17.
Vienne
September 1096
Es war so gekommen, wie der redselige Bertrand es vorhergesagt hatte. Bereits wenige Tage nachdem Conn am Brunnen der feurigen Rede des rothaarigen Mönchs gelauscht hatte, war der Abmarsch aus Rouen erfolgt. Schon kurz darauf hatte sich das Heer mit der Hauptstreitmacht aus Caen vereint, die der Herzog der Normandie persönlich befehligte. Natürlich bekam Conn den Sohn des Eroberers nicht zu sehen, ebenso wenig wie seinen Schwager Stephen de Blois oder einen anderen der hohen Herren, die im weiteren Verlauf des Marsches hinzustießen. Aber er war mehr als beeindruckt von der Größe, die die Streitmacht schon nach wenigen Tagen angenommen hatte.
Die Vorhut, die abwechselnd von den verschiedenen Gruppierungen des Heeres gestellt wurde, ritt dem riesigen Gebilde voraus, das sich einem gewaltigen Lindwurm gleich nach Süden wälzte. Ihr folgte das Hauptkontingent des Heeres, die Landlords und Fürsten mit ihren Rittern und Vasallen. Eine feste Ordnung gab es nicht; wer an welcher Stelle marschierte, hing davon ab, welchen Rang sein jeweiliger Herr in der Hierarchie des Feldzugs bekleidete. Allen voraus ritten freilich der Herzog und seine Getreuen, ihnen folgten sein Schwager sowie ein Kontingent flämischer Ritter unter der Führung des Grafen von Flandern, der ebenfalls Robert hieß und dessen Reichtum so sagenhaft war, dass er, wie es hieß, den Heereszug seiner Männer aus eigener Tasche bezahlte.
Den Anführern des Heeres schlossen sich deren Gefolgsleute an, zuvorderst die Reiter, dann das Fußvolk. Irgendwo inmitten des unüberschaubaren Pulks aus Kettenhemden und Lanzen, die über der Schulter getragen wurden und an deren Enden bunte Fahnen wehten, marschierten auch jene normannischen Kämpfer, die sich der Streitmacht von England aus angeschlossen hatten, und mit ihnen auch der wackere Baldric, der unentwegt plappernde Bertrand, der schweigsame Remy und Conn. Dem Hauptkontingent wiederum folgte ein nicht enden wollender Tross, der unzählige Handwagen und Ochsenkarren mitführte und dem neben Köchen, Schmieden, Sattlern und Zimmermeistern auch zahllose Frauen und Kinder angehörten. Angesichts der Tatsache, dass der Feldzug fraglos mehrere Monate, wenn nicht gar Jahre dauern würde, hatten sich viele Kämpfer entschlossen, ihre Familien auf die lange Reise mitzunehmen. Auch edle Frauen begleiteten in großer Anzahl ihre Männer, freilich hoch zu Ross und von einem dichten Kordon Bewaffneter umgeben, die dafür sorgten, dass kein begehrlicher Blick eines niederen Soldaten die hohen Damen und ihre Dienerinnen treffen konnte. Dazu kamen Mönche, fratres und Laienbrüder, die sich ebenfalls entschlossen hatten, dem Ruf ins Heilige Land zu folgen und sich so ihr Seelenheil schon zu Lebzeiten zu erwerben.
Die Erfahrung des langen Marsches war neu für Conn, aber er nahm dankbar zur Kenntnis, dass infolge der Strapaze und der Gleichförmigkeit eines jeden Tages seine Trauer in den Hintergrund trat. Noch vor Sonnenaufgang erscholl der Weckruf, und es gab eine Mahlzeit, die je nachdem, ob man in den Diensten eines wohlhabenden oder eher ärmlichen Herren stand, üppig oder knapp ausfiel. Obschon Baldric nicht besonders begütert schien und nur ein einziges Pferd sein Eigen nannte, sorgte er stets dafür, dass Conns Magen gefüllt und er bei Kräften blieb. Danach begann der Tagesmarsch, der nur zur Mittagsstunde kurz unterbrochen wurde, wenn die Sonne den Zenit erreichte.
