1.



Kreta


April 1097

»Sieh dir das an, mein Kind. Dunkle Wolken ziehen sich über uns zusammen.«

Die Stimme von Isaac Ben Salomon klang düster. Der Wind, der seit Monaten über die See strich und in diesem Frühjahr überhaupt nicht nachlassen zu wollen schien, zerrte an seinem Mantel und zerwühlte sein schlohweißes Haar. Die Gesichtszüge des alten Kaufmanns waren wie so oft in den letzten Wochen voll bitterer Sorge, denn die Zeit zerrann ihm unter den Händen.

Sein ursprünglicher Plan war es gewesen, von Genua aus auf einer der östlichen Kauffahrerrouten direkt nach Judäa zu gelangen, doch dies hatte sich als unmöglich erwiesen. Viele genuesische Kapitäne hatten ihre Schiffe im Hafen zurückgehalten, da sie mit den Kreuzfahrern bessere Geschäfte zu machen hofften; andere wieder hatten sich darauf verlegt, für die in Süditalien lagernden Heere Proviant und andere Versorgungsgüter zu transportieren, und verkehrten nur auf diesen Strecken.

In Ermangelung einer anderen Passage hatten Chaya und ihr Vater notgedrungen ein solches Schiff bestiegen, das sie zunächst nach Syrakus gebracht hatte, von wo sie nach weiteren Wochen des Wartens eine Überfahrt nach Kreta bekommen hatten. Kurz nach ihrem Eintreffen dort hatten jedoch die Winterstürme eingesetzt, sodass die Insel dem Kaufmann und seiner Tochter für lange Monate zur ungewollten Heimat geworden war. Monate der Untätigkeit und Trägheit, der inneren Einkehr und des Nachdenkens.

Und, soweit es Isaac betraf, wohl auch des Zweifels.

»Was meinst du, Vater?«, erkundigte sich Chaya sanft.

»Jene Schiffe dort treffen Vorbereitungen zum Auslaufen«, entgegnete Isaac und deutete auf das Hafenbecken von Heraklion, auf das sie vom Dachgarten ihrer Herberge aus einen guten Blick hatten.

»Nun«, meinte Chaya hoffnungsfroh, »ist das nicht gut für uns? Es muss bedeuten, dass der Sturm endlich vorüber ist und wir unsere Reise fortsetzen können, oder nicht?«

Weder reagierte Isaac auf ihre Frage, noch wandte er den Blick. Wie gebannt starrte er weiter auf die langen Schiffe, die über mehrere Ruderreihen verfügten und über große Segel, die gerefft an den Rahen hingen. Die Achterdecks der Schiffe waren mit turmartigen, mit Metallplatten gepanzerten Aufbauten versehen, am Bug besaßen sie gefährlich aussehende, ebenfalls metallverstärkte Rammen, die fraglos dazu da waren, andere Schiffe anzugreifen.

»Es sind Dromone, Chaya«, erklärte Isaac leise, »byzantinische Kriegsgaleeren. Sie laufen aus, weil diesem Teil der Welt ein Krieg bevorsteht. Ein Kaufmann aus Milet hat mir erzählt, dass Kaiser Alexios jene Inseln und Städte, die er in den vergangenen Jahren an die Türken verlorengeben musste, nun von ihnen zurückzugewinnen sucht. Sicher hofft er, dass das Eintreffen der Kreuzfahrer in Kleinasien die Seldschuken schwächen wird.«

»Und wir, Vater? Was bedeutet das für uns?«

»Dass wir einmal mehr im Begriff sind, von der Geschichte eingeholt zu werden, mein Kind«, gab Isaac unheilvoll zur Antwort. »Die ganze Welt scheint in Bewegung zu geraten. Nichts ist mehr, wie es einst war.«

»Was genau fürchtest du, Vater?«

»Was ich fürchte?« Er wandte sich zu ihr um, und sie vermochte nicht zu sagen, ob es Furcht war, die seine Augen hatte feucht werden lassen, oder der beständige Wind. »Ich fürchte, dass jener Sturm, der sich dort zusammenbraut und von Menschen gemacht ist, sich noch als weit gefährlicher erweisen könnte als der des vergangenen Winters – und dass er meine Mission nutzlos machen könnte. Ich soll das Buch ins Land der Väter bringen – aber was, wenn es dort noch weit mehr gefährdet wäre? Wenn es trotz aller Vorsichtsmaßnahmen in falsche Hände fiele? Was für ein Träger wäre ich, wenn dies geschähe?«

»Ein Träger«, wiederholte Chaya. Der Wind ließ auch ihren Umhang flattern und zerrte an der Kapuze. »Dieses Wort hast du schon einmal erwähnt. Was genau bedeutet es?«

Ihr Vater biss sich auf die Lippen, so als müsse er zunächst genau abwägen, was er preisgeben dürfe und was nicht. »Solange wir zurückdenken können«, erwiderte er schließlich, »gab es Träger und Bewahrer. Die einen hüteten das Buch über die Jahrhunderte an geheimen Orten. Die anderen sollten es zurückbringen ins Land der Väter, wenn unserem Volk jemals wieder Gefahr drohte. Die Zweiteilung des Amtes diente der Verringerung der Gefahr.«

»Und Daniel Bar Levi ist ein solcher Bewahrer?«

Isaac nickte. »Er hat das Amt von seinem Vater geerbt, so wie mein Bruder Ezra und ich es von unserem Vater erbten.«

