Herr«, beteuerte Conn und verbeugte sich noch einmal, während er sich bereits entfernte. Dann wandte er sich blitzschnell um und war im nächsten Moment zwischen anderen Zuschauern verschwunden, die in die Stadt zurückkehrten, um ihr Tagwerk zu beginnen.

Eine Weile lang ging Conn mit ihnen, dann bog er in eine Seitengasse ab, die schmal und dunkel genug war, um kein Aufsehen zu erregen, und in der es so streng roch, dass er sicher unbeobachtet bleiben würde. Erst hier griff er unter seine Tunika, zog den kleinen Beutel aus Wildleder hervor, der unbemerkt seinen Besitzer gewechselt hatte, öffnete ihn und betrachtete den Inhalt.

Es waren fünf Pennys.

So viel also, dachte Conn beklommen, war das Leben eines Diebes wert.

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