Je weiter sie nach Süden gelangten, desto heißer wurde es, sodass die Erhebungen Frankreichs zum ersten Prüfstein für das Heer der – so nannten sie sich inzwischen – Kreuzfahrer wurde. Noch war man jedoch guter Dinge. Sobald die Hitze des Tages ein wenig nachließ, wurden nicht selten Lieder angestimmt, religiösen Inhalts zumeist, aber hin und wieder auch andere, zum Missfallen der Kirchendiener, die das Heer begleiteten.
Vor Sonnenuntergang wurde das Nachtlager aufgeschlagen, und es oblag jedem einzelnen Kämpfer, für seinen Schlafplatz zu sorgen. Der überwiegende Teil nächtigte unter freiem Himmel, was infolge des milden Wetters in diesen späten Sommertagen problemlos möglich war; die wohlhabenderen Kämpen und ihre Familien schliefen hingegen in Zelten, die ihre Untergebenen für sie errichteten, oder fanden in benachbarten Dörfern und Bauernhäusern Zuflucht, deren ursprüngliche Bewohner entweder freiwillig das Feld räumten oder kurzerhand an die Luft gesetzt wurden.
An sich wäre Conn damit bedient gewesen, nach dem Nachtmahl, das aus Brot, Käse und einem Stück Pökelfleisch bestand, auf sein Lager zu sinken, sich in seine Decke zu hüllen und zu schlafen – doch Baldric ließ es nicht dazu kommen. Zum einen gab es immer noch Pflichten, die Conn zu versehen hatte – vom Auffüllen der Wasserschläuche über das Füttern und Tränken des Pferdes bis hin zum Ausbessern von Kleidung und Ausrüstung. Zum anderen schien es sich der Normanne aber auch in den Kopf gesetzt zu haben, die Zeit bis zum Eintreffen im Heiligen Land zu nutzen, um aus Conn einen halbwegs brauchbaren Schwertkämpfer zu machen.
»Den Schild hoch«, beschied er ihm barsch, während sie sich im Schein lodernder Fackeln gegenüberstanden, auf einer Hügelkuppe, unterhalb derer sich das Feldlager erstreckte. »Oder willst du unbedingt dein Gebiss verlieren?«
Um seine Warnung zu unterstreichen, führte der Normanne sein Schwert in einer waagerechten Kreisbewegung, so rasch, dass Conn kaum noch reagieren konnte. Zwar gelang es ihm, den Schild ein wenig anzuheben, sodass er zumindest seine Kinnpartie schützte. Aber es reichte nicht aus, um Baldrics kraftvollen Hieb ganz abzuwehren. Die Klinge strich über die obere Kante des Schildes hinweg, und Conn konnte von Glück sagen, dass sie nicht aus geschärftem Metall bestand, sondern lediglich aus Holz, das ihm zwar eine gehörige Maulschelle versetzte, Wange und Kiefer jedoch beisammenließ.
Der Schmerz war dennoch recht beeindruckend; einen Augenblick lang tanzten Sterne vor Conns Augen. Bemüht, sich außer Reichweite seines Gegners zu bringen, taumelte er ein, zwei Schritte zurück. Da es jedoch bereits dunkel war und die im Boden steckenden Fackeln den Kampfplatz nur unzureichend beleuchteten, übersah er eine Vertiefung im morastigen Boden und verlor das Gleichgewicht. Mit einem dumpfen Aufschrei stürzte er nach hinten und landete auf dem Allerwertesten, geradewegs in einer Dreckpfütze, die nach allen Seiten spritzte. Die Eisenhaube auf seinem Kopf rutschte nach vorn und nahm ihm die Sicht, sodass er sich vorkam wie ein ausgemachter Trottel. Hastig schob er den Helm zurück in den Nacken – nur um zu sehen, dass die hölzerne Spitze von Baldrics Übungsschwert bereits an seiner Kehle schwebte.
»Junge«, stöhnte der Normanne und verdrehte das eine Auge, »wäre dies eine echte Klinge und wäre ich ein echter Gegner, so würdest du jetzt schon vor deinem Schöpfer stehen.«
»Ich weiß«, gab Conn kleinlaut zu.
