3.



»Nia? Wo bist du?«

Conn blickte sich suchend um. Er schlich durch den Wald, der sich nordöstlich der Stadtmauern erstreckte, ein grünes Dickicht aus Buchen, Eschen und uralten Eichen, zwischen denen Beerensträucher und üppiger Farn gediehen. Schäfte von honigfarbenem Sonnenlicht fielen durch das grüne Blätterdach, tauchten den Wald in lieblichen Schein und machten die Nähe der lärmenden, betriebsamen, aus allen Poren stinkenden Stadt beinahe vergessen. Nur das Summen der Bienen war zu hören und von fern das Klopfen eines Spechts. Von Nia jedoch fehlte jede Spur, sodass Conn nichts übrigblieb, als abermals ihren Namen zu rufen, wenn auch nur halblaut und verstohlen.

»Nia?«

Erneut bekam er keine Antwort, und ihn befiel jähe Enttäuschung. Natürlich konnte es sein, dass sie woanders hingeschickt worden war, aber für gewöhnlich war dies der Tag, an dem sie die Burg verlassen durfte, um im Wald Kräuter zu sammeln, und es war die Stunde, die sie beide die ganze Woche über herbeisehnten.

Auf einer kleinen Lichtung blieb Conn stehen und schaute sich abermals suchend um. Als er noch einmal Nias Namen rief, konnte er plötzlich ein leises Kichern hören und einer der großen Farnbüsche, die die Lichtung wie ein grüner Wall umgaben, regte sich verdächtig.

»Nia?« In einer Mischung aus Ärger und Erleichterung verdrehte Conn die Augen. »Sag, dass das nicht wahr ist!«

Das Kichern wurde zu ausgelassenem Gelächter, und aus dem dichten Gewirr der Farnblätter tauchte ein Gesicht auf, das schöner war als alles, was Conn sich auf Erden vorzustellen vermochte.

Ebenmäßige Züge mit geröteten Wangen und einer kleinen, keck hervorspringenden Nase, darunter ein herzförmiger Mund mit rosigen Lippen und ein schmales, vielleicht ein wenig zu spitz geratenes Kinn, das ihrer Schönheit aber keinen Abbruch tat. Glattes kastanienfarbenes Haar, das ihr bis auf die Schultern fiel, umrahmte Nias Gesicht. Ihre braunen Augen, deren Lebenslust und Heiterkeit ansteckend war, leuchteten wie Sterne in einer klaren Sommernacht.

Conn konnte nicht anders, als von diesem Anblick verzaubert zu sein. Er lächelte und breitete die Arme aus, worauf sie ihr Versteck verließ und zu ihm eilte. Sie umarmten sich innig, und er genoss es, ihre schlanke Gestalt an sich zu pressen, ehe sich ihre Lippen in einem langen Kuss begegneten.

»Du hast mich vermisst«, stellte sie lächelnd fest, als sie sich wieder voneinander trennten. Ihr fremder Akzent war unüberhörbar – nur eines der vielen kleinen Dinge, die er an ihr liebte.

»Was bringt dich denn auf den Gedanken?«

»Ich habe dein Gesicht gesehen. Du hattest Angst, ich könnte nicht gekommen sein.«

»Unsinn.« Conn schüttelte den Kopf.

»Du konntest den Gedanken, mich eine weitere Woche lang nicht zu sehen, nicht ertragen«, beharrte sie.

»Von wegen«, widersprach Conn, der ihr den Triumph nicht gönnen wollte. »Ich wäre einfach zurück in die Stadt gegangen und nächste Woche wiedergekommen.«

»Du lügst. In Wahrheit denkst du in jedem Augenblick an mich, und die Vorstellung, mich eine ganze Woche lang nicht zu sehen, ist dir unerträglich, nicht wahr? So jedenfalls«, fügte sie leiser hinzu, »geht es mir.«

Statt etwas zu erwidern, zog er sie abermals an sich und küsste sie. Das Glück, das er in diesem Augenblick empfand, machte alle Gefahr und alles Elend um sie herum vergessen – bis ein erneutes Rascheln im Gebüsch ihre Ruhe störte.

