11.
Iconium
16. August 1097
Ein Wunder.
Für die meisten Kreuzfahrer stand fest, dass es nichts anderes als ein göttliches Wunder gewesen sein konnte, das den Kreuzfahrern zu Hilfe gekommen war und sie nach sechs Wochen entbehrungsreichen Marsches durch sengende Hitze und lebloses Land gerettet hatte.
Conn sah die Dinge nüchterner, aber auch er kam nicht umhin, erleichtert zu sein, dass die mörderischen Entbehrungen zumindest vorerst ein Ende hatten. Die Kreuzfahrer hatten Iconium erreicht, die alte Stadt im anatolischen Hochland, die den Seldschuken als Zentrum ihrer Macht diente. Deshalb hatten die entkräfteten, von Hunger und Durst gezeichneten Streiter Christi geglaubt, einen blutigen Kampf um den Besitz der Stadt austragen zu müssen – doch diese Annahme hatte sich als falsch erwiesen.
Die Kunde von ihren Siegen bei Nicaea und Dorylaeum war den Kreuzfahrern vorausgeeilt, und so hatte die türkische Garnison die Stadt bereits verlassen, während ihre Bewohner – zum größten Teil armenische Christen – ihre Glaubensbrüder als Befreier willkommen hießen und ihnen bereitwillig die Tore öffneten.
Der Triumph war vollkommen, ohne dass auch nur ein einziger Pfeil abgeschossen oder eine Klinge gekreuzt worden war. Entsprechend groß war der Freudentaumel, in den die Angehörigen des Kreuzfahrerheeres daraufhin verfielen. Überall in den Lagern loderten Feuer, über denen Fleisch gebraten wurde. Bereitwillig hatten die Einwohner von Iconium ihr Vieh geschlachtet und ihre Vorratslager geöffnet, um die ausgehungerten Kreuzfahrer zu versorgen. Die gedrückte Stimmung, die zuletzt wie ein Leichentuch über dem Zug gelegen hatte, schlug innerhalb von nur zwei Tagen in Euphorie um.
Die Prediger, die die Unternehmung begleiteten und während der letzten Wochen zunächst immer leiser geworden und schließlich ganz verstummt waren, ergriffen wieder das Wort und hielten flammende Ansprachen; hier und dort waren sogar Flötenklang und Gesang zu hören, und der Wein, der von freigebigen Iconiern aus langen Schläuchen ausgeschenkt wurde, trug sein Übriges dazu bei, eine Stimmung zu erzeugen, die jene von Rouen noch übertraf. Zwar betrauerte man die Toten, die auf der langen Wegstrecke zurückgeblieben waren und deren Zahl in die Hunderte ging; aber es überwog die Freude, selbst mit dem Leben davongekommen zu sein. Man war überzeugter denn je, mit dem Segen des Allmächtigen zu reisen, der die Kreuzfahrer hart geprüft, sie jedoch für wert befunden hatte, die heiligen Stätten zu befreien.
Auch Conn hatte dem Wein zugesprochen, wenn auch nur mit einigen Schlucken, die auf seinen jeder Flüssigkeit entwöhnten Körper jedoch verheerende Wirkung hatten. Ziellos trat er zwischen Feuern und Zelten umher, die für ihn alle gleich aussahen, und er gestand sich widerstrebend ein, dass er sich im Lager verlaufen hatte. Nirgendwo sah er mehr ein bekanntes Gesicht, von Berengar und den Lothringern, deren Gesellschaft er kurz verlassen hatte, um sich am Rand des Lagers zu erleichtern, keine Spur.
Wohin Conn auch schaute, sah er ausgemergelte, aber glückliche Gesichter, lachend, singend, lallend, das Leben feiernd, das ihnen so unvermittelt wieder geschenkt worden war. Jemand packte ihn am Arm und drehte ihn herum. Ein betrunkener Franke, der einen Krug in den Händen hielt, prostete ihm zu, eine junge Frau sandte ihm auffordernde Blicke, ein Armenier bot ihm großzügig Wein an.
Conn winkte dankend ab und wankte weiter, um seine Suche nach Berengar und den anderen fortzusetzen. Da er keine Ahnung hatte, wohin er sich wenden musste, schlug er jeweils die Richtung ein, die ihm passend erschien – und hatte das Gefühl, sich immer noch tiefer im Labyrinth des nächtlichen Lagers zu verlieren. Lachende Mienen, heiserer Gesang, bratendes Fleisch über lodernden Feuern … Wie feindliche Geschosse prasselten die Eindrücke auf ihn ein und hämmerten gegen seinen Schädel. Verwirrt drehte er sich im Kreis und suchte nach einer Orientierung, nach etwas, woran seine Sinne sich festhalten konnten – als jemand seinen Namen rief.