»Aber natürlich wird unser angelsächsischer Dickschädel nicht aufgeben, oder?«, rief Bertrand lachend herüber, der zusammen mit Remy auf einem vom Wind gefällten Baum hockte und an einem kleinen Holzpferd schnitzte, wie er es häufig zu tun pflegte. Überhaupt besaß der Normanne ein gewisses Geschick darin, sein Messer zu benutzen, um einem Holzklotz Form und Gestalt abzutrotzen – auch die Übungsschwerter stammten aus seiner Fertigung. Die kleinen Figuren, die er zurechtschnitt, pflegte er Bauernkindern zu schenken, gewissermaßen als Trost dafür, dass des Herzogs Soldaten Kornsack um Kornsack aus den Vorratsspeichern ihrer Väter schleppten.
Conn bedachte ihn mit einem Seitenblick und schüttelte als Antwort auf dessen Frage störrisch den Kopf.
»Willst du es einmal mit ihm versuchen, Bertrand?«, fragte Baldric. »Ich werde es allmählich leid, ihn immer dieselben Lektionen zu lehren.«
»Nein, lass nur«, wehrte der andere ab und hob demonstrativ Schnitzwerk und Messer hoch, »ich bin anderweitig beschäftigt. Aber Remy sieht so aus, als könnte er es kaum erwarten, unserem Grünschnabel etwas beinzubringen.«
Das war freilich gelogen, denn der Gesichtsausdruck des schweigsamen Hünen unterschied sich in nichts von der Allerweltsmiene, die er auch zu jeder anderen Tageszeit zum Besten gab. Dennoch erhob er sich bereitwillig, bleckte das löchrige Gebiss und trat auf den Kampfplatz, um Baldric abzulösen.
»Bitte«, sagte der und händigte Remy das Holzschwert aus, »aber nimm ihn nicht zu hart ran. Schließlich ist er noch ein blutiger …«
Er hatte noch nicht zu Ende gesprochen, als der Hüne bereits auf Conn einschlug, und zwar keineswegs mit gezügelter Wucht, sondern so gründlich und kraftvoll, als gelte es, einem Eber den Schädel zu spalten. Conn, der noch immer auf dem Boden kauerte, sah die Klinge heranzischen und konnte nichts tun, als sich hinter seinen Schild zu ducken – der im nächsten Moment furchtbar unter dem Hieb erbebte. Fast gleichzeitig spürte Conn den Schmerz in seinem linken Arm – die alte Wunde, die sich wieder meldete.
Auf dem Gesäß durch den Morast rutschend, brachte er sich außer Remys Reichweite, der sein ganzes Gewicht in den Schlag gelegt hatte und einen Moment brauchte, um seine Leibesmasse wieder auszurichten. Rasch sprang Conn auf die Beine und nahm Verteidigungshaltung ein, wie Baldric es ihm beigebracht hatte, den Körper mit dem Schild deckend, das Schwert halb erhoben.
»So ist es gut«, lobte ihn sein Herr. »Beobachte seine Bewegungen. Ein Kämpfer seiner Größe muss das Gewicht verlagern, ehe er wieder angreift.«
Conn gab sein Bestes – und fiel dennoch auf die Finte seines Gegners herein. Mit einem Geschick, das einem Riesen wie ihm kaum zuzutrauen war, täuschte Remy einen weiteren Schwertstreich an, und Conn hob den Schild, worauf erneut heißer Schmerz durch seinen Arm zuckte. Remy jedoch änderte die Richtung seiner Attacke und stieß unerwartet zu. Hätte Conn nicht blitzschnell reagiert, wäre der Kampf schon wieder zu Ende gewesen. So riss er die eigene Klinge empor und parierte den Stoß, trug seinerseits einen Angriff vor, den sein erfahrener Gegner jedoch ins Leere laufen ließ.
Mit einer Leichtfüßigkeit, die seiner hünenhaften Erscheinung zu widersprechen schien, tänzelte Remy zur Seite und wich dem Hieb aus, dafür brachte er Conn einen weiteren Schwertstreich bei, den dieser – wenn auch unter Schmerzen – mit dem Schild blockte. Die Wucht des Aufpralls allerdings war so groß, dass er erneut ins Taumeln geriet.
