18.
Kloster Cerreto
September 1096
Isaac Ben Salomon hatte gehorcht.
Dem Versprechen, das er einst gegeben hatte, sowie der bitteren Notwendigkeit. Und auch jener inneren Stimme, die ihm geraten hatte, dem Willen seiner Tochter nachzugeben und sie mitzunehmen auf die weite und gefahrvolle Reise. Chaya hatte sich dieser Entscheidung in jeder Hinsicht würdig und gewachsen erwiesen.
In Männerkleider gehüllt und als Isaacs Diener getarnt, hatte sie Köln zusammen mit ihrem Vater am Tag nach Schawuot verlassen. Jener Stadt den Rücken zu kehren, in der sie aufgewachsen war und wo sie den größten Teil ihres bisherigen Lebens verbracht hatte, war Chaya nicht leichtgefallen, obschon ihr Vater ihr immer wieder vor Augen führte, dass Köln zwar die Stätte ihrer Geburt sein mochte, ganz sicher jedoch nicht ihre Heimat war. Denn diese lag weit im Osten, jenseits des Meeres und umgeben von den kargen Gebirgen Syriens und der weiten Wüste des Sinai. Mit Gottes Hilfe würde Chaya sie schon bald zu sehen bekommen.
Um den Mordbrennern und Eiferern zu entgehen, die entlang des Rheins ihre Lager aufgeschlagen hatten, hatten sie sich für die östliche Route entschieden und die Mitte des Reiches durchwandert, das ihnen lange Zeit sichere Zuflucht geboten hatte, nun jedoch zum Feindesland zu werden drohte. Teils waren sie zu Fuß gereist, teils auf Ochsenkarren, deren Besitzer Isaac für die Mitnahme bezahlt hatte; später dann hatte er zwei Maultiere erstanden, auf denen sie ein gutes Stück des Weges ritten und die grau und unauffällig genug waren, um nicht aufzufallen – denn in diesen dunklen Tagen konnte selbst der Anblick eines prächtigen Reitpferdes schon genügen, um blutigen Hass hervorzurufen, wenn ein Jude darauf saß.
Von Fulda waren sie nach Würzburg gelangt und von dort nach Augsburg, stets wachsam und die großen Städte meidend aus Sorge, dort ähnliche Bedingungen vorzufinden wie an Mosel und Rhein. Durch die südlichen Herzogtümer – das Wetter hatte sich bereits verschlechtert, und es regnete in Strömen – hatten sie sich schließlich den Alpen genähert, die sich zunächst als fernes gezacktes Band, dann aber als trutzige, schier unüberwindliche Mauer aus kargem Fels erwiesen hatten, deren bereits schneegekrönte Gipfel sich zumeist in düstere Wolken hüllten.
Die dunklen Wälder, die den Fuß der Berge säumten, gemahnten an die Zeit, da das Land noch jung und kaum von Menschen besiedelt gewesen war. Die Städte wurden kleiner, die Anzahl der Dörfer nahm nach Süden hin beständig ab. Entsprechend wurden auch die Menschen immer weniger, und es hatte fast den Anschein, als würde am Rand der Berge das kultivierte Ackerland von üppig wuchernder Wildnis verschlungen.
Für die Reisenden bedeutete dies Hoffnung und Gefahr zugleich. Hoffnung, weil in den dünn besiedelten südlichen Gebieten die Kunde vom Feldzug gegen die Heiden entweder noch nicht angekommen war oder sich nicht mit demselben Nachdruck verbreitet haben mochte wie in den Städten des Nordwestens. Die Bewohner, auf die Chaya und ihr Vater trafen – zumeist Bauern oder Wirtsleute, die einfache Schänken betrieben, in denen es wenig mehr als ein Dach über dem Kopf und ein Stück Brot oder Käse gab –, begegneten den fremden Besuchern zwar mit einiger Neugier, jedoch nicht mit Feindseligkeit. Gefahr hingegen ging von den Räuberbanden aus, die beiderseits der Alpen das Dunkel der Wälder nutzten, um arglosen Wanderern aufzulauern.
Isaac wog die Möglichkeit eines Überfalls und die Gefahr der Entdeckung gegeneinander ab, kam jedoch zu dem Schluss, dass sie besser beraten waren, wenn sie sich einem der Wagenzüge anschlossen, die in unregelmäßigen Abständen die Pässe nach Süden befuhren. Nachdem sie in Innsbruck mehrere Tage ausgeruht und sich auf die kräftezehrende Passage über die Berge vorbereitet hatten, erfuhren sie durch Zufall von einem Zug jüdischer Kaufleute, der nach Mailand wollte. Natürlich schlossen Issac und seine Tochter sich ihren Glaubensbrüdern gerne an – ihre Tarnung jedoch gab Chaya auch unter ihresgleichen nicht auf und behauptete weiterhin, der Diener des alten Kaufmanns zu sein und den Namen Ilan zu tragen.