Conn fuhr herum und sah ein weiteres Frauengesicht aus dem Farn auftauchen, blasser und herber und – zumindest in seinen Augen – nicht annähernd so schön wie Nias. Es gehörte Emma, ihrer Aufseherin und wahrscheinlich der einzigen Freundin, die sie auf Erden hatte.

»Pst, ihr beiden«, sagte die Magd, die anders als Nia kein Eisen um den Hals trug. »Ich störe euch nur ungern, aber ihr solltet euch vorsehen. Wenn de Bracy euch entdeckt …«

»De Bracy ist weit weg«, entgegnete Conn geringschätzig.

»Außerdem wird in der Burg Besuch erwartet, wie du weißt«, fügte Nia feixend hinzu, »da hat er sicher anderes zu tun, als nach den Leibeigenen zu sehen.«

»Wie ihr meint.« Emma schnitt eine Grimasse. »Aber treibt es nicht zu bunt, ihr beiden, hört ihr?«

»Nun hau schon ab!«, zischte Nia und wedelte mit der Hand, als wollte sie ein lästiges Insekt verscheuchen. Die Magd wurde daraufhin noch ein bisschen röter im Gesicht und verschwand kichernd zwischen den Bäumen.

»Sie wird aufpassen, wie jedes Mal«, war Nia überzeugt, während sie sich wieder Conn zuwandte. »Und sie wird dafür sorgen, dass mein Korb gefüllt ist, wenn ich am Abend in die Burg zurückkehre, damit de Bracy nichts bemerkt.«

Conn nickte dankbar. Guy de Bracy war ein Edler am Königshof, ein in die Jahre gekommener Kämpfer, der schon unter dem alten König William gedient und dabei einen Arm verloren hatte. Daraufhin war er mit dem Posten des Seneschalls betraut worden, zu dessen Pflichten auch die Aufsicht über die Sklaven gehörte, die in der Burg ihren Dienst versahen.

So wie Nia.

Sie war noch ein Kind gewesen, als sie aus ihrem walisischen Heimatdorf verschleppt worden war. Im Zuge des Eroberungskrieges, den des Königs Soldaten in den Westen der Insel getragen hatten, hatte ein normannischer Edler einen Vorstoß unternommen, der den britannischen Feind einschüchtern und ihn in die Schranken weisen sollte. Mehrere Dörfer waren niedergebrannt, die Männer hingemetzelt, die Frauen geschändet und die Kinder verschleppt worden – so auch Nia, die schließlich auf den Sklavenmarkt von Birmingham gelangt war, wo sie mehrfach den Besitzer gewechselt hatte und schließlich an einen Getreuen des Königs verkauft worden war.

Auf diese Weise war sie nach London gekommen und musste als normannischer Besitz leibeigene Dienste verrichten. Der Reif aus Eisen, den sie um den Hals trug, erinnerte sie Tag und Nacht daran. Dass sie die Burg überhaupt verlassen durfte – wenn auch nur in Begleitung einer Freien –, lag daran, dass sie von ihrer Mutter einst in der Kräuterkunde unterwiesen worden war und der alte, vom Reißen geplagte de Bracy die Wirkung eines guten Suds oder einer wohltuenden Salbe überaus zu schätzen wusste.

Auf einem ihrer Streifzüge durch den Wald, die sie allwöchentlich unternahm, um frische Kräuter und Wurzeln zu sammeln, war Conn ihr schließlich begegnet. Ohne es zu wollen oder etwas dagegen tun zu können, hatten sie sich ineinander verliebt.

Conn mochte alles an ihr.

Ihr feengleiches Aussehen, ihr langes Haar, ihren fremdartigen Akzent, in dem ein Hauch von Unbeugsamkeit und Wildheit mitschwang. Vor allem aber war es ihr Wesen, das ihn in Bann schlug – die unbekümmerte Leichtigkeit, mit der sie all das Schreckliche hinnahm, das ihr widerfahren war, und ihr trotz aller Widrigkeiten ungestillter Hunger nach Leben. Noch vor nicht allzu langer Zeit war Conn ein anderer gewesen. Gleichgültig hatte er von Tag zu Tag gelebt, sich einen Dreck um andere gekümmert und nur dafür gesorgt, dass sein Magen gefüllt blieb, geradeso wie der unglückliche Tostig. Seit er Nia begegnet war, hatte sich dies jedoch geändert. Conn hatte nun ein Ziel, für das zu leben lohnte. Ein Dieb mochte er noch immer sein, aber er stahl nicht mehr nur um seiner selbst willen.