»Remy«, rief Bertrand aus seiner sicheren Distanz. »Du musst unseren tölpelhaften Freund nicht erschlagen, um ihm etwas beizubringen, hörst du?«
Conn wollte beipflichten, aber schon ging der nächste Hieb auf ihn nieder. Er parierte ihn mit der Übungsklinge, doch das Holz gab nach und brach entzwei. Remy gab ein verächtliches Keuchen von sich und holte zum letzten Schlag aus.
»Den Schild hoch! Den Schild!«, hörte Conn Baldric brüllen, und er wollte gehorchen – anders als sein Arm.
Alles, was er fühlte, war Schmerz, und der Schild wurde so schwer, als wäre er aus purem Blei gegossen. Statt ihn anzuheben, ließ Conn ihn sinken, entsprechend krachte einen Lidschlag später Remys Schwert mit derartiger Wucht an seinen Helm, dass das Metall eine Beule davontrug und Conn das Gefühl hatte, der Kopf würde ihm von den Schultern gerissen.
Benommen ging er nieder. Auch die Tatsache, dass er sich an den Schild klammerte, dessen spitzes unteres Ende im weichen Boden steckte, änderte nichts daran, dass er sich im nächsten Moment auf dem Boden wiederfand, zur Belustigung Bertrands und Remys, dessen Lachen sich anhörte wie ein brunftiger Hirsch. Und zum Ärgernis Baldrics, dessen gestrenge Miene über ihm auftauchte.
»Was soll das?«, fragte der Normanne. »Kannst du nicht hören, was ich dir sage? Willst du unbedingt vom erstbesten Sarazenen erschlagen werden, der dir über den Weg läuft?«
»V-verzeiht, Herr«, war alles, was Conn hervorbrachte – zu mehr war er sowohl aufgrund seines dröhnenden Schädels als auch wegen der tobenden Schmerzen in seinem Arm nicht in der Lage.
Er befreite sich von dem Schild und ließ ihn fallen. Blut tränkte den Ärmel seiner Tunika und sickerte unter dem Kettenhemd hervor, das Baldric für ihn erstanden hatte.
»Allmächtiger«, stieß der Normanne hervor und ließ sich bei ihm nieder, um den Arm in Augenschein zu nehmen. »Die Wunde hat sich schon wieder geöffnet«, stellte er fest und roch daran. »Und sie eitert.«
»Ja, Herr.«
»Warum hast du mir das nicht gesagt?«
»Weil ich meine Lektion lernen wollte«, entgegnete Conn schlicht und erntete dafür einen Blick, der – soweit er feststellen konnte – ein wenig Verblüffung, ein wenig Tadel, aber auch eine Spur von Stolz enthielt. »Und weil es nichts geändert hätte, oder?«
»Damit hast du nur zu recht«, sagte Baldric barsch. »Eine Verwundung ist keine Entschuldigung für einen schlechten Kampf. Wenn du die Kämpfe, die uns bevorstehen, überleben willst, musst du weiter hart trainieren.«
»Ja, Herr.« Conns Sinne drohten ihm zu schwinden, so überwältigend war der Schmerz.
»Räum den Kampfplatz auf. Dann geh hinüber zu den Mönchen, vielleicht können sie etwas für dich tun.« Er griff an den Beutel an seinem Gürtel und holte ein Silberstück hervor. »Gib ihnen dies. Es wird ihre Hilfsbereitschaft ein wenig fördern.«
»Als Bezahlung?«, fragte Conn verwundert.
»Als Almosen«, erklärte Baldric mit mattem Lächeln.
»Ich danke Euch, Herr.«
»Schon gut. Und jetzt mach dich an die Arbeit.« Abrupt wandte sich der Normanne ab, aber Conn entging nicht der Blick, den er in Bertrands Richtung warf und den dieser mit einiger Besorgnis erwiderte. Conn nahm an, dass es dabei um seinen Arm ging. Vermutlich wussten sie etwas, was sie ihm nicht sagen wollten, oder hatten zumindest einen Verdacht. Er verspürte jedoch auch kein Verlangen, sie danach zu fragen.