Auf diese Weise gelangten sie in einem beschwerlichen, glücklicherweise jedoch ereignislosen Marsch über die Berge in das Land südlich der Alpen, das sie mit trockenem Wetter und milder Luft begrüßte, die, so kam es Chaya vor, bereits den Geruch des Meeres auf ihren Schwingen trug.
Rasch ging es nach Süden, zurück in dichter besiedelte Gebiete. Zwar gab es am Wegrand Handelsstationen, doch die meisten waren unbefestigt und boten nur unzureichend Schutz vor Räubern und anderem Gesindel; mit den Karawansereien des Ostens, die jedem Reisenden, der dort einkehrte, Schutz und ein gewisses Maß an Annehmlichkeit versprachen, waren sie nicht zu vergleichen. Über Brixen ging es nach Trient, von dort nach Brescia und schließlich nach Mailand, wo Chaya und ihr Vater sich von dem Kaufmannszug trennten und die letzte Etappe ihrer Reise antraten, die sie nach Genua bringen sollte, wo, wenn es dem Herrn gefiel, ein Schiff für sie bereitstand.
Die Nacht nach ihrer Abreise aus Mailand verbrachten sie in einem Kloster nahe der Stadt Lodi, das Mönche des Benediktinerordens erst vor wenigen Jahren gegründet hatten. Anfangs hatte Isaac gezögert, bei Christen Obdach zu suchen, aber infolge der politisch unsicheren Lage und der kriegerischen Rivalitäten zwischen den oberitalienischen Städten entschloss er sich schließlich doch, an die Klosterpforte zu klopfen. Die Mönche gewährten ihnen Einlass und stellten keine Fragen – entweder war das Misstrauen, das andernorts gegenüber dem Volk Israel herrschte, noch nicht bis hierher gedrungen, oder sie scherten sich einfach nicht darum.
Die Zelle, die man dem Kaufmann und seinem Diener zuwies, mussten Isaac und Chaya sich teilen. Obschon sie nur mit einem kleinen Tisch und einem Schemel möbliert war und die Schlaflager lediglich in der Steinmauer ausgesparte Nischen waren, in denen strohgefüllte Säcke lagen, war es bei Weitem mehr Annehmlichkeit als in vergangenen Nächten. Da es ihnen untersagt war, zusammen mit den Mönchen im Refektorium zu speisen, brachte man ihnen eine Mahlzeit, die aus Oliven, Brot und einem harten, würzigen Käse bestand. Dazu gab es einen Krug Wein. Ob die Nahrungsmittel koscher waren, bezweifelte Isaac zwar ernstlich, aber in Anbetracht der Bedingungen, unter denen sie reisten, hatten sie wohl keine Wahl, als das zu essen, was ihnen zur Verfügung stand. Die Mission hatte Vorrang.
Im flackernden Licht der Kerze, die auf dem Tischchen stand, beobachtete Chaya, wie ihr Vater seinen Mantel ablegte, um sich zur Ruhe zu begeben. Darunter trug er, an einem schräg über die Brust verlaufenden Riemen, den ledernen Köcher, den Daniel Bar Levi ihm am Tag vor der Abreise übergeben hatte. Da Chaya nicht gewusst hatte, dass ihr Vater in jungen Jahren ein feierliches Versprechen gegeben hatte, das ihn auch jetzt noch band, war es für sie eine Überraschung gewesen, den Grund für seine überstürzte Abreise aus Köln zu erfahren. Die Überraschung hatte sie inzwischen überwunden – das Rätselraten um den Inhalt des Behälters jedoch blieb, und es war Chaya schon fast zur Gewohnheit geworden, vor dem Einschlafen darüber nachzusinnen.
»Du legst den Köcher niemals ab, weder bei Tag noch bei Nacht«, stellte sie fest.
»So wie es mir aufgegeben wurde«, entgegnete der alte Isaac schlicht.
»Von wem?«
Isaac wandte sich halb zu ihr um. »Von meinem Vater«, entgegnete er nach kurzem Zögern.