»Conwulf?«
Er hielt inne und wandte sich um.
Vor ihm stand jemand, dessen Gesicht er nicht sehen konnte, weil er mit dem Rücken zum Feuer stand und nur seine Umrisse zu erkennen waren. »Bist du Conwulf?«
»J-ja«, bestätigte Conn. »Wer …?«
Er kam nicht dazu, die Frage auszusprechen. Ein harter Fausthieb traf ihn ins Gesicht. Er hörte seinen Unterkiefer knacken und merkte, wie die Beine unter seinem Körper nachgaben. Er fand sich auf dem sandigen Boden wieder, der Schatten über ihm, so dicht, dass Conn seinen fauligen Atem riechen konnte.
»Du hast etwas, das uns gehört, Conwulf«, zischte er.
»Nämlich?«, brachte Conn mühsam hervor, während er gleichzeitig versuchte, den Kerl abzuschütteln, was ihm allerdings nicht gelang. Zwei weitere Gestalten hielten ihn an Armen und Beinen fest.
»Frag nicht so dämlich«, fuhr der Schatten ihn an, und eine Klinge blitzte im Feuerschein. »Rück den Ring heraus, oder ich stopfe dir dieses Messer bis zum Heft in den Schlund, hast du verstanden?«
Conn verstand durchaus, aber er war nicht gewillt nachzugeben. Wieder versuchte er, sich zu wehren – vergeblich.
»Also, was ist jetzt? Gibst du uns das verdammte Ding freiwillig, oder muss ich dir zuerst die Kehle durchschneiden?«
Conn fühlte verstärkten Druck an seinem Hals und zweifelte nicht daran, dass der Schemen seine Drohung wahrmachen würde. Tod und Sterben waren in diesen Tagen so alltäglich geworden, dass sich niemand darum scheren würde, wenn ein junger Angelsachse mit durchschnittener Kehle aufgefunden würde. Conn hatte keine Ahnung, woher der Kerl von dem Ring wusste, den der normannische Ritter ihm zum Dank gegeben und den er in den Saum seines Rocks eingenäht hatte, um ihn zu verbergen. Mehrmals hatte er in den letzten Tagen erwogen, das Gold gegen ein Stück Brot einzutauschen, es jedoch nicht getan – nur um jetzt dafür kaltblütig ermordet zu werden!
Ob dieser Ironie des Schicksals konnte er nicht anders, als sein Gesicht zu einem bitteren Grinsen zu verziehen.
»Was gibt’s da zu grinsen, hä?«, herrschte der Schatten ihn an und verstärkte den Druck hinter der Klinge, sodass Conn kaum noch zu atmen wagte. »Ich schlitz dich auf wie ein Schwein, wenn du nicht …«
Weiter kam er nicht.
Ein dumpfer Schlag war zu hören, und der Körper des Gesichtslosen verkrampfte sich. Dann kippte er zur Seite, und seine beiden Helfer sprangen auf und ergriffen die Flucht.
Conn, der nicht verstand, was geschah, merkte, wie sich sein Bewusstsein eintrübte – und kurz bevor sich der Schleier über ihn senkte, sah er über sich ein bekanntes Gesicht.
Baldric.
»Conwulf? Conwulf!«
Als Conn die Augen aufschlug, lag er auf einem kargen Lager in einem Zelt, das von flackerndem Schein beleuchtet wurde, und für einen Moment hatte er das Gefühl, dies schon einmal erlebt zu haben.
Den verzweifelten Kampf um das Überleben.
Die Rettung im letzten Augenblick.
Die tiefe Bewusstlosigkeit.
Und Baldric.
Hätte man ihm noch vor einem Jahr gesagt, dass er sich einmal über die Gesellschaft eines Normannen freuen würde, hätte er vermutlich nur gelacht. Nun jedoch ertappte er sich dabei, dass sein Herz einen Freudensprung machte, als er die narbigen, so vertrauten Züge seines Herrn und Mentors erkannte, dessen einzelnes Auge prüfend auf ihn herabblickte.