Stattdessen sammelte er den Schild, das verbliebene Übungsschwert sowie die Überreste seiner eigenen Klinge vom Boden auf, dann löschte er die Fackeln. Nachdem er alles zum Lagerplatz gebracht hatte, wollte er sich, wie Baldric es ihm aufgetragen hatte, zu den Cluniazensermönchen begeben, die nicht weit entfernt lagerten.
»Warte, mein ungeschickter Freund«, rief Bertrand ihm zu, der seine Schnitzarbeit aufgegeben und wieder in seinem Gürtelbeutel verstaut hatte, »ich komme mit dir.« Und ohne darum gebeten zu haben, war Conn plötzlich in Begleitung des geschwätzigen Normannen.
»Tut es sehr weh?«, erkundigte sich Bertrand mit einem Ernst, der Conn erneut beunruhigte.
»Es geht«, stieß er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
»Der gute Remy ist ein treuer Geselle«, suchte Bertrand ihn aufzumuntern, »aber so feinfühlig wie der Hund eines Henkers, richtig?«
»Richtig«, bestätigte Conn mit einem freudlosen Grinsen.
Sie gingen durch das Lager, vorbei an müde aussehenden Männern, die um kleine Feuer saßen und karge Mahlzeiten kauten. Mit dem Untergang der Sonne war es merklich kühler geworden. Wind wehte von den nahen Bergen her. In den Senken hatte sich Nebel gebildet, der sich in zähen Schwaden ausbreitete und in das Lager kroch. Vor dem Hintergrund der knorrigen Bäume, die bereits begonnen hatten, ihr Laub abzuwerfen, und den flackernden Schatten der unzähligen Feuer entstand eine bedrückende Stimmung, die sich rasch ausbreitete. Nirgendwo wurde gesungen oder auch nur ein lautes Wort gesprochen. Das ganze Lager schien unter einer Haube aus Nebel und Dunkelheit zu versinken, der Welt und ihrer Zeit entrückt.
»Eine düstere Gegend ist das hier. Kein Wunder«, beschwerte sich Bertrand und kreuzte die Arme vor der Brust, um sich zu wärmen.
»Kein Wunder? Was meinst du damit?«
»Diese Stadt dort unten«, erklärte Bertrand, nach der Ostseite des Lagers deutend, »ist Vienne.«
Conn hob die Brauen. »Und?«
Einmal mehr rollte der untersetzte Normanne mit den Augen und fuhr sich durch das wirre Haar. »Du meine Güte! Wo hast du nur dein bisheriges Leben verbracht?«
»Auf der Straße«, erwiderte Conn wahrheitsgemäß.
»Dann wundert mich nichts. So höre denn, unwissender Conwulf, dass Vienne die Heimatstadt jenes Pontius Pilatus gewesen ist, der Statthalter in Judäa war, gerade zu der Zeit, als unser Herr Jesus dort wirkte – und unter dessen Herrschaft er grausam hingerichtet wurde.«
Conn schluckte sichtbar. Zwar konnte er nicht lesen und war folglich auch nicht in der Lage, die Bibel zu studieren. Er hatte jedoch oft genug den Worten von Wanderpredigern und Laienbrüdern gelauscht, die nach London gekommen waren, um dem einfachen Volk von den Wohltaten Christi zu berichten, von seinem Sterben und seiner Auferstehung. Und natürlich wusste er auch, welche Rolle Pilatus dabei gespielt hatte, jener ebenso eitle wie schwache Römer, der sich die Hände in Unschuld gewaschen hatte. Aber dass er selbst sich just an jenem Ort befinden sollte, von dem Pilatus stammte, ließ die Ereignisse viel unmittelbarer erscheinen. Unwillkürlich fragte sich Conn, wie es sich erst verhalten mochte, wenn er das Heilige Land betrat, das doch der Schauplatz all dieser wunderbaren Begebenheiten gewesen war.
»Wie es heißt, soll Pilatus später in seine Heimatstadt zurückgekehrt sein, aber er fand keinen Frieden mehr. Es wird behauptet, dass er Vienne verließ und in den Bergen ein karges Dasein fristete, wo er schließlich einen einsamen Tod starb. Jene Erhebung dort«, fügte Bertrand hinzu, auf einen schwarzen Bergrücken deutend, der im Nebel und gegen den dunkelnden Himmel kaum auszumachen war, »trägt daher seinen Namen.«
Conn schauderte insgeheim. »Woher weißt du das alles?«, fragte er, um das Thema zu wechseln.