»Dann hatte er die leichtere Bürde.«

»Denkst du?« Isaac zuckte mit den schmalen Schultern. »Ich weiß es nicht, Kind. Das Buch all die Jahre unter seinem Dach zu wissen und sich bewusst zu sein, dass man es unter Einsatz seines Lebens bewahren muss, nenne ich keine leichte Bürde.«

»Das ist wahr.« Chaya neigte leicht das Haupt. »Und wie lange reicht diese Tradition zurück?«

»Sehr lange«, erwiderte ihr Vater, und jetzt war sie sicher, dass es Tränen waren, die in seinen Augen glänzten. »Von Generation zu Generation wurde das geheime Wissen weitergegeben, an leibliche Söhne, an Schwiegersöhne und Adoptivsöhne, von dem Tage an, da das Volk Israel von den römischen Usurpatoren vertrieben und Jerusalem zur verbotenen Stadt geworden war.«

»Rabbi Akiba hat uns oft davon erzählt, als wir noch Kinder waren«, erinnerte sich Chaya. »Unter Kaiser Hadrian erhob sich unser Volk und versuchte, das Joch der Fremdherrschaft abzuschütteln. Hadrian jedoch ließ den Aufstand blutig niederschlagen und sorgte dafür, dass das Haus Jakob in alle Winde zerstreut wurde.«

»Auf alle Lande dieser Welt hat es sich daraufhin verteilt«, stimmte ihr Vater zu. »Gesetze wurden seinetwegen erlassen und Regeln aufgestellt, doch das Volk hielt stets an seinen eigenen Traditionen fest und an seinem Glauben, bewahrte ihn wie die Weisung der Thora und die Lehre des Talmud – und zusammen mit ihm auch das Buch, das von solcher Wichtigkeit ist und von dessen Existenz doch nur wenige wissen. Von Ascalon aus, wo es einst verfasst worden war, trat es eine weite Reise an, zunächst nach Osten in die Gebiete der Parther und Armenier, später dann nach Norden in das Land der Magyaren. Von dort gelangte es schließlich nach Westen, den großen Fluss hinauf und in das Reich der Franken, dessen Kaiser Karolus unser Volk freundlich aufnahm und ihm Schutz versprach. Dort verblieb das Buch von Ascalon lange Zeit, bis in diese Tage.«

Der alte Isaac unterbrach sich, um sich mit einer Geste, die beiläufig wirken sollte, die Tränen aus den Augen zu wischen. »Mir war immer klar gewesen, dass jener Tag, an dem ich das Siegel Salomons wiedersehen sollte, gleichzeitig auch der Tag sein würde, an dem ich mein Versprechen würde einlösen müssen.«

»Hast du damit gerechnet?«, fragte Chaya.

»Nein«, bekannte ihr Vater kopfschüttelnd. »Ebenso wenig, wie ich mit dem Tod deiner Mutter gerechnet habe. Oder damit, dass das Volk Israel nach all den Jahrhunderten des Friedens erneut angefeindet werden könnte und um seine Existenz fürchten müsste. Warum nur neigen wir Menschen dazu, das, was wir haben, als sicher und gegeben zu erachten? Wo ist unsere Demut vor dem Herrn? Wo unsere Dankbarkeit?«

Chaya wusste keine Antwort auf seine Fragen. Es stimmte, auch sie hatte noch vor nicht allzu langer Zeit viele Dinge als selbstverständlich erachtet, die ihr nun außergewöhnlich, ja unerreichbar schienen. Vor allem aber konnte sie seine Trauer fühlen und die Einsamkeit, die ihn quälte, und sie verspürte das Bedürfnis, ihm zu helfen.

»Willst du mir nicht doch sagen, was in dem Buch geschrieben steht, Vater?«, erkundigte sie sich leise. »Vielleicht würde es dich erleichtern, die Last des Wissens zu teilen.«

»Vielleicht«, gestand er und legte ihr in einer liebevollen Geste die Hände auf die Schultern. »Aber dich würde es gleichzeitig belasten, mein Kind, und du hast schon genug zu tragen. Wenn ich dir vorenthalte, was in jener Schrift geschrieben steht, dann nicht, weil ich dir nicht traue, Chaya. Sondern um dich zu schützen.«

Er wartete ihre Erwiderung nicht ab, sondern wandte sich ab und wollte den Dachgarten verlassen.

»Wohin gehst du?«, fragte sie.

»Zum Hafen. Ich werde versuchen, eine Passage nach Alexandretta zu bekommen.«

»Aber der Sturm ist noch nicht vorüber!«

»Und wenn schon.« Er zuckte mit den Schultern. »Lieber vertraue ich mich den Wellen an, als darauf zu warten, dass …« Er verstummte plötzlich, und seine Gesichtszüge verzerrten sich. Nach vorn gebeugt, stützte er sich auf das hölzerne Geländer, das die schmale Steintreppe säumte.

»Vater!« Chaya eilte zu ihm. »Was hast du?«

»Es geht schon.« Seine Miene entkrampfte sich, und er richtete sich wieder zu seiner vollen Größe auf. »Nur ein Anfall von Schwäche, nichts weiter. Ich werde langsam alt, das ist alles.«

»Du musst dich ausruhen, hörst du?«

»Das werde ich, meine Tochter«, versprach er, und für einen kurzen Moment war da wieder jenes schalkhafte Lächeln, das sie einst so an ihm geliebt hatte. »Wenn die Mission beendet ist.«

Damit wandte er sich endgültig um und stieg die Treppe hinab – und Chaya hatte das Gefühl, einem Greis nachzublicken.

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