»Von deinem Vater?« Chaya, die bereits in ihrer Schlafnische gelegen hatte, richtete sich verblüfft wieder auf. Es war das erste Mal, dass sie auf eine ihrer Fragen Antwort bekam. Offenbar hatte Isaac entschieden, dass sie nach all den Strapazen, die sie ohne Murren ertragen hatte, zumindest ein wenig mehr erfahren sollte.
Issac nickte. Er nahm die Kerze und trug sie zu seiner Schlafstatt, auf deren Rand er sich seufzend niederließ. »Er war einst ein Träger, genau wie ich.«
»Ein Träger?«
Ihr Vater lächelte schwach. »Im Gegensatz zu den Bewahrern, die das Buch über all die Jahrhunderte verborgen und gehütet haben – so wie der gute Daniel.«
»Ein Buch? Das also befindet sich in diesem Behältnis?«
»So ist es. Nicht mehr und nicht weniger. Ist deiner Neugier damit Genüge getan?«
Chaya nickte zögernd – während sie sich gleichzeitig eingestehen musste, dass sie ein wenig enttäuscht war. Natürlich hatte sie aufgrund der Größe und des offenbar auch geringen Gewichts des Köchers angenommen, dass sich ein Schriftstück darin befand, allerdings eines von größerer Bedeutung. Ein alter Vertrag oder eine kaiserliche Urkunde oder …
»Du wirkst ernüchtert«, sagte Isaac, der sie gut genug kannte, um ihre Züge richtig zu deuten.
»Nun, ich hätte nicht gedacht, dass …«
»Dass was, meine Tochter? Dass ein Buch all dies hier rechtfertigen könnte?« Er machte eine ausladende Handbewegung, die nicht nur die Zelle und das Kloster, sondern die ganze beschwerliche Reise einzuschließen schien.
»In der Art«, gestand Chaya leise.
»Und was, wenn ich dir sagte, dass der Inhalt dieses Buches von solcher Wichtigkeit ist, dass er die Geschicke nicht nur unseres Volkes, sondern der ganzen Welt verändern könnte? Und dass es aus diesem Grund keinesfalls in die falschen Hände gelangen darf?«
»Wurde es dir aus diesem Grund übergeben?«
Isaac nickte. »Auf seinem Sterbebett hat mein Vater deinem Onkel Ezra und mir das Versprechen abgenommen, das Buch an einen anderen Ort zu bringen, falls die Zeit dafür kommen sollte, und es nötigenfalls mit unserem Leben zu schützen.«
»Und diese Zeit ist gekommen?«
»Nach allem, was geschehen ist, kann daran wohl kein Zweifel bestehen«, erwiderte der alte Kaufmann und strich sorgfältig seinen Bart zurecht, der im Zuge der Wanderschaft noch länger, aber auch ein wenig wirr geworden war.
»Aber warum erfahre ich erst jetzt davon, Vater? Warum hast du in all den Jahren niemals auch nur ein Wort darüber verloren?«
»Weil es nicht notwendig war.« Ein wehmütiges Lächeln huschte über die faltigen Gesichtszüge.
»Hat Mutter davon gewusst?«
Isaac schüttelte den Kopf. »Nein. Warum hätte ich es ihr auch sagen sollen? Generationen sind gekommen und gegangen, und viele Träger haben ihr Versprechen geleistet, ohne dass man je von ihnen verlangt hätte, es einzulösen.«
»Warum dann ausgerechnet bei dir, Vater?«.
Der alte Isaac schaute sie lange an. Ihr Haar war inzwischen ein wenig nachgewachsen, sodass ein dünner dunkler Flaum ihre Kopfhaut bedeckte, aber ihm war anzusehen, dass der Anblick ihm noch immer das Herz in der Brust zerriss. »Weil, meine Tochter, wir uns nicht aussuchen können, in welchen Zeiten wir leben oder welche Opfer der Herr von uns verlangt«, gab er leise zur Antwort.
Chaya wandte den Blick. Obwohl sie nun mehr wusste als zuvor, kam sie sich seltsam töricht vor. Töricht, weil sie gefragt hatte. Töricht aber auch, weil sie zu ahnen begann, wie ungeheuer groß die Verantwortung war, die auf den Schultern ihres alten Vaters lastete. Ihr eigenes Verhalten kam ihr plötzlich unreif und selbstsüchtig vor. Beschämt starrte sie auf den kahlen Steinboden der Zelle.