»Es ist wieder was dazugekommen«, verkündete er mit vor Stolz geschwellter Brust.

»Wirklich? Wie viel?«

Statt zu antworten, griff Conn unter seine Tunika, holte den Lederbeutel des Henkersbüttels hervor und schüttete den Inhalt auf ihre Hand.

»Fünf Silberpfennige«, stellte sie verwundert fest. »Woher …?«

»Keine Fragen«, erinnerte er sie an die Abmachung, die sie getroffen hatten. »Damit sind es nun schon dreißig.«

»Das reicht noch lange nicht«, stellte Nia ein wenig resignierend fest. »Du weißt, de Bracy verlangt zehn Shillings.«

Conn wusste das sehr wohl. Zehn Shillings – das war weniger, als man für einen guten Wachhund bezahlen musste, aber weit mehr als für einen altersschwachen Gaul. Es war der Preis, den Conn aufzubringen hatte, wenn er Nia aus dem königlichen Hausstand herauskaufen wollte. Als frei Geborener konnte er das, vorausgesetzt natürlich, der Seneschall willigte in den Handel ein. Aber das waren Dinge, mit denen sich Conn erst befassen wollte, wenn es so weit war. Einstweilen begnügte er sich damit, von jenem fernen Tag zu träumen, an dem er die Burg betreten und Nia auslösen würde – und jede sich bietende Gelegenheit zu nutzen, die dafür erforderliche Summe zusammenzustehlen.

Er reichte ihr den Beutel, damit sie das Geld hineingeben und er es wieder einstecken konnte. Dann fasste er sie am Handgelenk und zog sie von der Lichtung in den nahen Hain, der ihnen schon öfter als Zuflucht gedient hatte. Dichter Efeu rankte sich zwischen uralten Eichen und bildete eine natürliche Höhlung. Goldenes Sonnenlicht fiel durch das Dach und ließ die Blätter leuchten, samtweiches Moos überzog einladend den Boden.

Lachend ließen sie sich nieder. Dabei strich ihr Haar über sein Gesicht, und obwohl es nach Ruß und Rauch roch, fand er, dass es wie Rosenwasser duftete. Erneut küssten sie sich und wälzten sich über den Boden, dann merkte Conn, wie Nia sich in seiner Umarmung verkrampfte. »Alles in Ordnung?«, wollte er wissen.

Sie nickte, löste sich dann aber von ihm und setzte sich auf. »Hast du niemals Angst?«, fragte sie.

»Wovor?«

»Dass wir es nicht schaffen könnten«, erwiderte sie und deutete auf die Stelle, wo der Geldbeutel unter seinem Hemd verschwunden war.

»Warum sollte ich?« Er grinste unverschämt. »Das Geld für deine Freilassung ist schließlich schon da. Es gehört im Augenblick nur noch jemand anderem.«

»Genau das meine ich.« Sie nickte bekräftigend. »Stehlen ist nicht recht. Es ist eine Sünde, Conn. Und ich möchte nicht, dass Gott uns dafür straft.«

»Gott ist für die Großen und Mächtigen da. Glaub mir, er hat Wichtigeres zu tun, als uns kleinen Leuten auf die Finger zu sehen.«

»Das dachte der Dieb, den sie heute Morgen gehängt haben, vermutlich auch. Hast du davon gehört?«

»Nun – ja«, kam Conn nicht umhin zuzugeben.

»Ich möchte nicht, dass du so endest wie er«, sagte Nia, und zu seiner Bestürzung musste er feststellen, dass ihre Augen dabei feucht wurden. »Jedesmal, wenn wir uns trennen, fürchte ich, dass ich dich nicht wiedersehen werde. Wenn sie dich fassen, während du …«

»Sie werden mich nicht fassen.« Er setzte sich ebenfalls auf und nahm ihre Hand. »Ich werde gut auf mich aufpassen, hörst du? Schon in einem Jahr oder in zweien, wenn ich alles Geld beisammen habe, brauchst du dich nicht mehr zu sorgen. Wir werden heiraten und für immer zusammen sein.«

Seine Worte schienen sie ein wenig zu beruhigen. »Und dann?«, fragte sie, während sie sich tapfer die Tränen aus den Augen wischte.