»Dich zu retten wird mir allmählich zur schlechten Gewohnheit, Junge«, brummte der Ritter, obwohl ihm die Erleichterung deutlich anzusehen war. »Wie fühlst du dich?«
Conn wollte nicken, aber ein schneidender Schmerz an seiner Kehle hinderte ihn daran. Er befühlte seinen Hals und stellte fest, dass er einen Verband trug. Die Klinge des Schattens hatte bereits seine Haut durchdrungen. »Ich bin am Leben«, krächzte er leise, »dank Euch.«
»Damit stehst du doppelt in Gottes Schuld«, entgegnete Baldric.
»Aber wie konntet Ihr wissen …?«
»Dass du noch am Leben bist?«, unterbrach ihn der Normanne, um ihm das Sprechen zu ersparen. »Wo du zu finden warst?«
»Mhm.«
»Ich wusste es nicht. Als du in jener Nacht auf dem Schiff nicht zurückkehrtest, da schien mir offenkundig, dass du über Bord gegangen warst. Obschon alles dagegen sprach, betete ich täglich zum Herrn, er möge dich bewahren. Unterdessen setzten wir unseren Weg fort und nahmen den Kampf gegen die Muselmanen auf. Wir waren dabei, als Nicaea fiel, und fochten bei Dorylaeum, und wir durchwanderten die Wüste wie einst das Volk Israel. Die Hoffnung, dich jemals wiederzusehen, hatten wir fast schon aufgegeben – als wir von einem jungen Angelsachsen erfuhren, der sich in der Schlacht von Dorylaeum angeblich durch besondere Tapferkeit ausgezeichnet hatte.«
»Und da habt ihr an mich gedacht?«
»Natürlich – wie viele starrsinnige Angelsachsen, die dumm genug sind, in vorderster Reihe zu kämpfen, gibt es wohl auf diesem Feldzug?«, fragte jemand. Der Eingang des Zeltes wurde beiseitegeschlagen, und zwei weitere vertraute Gestalten traten an Conns Lager und schauten grinsend auf ihn herab.
»Bertrand! Remy!« Conn musste ebenfalls lächeln. »Wie ich mich freue, euch zu sehen!«
»Ich freue mich auch, mein unbedarfter Freund«, feixte Bertrand. »Schon weil mir deine dummen Fragen gefehlt haben.«
»Hör nicht auf ihn«, brummte Remy in seltener Redseligkeit. »Er ist nur froh, wieder jemanden zu haben, den sein ständiges Gerede nicht in den Wahnsinn treibt.«
»Und ich dachte schon, ihr wärt nicht mehr am Leben.«
»Dasselbe dachten wir von dir«, versicherte Bertrand. »Unser guter Remy hier war schon ganz verzweifelt deswegen.«
»Du redest Unsinn«, widersprach der Hüne. »Wie immer.«
Trotz der schmerzenden Wunde an seinem Hals musste Conn lachen. Er richtete sich auf seiner Decke auf und erzählte so knapp er es vermochte, was ihm seit jener stürmischen Nacht auf dem salandrium widerfahren war. Zu Beginn unterbrach Bertrand ihn gelegentlich, um einige erläuternde Bemerkungen anzubringen, aber je weiter Conn in seinem Bericht fortschritt, desto seltener wurden die Einwürfe und desto größer das Erstaunen der drei Normannen.
»Ich sehe«, meinte Baldric, nachdem Conn seinen Bericht beendet hatte, »die Sorgen, die ich mir deinetwegen gemacht habe, sind unnötig gewesen. Du hast die Lektionen, die ich dir erteilt habe, gut gelernt.«
»Und noch ein paar mehr«, fügte Conn in Erinnerung an die blutige Schlacht und den sich anschließenden entbehrungsreichen Marsch hinzu. »Aber wie konntet ihr mich am Ende finden? Ich habe seit Dorylaeum nach euch gesucht, aber …«
»Wir waren oft als Kundschafter eingesetzt und deshalb nicht im Lager«, erklärte Baldric. »Was die Suche nach dir betrifft, so hat uns wohl der Allmächtige selbst geholfen – in Gestalt eines seiner ergebenen Diener.«
Als wäre dies das Stichwort, wurde der Zelteingang abermals beiseitegeschlagen und kein anderer als Berengar trat ein, den Conn als allerletzten erwartet hätte. »Pater?«, fragte er ungläubig. »Aber …«
»Gottes Wege sind wahrhaft unergründlich, mein junger Freund«, entgegnete der Mönch. »Wie viele Streiter Christi kam auch Herr Baldric zu mir, auf dass ich seine Seele von Ballast befreie. Auf diese Weise erfuhr ich von Dingen, die ich aus deinem Mund bereits gehört hatte, und begann zu ahnen, dass ein Zusammenhang bestehen musste. Und so ergab eins das andere.«
»Dennoch wären wir beinah zu spät gekommen, denn der Franzose war drauf und dran, dir die Kehle durchzuschneiden«, fügte Bertrand grinsend hinzu.