»Woher wohl? Aus Büchern«, erklärte der Normanne, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt. »Kannst du etwa nicht lesen?«
»Natürlich nicht.« Conn schüttelte den Kopf.
»Daran ist überhaupt nichts Natürliches. Womöglich wäre es um diese Welt besser bestellt, wenn mehr Menschen des Schreibens und Lesens mächtig wären und so aus den Fehlern der Vergangenheit lernen könnten. Denn es gibt viele Bücher, Conwulf, nicht nur jene, in denen die Wundertaten unseres Herrn aufgeschrieben sind, sondern auch solche aus alter Zeit, Bücher der Geschichte, die in den Bibliotheken der Klöster aufbewahrt werden.«
»Ich verstehe«, behauptete Conn.
»Willst du es lernen?«, fragte Bertrand unvermittelt.
»Was lernen?«
»Lesen natürlich, Dummkopf. Ich könnte es dich lehren.«
»Danke, aber ich habe schon an Herrn Baldrics Lektionen zu tragen.«
»Er nimmt dich hart ran, und das ist gut so, denn in der Schlacht gibt es keine barmherzigen Gegner, noch dazu, wenn man gegen Sarazenen kämpft. Aber so wie die Dinge liegen«, sagte Bertrand mit Blick auf Conns Arm, »wirst du deine Schwertübungen wohl für eine Weile aussetzen müssen – und diese Zeit könntest du nutzen, indem du lesen und schreiben … Sag mal, du Ochse, hörst du mir überhaupt zu?«
Die Frage war berechtigt, denn Conn war plötzlich stehen geblieben und hatte tatsächlich kaum noch etwas von dem mitbekommen, was sein normannischer Begleiter sagte.
Ein Stück voraus, nur einen halben Steinwurf entfernt, hatte er einen Reiter ausgemacht. Aufrecht auf seinem Ross sitzend, mit einem schimmernden Helm auf dem Haupt und einem reich bestickten Mantel um die Schultern, bot der Kämpe an sich schon einen eigentümlichen Kontrast zu den ermüdeten und gebeugten Gestalten, die allenthalben am Boden kauerten. Aber da war noch mehr, das Conns Aufmerksamkeit fesselte. Denn unter dem Helm des Ritters quoll langes blondes Haar hervor, das auf seine Schultern fiel, und die blassen Gesichtszüge mit der spitzen Nase und dem hervorspringenden Kinn waren so markant, dass Conn sicher war, den Mann zu kennen – aber woher?
Er überlegte fieberhaft, während der Reiter mit einem Soldaten sprach, der in unterwürfiger Haltung vor ihm stand. Als Conn die grünen Augen des Mannes im Widerschein des Feuers funkeln sah, wusste er plötzlich, wo er ihm begegnet war.
Greller Schmerz durchzuckte nicht nur seinen Arm, sondern auch sein Innerstes. Die Erinnerungen, die der Anblick des Fremden auslöste, rissen ihn zurück in die Nacht von Nias Tod. Auf seiner wilden Flucht, kurz bevor er über die Zinnen der Burg und in den Fluss gesprungen war, hatte er auf dem Wehrgang einem jungen Ritter mit blasser Miene und kantigen Zügen gegenübergestanden, dessen grüne Augen ihn hasserfüllt angestarrt hatten – und er war sicher, genau diesen Ritter vor sich zu haben!
»Hundsfott!«, herrschte der den Soldaten an. »Hatte ich dir nicht aufgetragen, mein Zelt aufzurichten? Stattdessen liegst du hier mit den anderen Taugenichtsen und ruhst dich aus!«
»Verzeiht, Herr«, entgegnete der Soldat, der das Haupt ehrerbietig gesenkt hatte und den Jüngeren zu fürchten schien, »aber Baron de Rein hat uns erlaubt …«
De Rein!