»Dann werden wir eine Familie gründen. Wir werden Kinder haben, du und ich. Und ich werde mir eine ordentliche Arbeit suchen. Boswic der Hufschmied ist immer auf der Suche nach kräftigen jungen Männern.«

»Du … du willst Hufschmied werden?« Nia schaute ihn zweifelnd an.

»Warum nicht?«

Sie lachte leise. »Weil das nicht zu dir passt. Und weil wir nicht in London bleiben sollten. Hier gibt es so viel Elend, so viel Schmutz.«

»Was schlägst du stattdessen vor?«

»Lass uns fortgehen von hier. Ich möchte dir Cymru zeigen, meine Heimat. Die dichten Wälder und die sanften Hügel des Tieflands. Die Welt außerhalb dieser Mauern ist voller Wunder, Conn.«

»Aber ich habe London noch nie verlassen.«

»Nanu?« Sie hob die schmalen Brauen und schaute ihn herausfordernd an. »Fürchtest du dich etwa?«

»Wovor sollte ich mich wohl fürchten?«

»Davor, hinaus in die Fremde zu gehen. Die Welt zu sehen. Frei zu sein und tun zu können, was dir beliebt.«

»Unsinn«, erklärte er hölzern und fühlte sich ein wenig ertappt. Tatsächlich hatte er noch nie einen Gedanken daran verschwendet, London zu verlassen. Vor allem, weil der Kampf um die Dinge des täglichen Lebens ihm dazu keine Zeit gelassen hatte. Vielleicht aber auch, weil ihm der Gedanke, alles Vertraute hinter sich zu lassen, tatsächlich Unbehagen bereitete. »Ich fürchte mich nicht«, hörte er sich selbst sagen. »Wenn du es willst, so werden wir von hier fortgehen und unsere Freiheit suchen.«

»Das klingt schön.« Sie lächelte.

»So schön wie du.« Er beugte sich vor und küsste sie abermals auf den Mund. Dann löste er die Schulterverschnürung ihres schlichten Arbeitskleides. Sie hinderte ihn nicht daran, und so kamen schon im nächsten Moment ihre schmalen Schultern zum Vorschein und die Ansätze ihrer kleinen, festen Brüste.

Conn setzte sich auf und liebkoste sie, zuerst mit den Händen, dann mit den Lippen. Nia stöhnte leise und bewegte sich so, dass der Leinenstoff weiter an ihr herabglitt und ihre Brust vollständig entblößte. Conn streichelte sie zärtlich und vergrub sein Gesicht darin. Der Duft, den er einatmete, war wundervoll, und er half ihm, die bitteren Erinnerungen an Tostigs Hinrichtung zu vertreiben. Die grausigen Bilder verblassten, und die Kälte des Richtplatzes, die sein Herz noch immer umfangen hatte, wich der innigen Wärme, die Nias Liebreiz verbreitete. Die Anspannung fiel von ihm ab, und es kam ihm vor, als würde er nach einer langen Irrfahrt zurückkehren, in ein Heim voller Liebe und Geborgenheit – auch wenn es nur kurzen Bestand hatte.

Nia kicherte, als sein Bart ihre Haut berührte und sie kitzelte. Conn liebte dieses Lachen. Wieder fanden ihre Lippen zueinander, und ihre Zungen begegneten sich in wild entfachter Leidenschaft. In enger Umarmung sanken sie auf den moosbedeckten Boden, und Nia, der nicht entgangen war, dass seine Männlichkeit erwacht war und sich verlangend gegen den Stoff seiner Hosen stemmte, schob den Saum ihres Kleides hoch und gewährte ihm Zugang zum Ziel seines Begehrens. Der Blick, mit dem sie ihn dabei bedachte, war so voller Liebe, dass ihm die Tränen kommen wollten. Er würde ihn nie vergessen.

»Mein Gott«, flüsterte er, »wie schön du bist.«

»Nur für dich, Geliebter.«

In jugendlichem Ungestüm drang Conn in sie ein, und sie liebten einander im wärmenden Sonnenlicht. Vorerst blieb ihnen nichts als dieser flüchtige, süße Augenblick. Schon bald jedoch, so hofften sie, würden sie einander ganz gehören.

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