Conn nickte, als hätte er alles verstanden – in Wahrheit konnte er kaum fassen, dass das Schicksal ihm nach all den Fährnissen ein solches Geschenk gemacht und ihn wieder mit den Gefährten zusammengeführt hatte, die allesamt wohlauf waren. Er ertappte sich dabei, dass er dem Schöpfer dafür dankte – jenem Schöpfer, von dem er früher stets angenommen hatte, dass er sich nur um die Belange der Großen und Mächtigen kümmere.
»Nicht nur lautere Herzen tummeln sich im Heer des Herrn«, knurrte Baldric missmutig. »Du musst vorsichtig sein, wenn du des Nachts das Lager durchstreifst.«
»Ich weiß«, versicherte Conn und rieb sich den brummenden Schädel – dass er betrunken gewesen war und sich verlaufen hatte, behielt er geflissentlich für sich.
»Allerdings«, fuhr Baldric fort und wurde plötzlich ernst, »gibt es da eine Sache, die weitaus weniger leicht aus der Welt zu schaffen ist als ein hergelaufener Wegelagerer.«
»Ja?«, fragte Conn erstaunt.
»Als Pater Berengar sein Schweigen brach und mir von einem jungen Angelsachsen erzählte, der dem, den ich verloren glaubte, auf verblüffende Weise ähnelte, da sagte er, dass sich dieser Conwulf nenne des Baldrics Sohn …«
Conn fuhr innerlich zusammen. Infolge der Wiedersehensfreude hatte er an seine Notlüge gar nicht mehr gedacht. Seinem dröhnenden Schädel zum Trotz sprang er auf und sank vor Baldric auf die Knie. »Verzeiht, Herr. Ich wollte Euch weder beleidigen noch Euren Namen beschmutzen, das müsst Ihr mir glauben.«
»Das glaube ich dir gern, Junge, und ich würde auch niemals annehmen, dass du Schande über mich bringen wolltest. Nach allem, was ich gehört habe, dürfte vielmehr das Gegenteil der Fall gewesen sein. Dennoch hast du dich ungefragt meines Namens bedient und dir meinen Rang angemaßt, und das, Conwulf, ist ein ernsthaftes Vergehen, zumal für jemanden deines Standes und deiner Herkunft.«
»Ich weiß, Herr.« Reue erfüllte Conn plötzlich, nicht so sehr, weil er sich etwas angeeignet hatte, das ihm nicht gehörte – das hatte er auch früher schon getan. Sondern weil er das Gefühl hatte, Baldric enttäuscht zu haben.
Zögernd blickte er an dem Normannen empor, der sich vor ihm aufgebaut hatte, die Arme vor der Brust verschränkt, während das eine Auge streng auf Conn herabblickte. Auch aus den Gesichtern Bertrands und Remys schien jede Freude gewichen zu sein.
»Es tut mir leid, Herr«, beteuerte Conn, der seine eben erst wiedergefundenen Freunde nicht gleich wieder um einer dummen Lüge willen verlieren wollte.
»Ich glaube dir, Conwulf«, versicherte Baldric, »aber die Schwere des Vergehens wird dadurch nicht aus der Welt geschafft. Ein Diener, der von sich behauptet, ein Edler zu sein, ist eine Beleidigung für den Ritterstand, und ich nehme an, dass der Fürstenrat eine angemessene Bestrafung für dich fordern wird.
Es sei denn«, fügte er nach einer kurzen Pause hinzu, »deine freche Behauptung entspräche den Tatsachen.«
»Was?«, fragte Conn verwirrt.