Allein die Erwähnung dieses einen Namens genügte, um Conn zusammenfahren zu lassen, als hätte ihn ein Schwertstreich getroffen. Bertrand, das Lager und alles andere um ihn herum schienen hinter einer Mauer zu verschwinden. Alles, was er sah, war der Jüngling auf dem Pferd. Mit eigenartiger Klarheit drang dessen Stimme an sein Ohr, so als ob er direkt neben ihm stünde.
»Was mein Vater euch erlaubt hat, interessiert mich nicht. Zunächst habt ihr eure Pflichten zu erfüllen, ehe ihr eure faulen Hinterteile zur Ruhe betten könnt, habt ihr verstanden?«
»Wie Ihr wünscht, Herr Guillaume«, antwortete der Scherge und schien auf die Knie fallen zu wollen, was der andere jedoch schon nicht mehr mitbekam. Das behelmte Haupt hoch erhoben, riss er sein schnaubendes Tier herum und ritt davon, ohne seinen Untergebenen auch nur eines weiteren Blickes zu würdigen.
Einen Augenblick stand Conn, der nach wie vor nur den Reiter wahrnahm, völlig reglos. Dann glitt seine Rechte an den Gürtel, wo der Dolch hing, umfasste den Griff und riss ihn heraus.
Dies war Guillaume de Rein!
Der Mann, der Nia getötet und sein Leben zerstört hatte!
Hass, wie er ihn nie zuvor in seinem Leben verspürt hatte, loderte in seinem Herzen auf wie eine Feuersbrunst, würde ihn verzehren, wenn er ihm nicht augenblicklich nachgab.
Conn wollte loslaufen, dem Reiter hinterdrein, um ihm die Klinge des Dolchs in den Rücken zu rammen und sein frevlerisches Leben auszuhauchen, so wie der es bei Nia getan hatte. Über die Folgen dachte Conn in diesem Moment nicht nach. Alles, was er wollte, war den Racheschwur erfüllen, den er am toten Körper seiner Geliebten geleistet hatte – plötzlich aber packte ihn eine Hand und hielt ihn zurück. »Wohin des Wegs, mein ungestümer Freund?«, sagte jemand direkt neben ihm.
Jäh weitete sich Conns Blickfeld wieder, und er schaute in die vertrauten Züge von Bertrand, der ihn mit einer Mischung aus Sorge und Ungeduld ansah. Seine beiden Hände umklammerten dabei Conns unverletzten Waffenarm.
»Lass mich los!«, verlangte Conn wütend.
»Zu welchem Zweck?«, fragte der Normanne ungerührt. »Mir will scheinen, dies führt zu keinem guten Ende.«
»Das ist mir egal«, schrie Conn so laut, dass die Männer, die ringsum an ihren Feuern saßen, aufmerksam wurden und herüberschauten. Andere, die bereits geschlafen hatten, wurden wach und stießen bittere Verwünschungen aus. »Ich werde dieses Schwein …«
»Gar nichts wirst du«, fiel Bertrand ihm ebenso energisch wie barsch ins Wort, und zum ersten Mal bekam Conn zu spüren, dass sich hinter der gedrungenen, harmlos wirkenden Statur des Normannen beträchtliche Körperkraft verbarg. »Steck das Messer wieder ein, Junge, und halte den Mund. Oder willst du unbedingt hängen?«
Conn wehrte sich mit verzweifelter Kraft, aber er hatte keine Möglichkeit, dem Griff des älteren und sehr viel erfahreneren Kämpfers zu entkommen. Schließlich sah er ein, dass sein Widerstand keinen Zweck haben würde, zumal Guillaume de Rein längst verschwunden war. So plötzlich, wie die Dunkelheit ihn ausgespien hatte, hatte sie ihn wieder aufgenommen.
Als Bertrand merkte, dass Conn aufgab, lockerte er seinen Griff ein wenig. »Du kennst Guillaume de Rein?«
Conn nickte. Was hätte er es auch leugnen sollen?
»Aber du hast offenbar wenig Grund, ihn zu lieben«, forschte der Normanne weiter nach.
»Nicht einen einzigen«, sagte Conn nur. Seine Mundwinkel verzerrten sich vor Abscheu.