»Verzeih, Vater«, flüsterte sie. »Wenn ich gewusst hätte …«
»Da ist nichts zu verzeihen, Chaya. Du hast getan, was du deinem Wesen nach tun musstest. Obschon ich die Art und Weise, wie du deinen Willen ertrotzt hast, noch immer nicht gutheißen kann.«
»Es tut mir leid.«
Isaac lächelte schwach. »Als ich in jungen Jahren jenes Versprechen gab, das mich heute bindet, was wusste ich da schon? Was für eine Vorstellung hatte ich davon, was es heißt, ein Mann zu sein und Verantwortung zu tragen für ein Amt, für ein Heim, für eine Familie? Ich hatte keine Ahnung von den Wirrungen des Lebens, geschweige denn konnte ich mir ausmalen, dass man jene Pflicht, die ich so bereitwillig übernommen hatte, eines Tages tatsächlich von mir einfordern würde. Oft genug frage ich mich, ob ich ihr überhaupt gewachsen bin.«
»Dann lass mich dir helfen. Auf diese Weise könnte ich wiedergutmachen, was ich …«
»Du willst mir helfen? Wie, meine Tochter?«
»Indem ich das Geheimnis mit dir teile. Indem wir die Verantwortung auf unser beider Schultern verteilen.«
»Deine gute Absicht ehrt dich, Chaya, aber das ist nicht möglich.« Der alte Kaufmann schüttelte das schlohweiße Haupt. »Ich habe ein feierliches Versprechen gegeben, das Geheimnis zu wahren. Nur vom Vater an den Sohn darf es weitergegeben werden.«
»Nicht an den Diener?« Chaya hatte die Frage kaum ausgesprochen, als sie es auch schon bereute. Sie hatte Regeln gebrochen, indem sie sich gegen den Willen ihres Vaters aufgelehnt hatte, und sie tat es noch immer, indem sie ihr Geschlecht verbarg und sich als Mann verkleidete. Aber ihr musste auch klar sein, dass diese Täuschung nicht von Dauer sein und sie sich zwar einzelnen Regeln widersetzen konnte, nicht aber der Tradition des Volkes Israel, die über all die Jahrhunderte den wahren Glauben bewahrt und das Überleben in der Fremde gesichert hatte.
Ihr Vater schien denselben Gedanken zu haben. »Du bist weit gekommen und hast manches erreicht«, beschied er ihr ernst, »aber auch deinem Streben sind Grenzen gesetzt.«
Damit blies er die Kerze aus, sodass die Zelle schlagartig ins Dunkel fiel. Chaya konnte hören, wie ihr Vater den Leuchter neben seiner Schlafstatt auf den Boden stellte und sich dann schlafen legte. »Gute Nacht, meine Tochter«, sagte er noch – schon kurz darauf konnte sie an seinen ruhigen und gleichmäßigen Atemzügen erkennen, dass er eingeschlafen war.
Zu gerne hätte auch Chaya die Augen geschlossen, nicht nur, um nach den Strapazen des Tages Erholung zu finden, sondern auch, um den bohrenden Fragen zu entgehen, die sie beschäftigten. Aber die Worte ihres Vaters ließen ihr keine Ruhe.
Was, wenn ich dir sagte, dass der Inhalt dieser Schrift von solcher Wichtigkeit ist, dass er die Geschicke nicht nur unseres Volkes, sondern der ganzen Welt verändern könnte? Und dass es aus diesem Grund keinesfalls in die falschen Hände gelangen darf?
Noch immer hallten die Worte in ihrem Bewusstsein nach, wie ein Echo, das nicht verklang. Was hatten sie zu bedeuten? Was für ein Geheimnis war es, das die Schriftrolle enthielt? Was konnte von so großer Bedeutung sein, dass ein Mann bereit war, all seine Habe, seine gesellschaftliche Stellung und sogar seine Familie zu opfern, um es zu bewahren? Welche Verantwortung konnte so groß sein, dass selbst ein Mann wie Isaac Ben Salomon, zu dem sie stets aufgeblickt hatte, weil er für sie der Inbegriff von Besonnenheit und Weisheit war, sich ihr kaum gewachsen fühlte?
Das Nachdenken über diese Fragen verwirrte sie nur noch mehr, und je länger sie darüber brütete, desto weiter war sie davon entfernt, Ruhe zu finden. Die Stille in der Kammer wurde zur Last, und aus dem Halbdunkel, das sie umgab, trat die Vergangenheit hervor, in Form von Bildern, Gefühlen und Erinnerungen.