»Pater Berengar«, wandte sich Baldric an den Mönch, »ich möchte, dass Ihr als ergebener Diener von Gottes Reich auf Erden Folgendes bezeugt. Und auch euch, meine Getreuen«, sagte er an Bertrand und Remy gerichtet, »nehme ich als Zeugen dafür, dass ich vom heutigen Tage an Conwulf von London, genannt Conn, an Sohnes statt als meinen rechtmäßigen Nachkommen und Erben annehme, mit allen Rechten und allen Pflichten, die damit verbunden sind. Vorausgesetzt, er stimmt meiner Absicht zu.«
Hätte man Conn gesagt, dass Wasser und Himmel über Nacht vertauscht worden seien und die Fische jetzt durch die Lüfte flögen, seine Verblüffung hätte nicht größer sein können. Eben noch war er voller Schuldgefühle und hatte Angst, Herrn Baldric enttäuscht zu haben – und nun bot ihm dieser an, ihn als seinen Sohn anzunehmen!
Seine Verwunderung war ihm wohl anzusehen, denn Bertrand konnte sich eine spöttische Bemerkung nicht verkneifen. »Was denn? Hast du wirklich gedacht, der gute Baldric ließe dich bestrafen? Nachdem er dem Herrn auf den Knien dafür gedankt hat, dass du noch lebst?«
»Offen gestanden weiß ich nicht, was ich denken soll«, sagte Conn. »Warum tut Ihr das?«
»Weil ich mehr in dir sehe als du selbst«, antwortete Baldric.
»Aber Ihr … Ihr wisst doch kaum etwas über mich, Herr! Ich bin nur ein Dieb, ein …«
»Was du einst warst, ist nicht mehr von Belang«, belehrte Baldric ihn. »Wir alle, die wir uns auf diesen Feldzug begeben haben, haben unser altes Leben hinter uns gelassen. Du brauchst nur zuzustimmen, das genügt. Vorausgesetzt natürlich, der Name eines Ritters, dem wenig mehr geblieben ist als das, was er am Leibe trägt, ist dir gut genug.«
Conn überlegte. Zum zweiten Mal war dieser eigenwillige Normanne dabei, sein Leben zu verändern und ihn zu etwas zu zwingen, das er eigentlich nicht wollte. Er musste an London denken, an die Spelunke, in der er zu sich gekommen war, und an den Handel, den Baldric ihm aufgenötigt hatte – und er ertappte sich dabei, dass er trotz aller Strapazen, die er durchlitten, und trotz aller Schrecken, die er erlebt hatte, dafür dankbar war.
In England hatte Conn alles verloren und nichts mehr zu gewinnen gehabt. Baldric jedoch hatte ihm eine Welt gezeigt, die größer und freier war. Und war es nicht genau das gewesen, was er Nia versprochen hatte, als sie in seinen Armen starb? Plötzlich wurde Conn bewusst, wie weit das alles hinter ihm lag, und zum dritten Mal in seinem Leben hatte er das Gefühl, dass der Atem Gottes ihn zumindest für einen kurzen Augenblick berührte.
Seinem angeschlagenen Zustand zum Trotz kam er wankend auf die Beine und blickte seinem Herrn und Mentor tief in das eine Auge. »Ich gehöre Euch längst, Herr«, sagte er nur.
Baldric lächelte. Dann streckte er die rechte Hand aus und legte sie auf Conns linke Schulter. »Vor dem Allmächtigen und den hier anwesenden Zeugen nehme ich dich, Conwulf, an Sohnes statt an. Mein Blut ist nun auch dein Blut, mein Name auch der deine.«
»Danke, Herr«, flüsterte Conn.
»Dann besiegle ich die Adoption hiermit als Gottes bescheidener Diener und Zeuge«, fügte Berengar hinzu, »in nomine patris et filii et spirituˉs sancti.«
Die Anwesenden bekreuzigten sich, und Baldric nickte Conn in fast väterlichem Stolz zu. Der Gedanke, dass er nun zumindest dem Namen nach zum Normannen geworden war, kam Conn nur ganz am Rande in den Sinn, und er erschrak noch nicht einmal darüber. Während des langen Marsches hatte Conn Ritter aus den Reihen der angeblich so edlen Provenzalen verzweifeln und wie Knaben greinen sehen, dafür aber Normannen, die ihren Leuten auch in höchster Not zur Seite gestanden und ihnen Mut zugesprochen hatten. Nicht die Herkunft, sondern allein die Taten eines Mannes entschieden über seinen Wert. Die alten Vorurteile waren nicht länger von Bestand, und Conn begriff, dass er in dieser Nacht mehr gefunden hatte, als ihm je verloren gegangen war.
Nämlich den Vater, den er nie gehabt hatte.