Bertrand schaute ihn prüfend an. »Ich verstehe. Aber der gute Herr Baldric hat dich ganz sicher nicht gerettet, damit du bei der ersten sich bietenden Gelegenheit dein Leben sinnlos verschleuderst. Geht das in deinen angelsächsischen Dickkopf?«
Conn nickte, und während sich sein Zorn allmählich wieder legte und einer stummen Leere wich, ging ihm erst auf, was für ein überaus seltsames Gespräch er mit Bertrand führte. War Baldrics Gefolgsmann nicht ebenfalls Normanne? Und hatte zu Hause in England die oberste Überlebensregel nicht gelautet, niemals einem Normannen zu vertrauen? Aber wenn dies so war, weshalb bestürmte Bertrand Conn dann nicht mit Fragen und versuchte herauszufinden, welche Art Feindschaft er gegen einen seiner eigenen Leute hegte? Und hätte er ihn, da er Conns Absichten ja ganz offenbar durchschaute, nicht niederschlagen und ihn seiner Waffe berauben müssen? Oder ihn zumindest Guillaume de Reins Leuten übergeben
müssen?
Bertrand jedoch schien nicht einmal einen Gedanken daran zu verschwenden. Stattdessen bedachte er Conn mit einem letzten warnenden Blick und entließ ihn dann vollends aus seinem Griff.
»Du … du kennst de Rein ebenfalls«, sprach Conn die Vermutung, die ihm durch den Kopf schoss, laut aus.
»Ein wenig. Jedoch gut genug, um zu wissen, dass es ratsam ist, sich von ihm und seinem Vater fernzuhalten.«
»Aber …«
»Kein aber. Wenn du tust, wozu dein Gefühl dir rät – und ich glaube zu wissen«, fügte der Normanne mit Blick auf Conns Dolch hinzu, »was das ist –, so wirst du entweder am Galgen enden oder gleich getötet, zumal du Guillaume de Rein im Kampf nicht das Wasser reichen könntest. Folglich wirst du deine unsterbliche Seele im Fegefeuer wiederfinden, wenn nicht gar im dunkelsten Höllenpfuhl. Bist du sicher, dass du ein derart sinnloses Opfer bringen willst?«
Conn schaute ihn verblüfft an.
Er war noch immer wütend, inzwischen aber wieder so bei Verstand, dass er einen klaren Gedanken fassen und ihn auch zu Ende bringen konnte. Somit kam er nicht umhin zuzugestehen, dass Bertrand recht hatte. Die Gefahr ewiger Verdammnis hätte Conn auf sich genommen, wenn dafür garantiert gewesen wäre, dass Guillaume de Rein seine gerechte Strafe erhielt. Aber dies war tatsächlich äußerst fraglich, denn abgesehen von seinem Hass war Conn nicht darauf vorbereitet, Nias Mörder gegenüberzutreten, zumal ihn die Verwundung am Arm zusätzlich beeinträchtigen würde.
Er würde seine Rache einmal mehr aufschieben müssen, aber er hatte eine wichtige Erkenntnis gewonnen: Die de Reins hatten sich dem Feldzug ebenfalls angeschlossen und reisten im selben Kontingent wie er, was bedeutete, dass er in ihrer Nähe war und sie ihm nicht entkommen konnten. Entdeckung brauchte er wohl nicht zu fürchten, denn Guillaume de Rein und er hatten sich zwar in jener Nacht auf den Zinnen der Königsburg kurz gegenübergestanden, doch fraglos hatte sich ihm die Fratze des Mörders ungleich tiefer ins Gedächtnis eingebrannt als sich sein Gesicht dem jungen Herrn de Rein, für den ein Angelsachse aussah wie der andere. Vermutlich, dachte Conn bitter, erinnert sich de Rein noch nicht einmal an die junge Frau, die er wie einen Hund geprügelt und zu Tode vergewaltigt hatte.
Wieder verspürte er tiefen Zorn, aber diesmal behielt er die Kontrolle.
Es war zu früh, um sich Guillaume de Rein zu stellen.
Aber sie reisten gemeinsam, und von dieser Stunde an hatte auch Conn einen erklärten Grund, mit den Kreuzfahrern gen Osten zu ziehen, auch wenn seine Motive weniger hehr waren als jene Baldrics und er sein Seelenheil wohl eher verlieren als gewinnen würde.