Chaya sah ihre Mutter, das graue Haar um die sanften Züge zurückgekämmt und zu einem Zopf geflochten, so wie sie es innerhalb des Hauses stets getragen hatte; ihr Mund lächelte, aber ihre dunklen Augen blickten in seltsamer Melancholie. Unwillkürlich fragte sich Chaya, was ihre Mutter zu alldem gesagt hätte. Hätte sie Verständnis dafür gehabt, dass Isaac ihr über all die Jahre hinweg verschwiegen hatte, welch weitreichendes Versprechen er gegeben hatte? Hätte sie Chayas Auflehnung gegen die Entscheidung ihres Vaters verstanden oder sie dafür getadelt?
Das Bild wechselte, und sie sah Mordechai Ben Neri, dessen Frau sie um ein Haar geworden wäre, sein durchaus ebenmäßiges, von schwarzem Haar umrahmtes Antlitz, aus dem ein schönes, allerdings auch berechnendes Augenpaar blickte. Trotz aller Strapazen, die sie auf der langen Reise hatte erdulden müssen, trotz aller Gefahren und Unwägbarkeiten, auf die sie sich eingelassen hatte, statt die Gemahlin eines der vermögendsten Männer von ganz Köln zu werden, hatte Chaya ihren Entschluss noch keinen Augenblick bereut.
Umso mehr bedauerte sie dafür, ihren Vater, dessen sorgenvolle Züge als Letztes vor ihrem inneren Auge auftauchten, enttäuscht zu haben. Mehr denn je wünschte sie sich, etwas davon wiedergutmachen zu können, indem sie ihm bei seiner Mission half und ihm zur Seite stand – aber wie sollte sie das, wenn sie noch nicht einmal wusste, worum genau es dabei eigentlich ging?
In diesem Moment, als sie sich ruhelos auf ihrem Lager herumwarf und ihr Blick dem fahlen Streifen Mondlicht folgte, das durch das hohe Fenster der Zelle fiel, sah sie den Behälter, den ihr Vater seinem Versprechen gemäß auch im Schlaf umhängen hatte.
Fast kam es ihr vor, als würde sie das Stück zum ersten Mal erblicken, in jedem Fall jedoch sah sie es plötzlich mit anderen Augen. Nicht mehr als ein Hindernis zwischen ihr und ihrem Vater, sondern als Chance, seine Liebe und Anerkennung wieder ganz zurückzugewinnen – und nebenbei auch die Wahrheit zu erfahren.
Natürlich war es ein Risiko und natürlich war es verboten. Als der Gedanke ihr zum ersten Mal durch den Kopf ging – nur als vager Einfall und noch weit davon entfernt, zum Entschluss zu reifen –, erschrak sie vor sich selbst und schloss die Augen, als könnte sie sich so der Versuchung entziehen.
Doch das Zeichen auf dem ledernen Köcher, der aus zwei ineinander verschlungenen Dreiecken bestehende Stern, übte eine Faszination auf sie aus, die stärker war als alle Vorbehalte. Irgendwann schließlich – wohl weit nach Mitternacht, denn der Mond hatte den größten Teil seines Weges bereits bewältigt – wurde aus dem anfangs so vagen Gedanken ein festes Vorhaben.
Mit pochendem Herzen schlug Chaya die wollene Decke zurück und rollte sich aus der Nische. Sie fröstelte, als ihre nackten Füße den kalten Steinboden berührten. Auf leisen Sohlen schlich sie zum Lager ihres Vaters, der auf der Seite lag, mit dem Gesicht zur Wand, und tief und gleichmäßig atmete. Der Behälter mit dem Buch lag neben ihm auf dem strohgefüllten Leinensack. Lautlos ließ sich Chaya auf die Knie nieder, wollte nach dem Köcher greifen …
»Chaya?«
Sie schreckte zusammen. Ihre Hand, die das Leder fast schon berührt hatte, zuckte zurück.
»J-ja, Vater?«
»Geh wieder ins Bett«, wies der alte Isaac sie mit ruhiger Stimme an. Obwohl er sich nicht bewegt hatte und noch immer mit dem Gesicht zur Wand lag, schien er genau zu wissen, was sie vorgehabt hatte.
»Vater, ich …«
»Schlafe«, sagte er nur.
Chaya wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte. Erschrocken und eingeschüchtert zugleich ließ sie von ihrem Vorhaben ab und kehrte auf leisen Sohlen zu ihrer Nische zurück, kroch fröstelnd unter die Decke und schlief irgendwann ein.
Ihr Schlaf war unruhig und voll unheilvoller Träume. Als sie am Morgen aufwachte, war sie sich nicht sicher, ob jener merkwürdige Vorfall sich tatsächlich ereignet hatte oder ob sie ihn gleichfalls nur geträumt hatte. Da der alte Isaac kein Wort darüber verlor, beschloss sie, die Sache ruhen zu lassen.