2.
Köln
Zur selben Zeit
Die Stadt hatte sich verändert.
Niemandem, der innerhalb der alten Mauern lebte, die die Römer hinterlassen hatten und die im Lauf der Jahrhunderte zum Fluss hin erweitert worden waren, konnte dies entgangen sein. Chaya war es ebenfalls nicht verborgen geblieben, obwohl sie das Haus seit dem Tod ihrer Mutter nur selten verließ und dann meist nur in Begleitung ihres Vaters.
Auch jetzt ging der alte Isaac neben ihr her, die von schlohweißem Haar umrahmten Züge angespannt und von tiefen Falten durchfurcht. »Was bedrückt dich, meine Tochter?«, wollte er wissen, während sie gemeinsam den Marktplatz passierten, in dessen Budengassen an diesem Morgen rege Betriebsamkeit herrschte.
»Ich weiß nicht, Vater. Die Stadt ist voller Menschen in diesen Tagen.«
»Wie in jedem Frühsommer«, konterte der Alte.
»Dennoch ist etwas anders«, beharrte sie. »Hast du die Kettenhemden nicht gesehen? Die Helme? Die Waffen? Es sind keine Kaufleute, die in Scharen an den Rhein kommen.«
»Nein«, gab Isaac zu, »und ihre Sprache ist auch nicht die des friedlichen Handels. Der Sturm, der in Frankreich entfesselt wurde, hat sich noch längst nicht gelegt.«
»Du glaubst, dass es wie zu Pessach werden könnte?« Chaya schaute ihren Vater fragend an. Im Frühjahr waren schon einmal Soldaten in die Stadt gekommen, Kämpfer aus dem ganzen Reich, fünfzehntausend an der Zahl, und die Bevölkerung von Köln hatte sich bereit erklärt, sie zu versorgen. Zwar waren die Soldaten schon nach wenigen Tagen wieder abgezogen, aber es hatte fast den Anschein, als wäre dieser erste Aufmarsch nur der Anfang von etwas noch sehr viel Größerem gewesen. Etwas, das vor fünf Monden im fernen Clermont seinen Anfang genommen hatte.
Isaac Ben Salomon erwiderte ihren Blick, und seine ohnehin schon sorgenvollen Züge verfinsterten sich noch mehr. »Ich weiß es nicht, meine Tochter, aber ich ahne, dass unsichere Zeiten vor uns liegen. Und mir missfällt der Gedanke, dass du in jenen Zeiten allein und ohne Schutz sein könntest.«
»Deine Fürsorge ehrt dich, Vater«, erwiderte Chaya, »und ich weiß, worauf du hinauswillst. Aber ich habe meine Entscheidung getroffen, wie du weißt.«
»Deine Entscheidung?« Ein mildes Lächeln spielte um die Lippen des alten Kaufmanns. »Du weißt, dass ich deiner Zustimmung in dieser Sache nicht bedürfte.«
»Das ist mir klar, Vater«, entgegnete sie ohne Zögern. »Aber ich weiß auch, dass dir mein Glück wichtiger ist als alles andere. Und ich würde nicht glücklich an der Seite eines Mannes wie Mordechai.«
»Mordechai Ben Neri entstammt einem guten Haus. Er verfügt über großen Einfluss und ist ein wohlhabender und geachteter Merkant.«
»Genau wie du«, konterte Chaya schnaubend. »Andernfalls hätte er wohl kaum noch am Tag von Mutters Begräbnis um meine Hand angehalten und noch dazu angeboten, dein Kontor für einen Spottpreis von dir zu erwerben.«
»Es war ein guter Preis«, widersprach Isaac ruhig.
»Wofür? Für das Kontor? Oder für mich?«
Isaac blieb stehen und schaute seine Tochter an. Längst hatten sie die Obenmarspforten passiert und befanden sich wieder innerhalb des Judenviertels, das sich westlich des Marktplatzes erstreckte. Hier würden sich ihre Wege trennen. Während Chaya nach Hause ging, würde ihr Vater seine Schritte zur Synagoge lenken, um einer Sitzung des Gemeinderates beizuwohnen, dem er als einer der sieben Vornehmen des Viertels angehörte – Männer, die aufgrund ihres Besitzes und ihres Einflusses über besonderes Ansehen in der Gemeinde verfügten.
»Tochter«, seufzte er, während er ihr in die dunklen Augen blickte und ihr über das schwarze Haar strich, das sie als noch ledige Frau unverhüllt trug. Ihr Teint war vergleichsweise dunkel, genau wie bei ihrer Mutter, und sie trug ein schlichtes Kleid aus dunkelgrünem Leinen, das ihre natürliche Schönheit noch unterstrich. »Warum machst du es mir nur so schwer?«
»Das liegt nicht in meiner Absicht, Vater«, versicherte sie und senkte den Blick, schaute an ihrer schlanken Gestalt herab. »Was wirst du Mordechai also mitteilen?«, fragte sie leise und ohne aufzusehen. »Wirst du sein Angebot doch annehmen? Willst du mich ihm zur Frau geben?«
»Ich werde das tun«, erwiderte der alte Isaac müde, »was am besten für dich ist, meine Tochter, darauf vertraue getrost. Und nun geh nach Hause.«
Sie schaute auf, und für einen kurzen Moment flackerte jener Trotz in ihren Augen, den auch ihre Mutter bisweilen an den Tag gelegt hatte. Dennoch nickte sie. Isaac küsste sie zum Abschied sanft auf die Stirn und schlug dann den Weg zur Synagoge ein.
Zunächst tat Chaya so, als würde sie seiner Anweisung folgen. Sie wandte sich um und ging einige Schritte die Straße hinab. Dann jedoch blieb sie stehen, wandte sich um – und folgte ihrem Vater in sicherem Abstand.
Die rege Betriebsamkeit, die auf dem Vorplatz der Synagoge herrschte, erlaubte es ihr, sich fortzubewegen, ohne weiter aufzufallen: Handwerker, die hölzerne Karren hinter sich herzogen, Mägde, die Wasser vom nahen Brunnen holten, Geschäftsleute und Händler, dazu ein mit Gemüse beladener Ochsenkarren.
Aus der Ferne konnte sie sehen, wie ihr Vater im Eingang der Synagoge verschwand. Vorbei an einer Schar schreiender Maultiere, die aus Richtung Bäckerei kamen und mit großen Körben voller Brot beladen waren, eilte Chaya zur Rückseite des ehrwürdigen Gebäudes, das die Mitte des jüdischen Viertels einnahm; dort gab es einen zweiten Zugang, der mit etwas Glück …
Chaya atmete innerlich auf, als sie sah, dass die normalerweise von innen verriegelte Tür einen Spaltbreit offenstand. Nurit, die Frau des Rabbiners, hatte Wort gehalten.
Mit einem verstohlenen Blick nach beiden Seiten huschte Chaya unter den niedrigen Sturz, öffnete vorsichtig die Tür und trat in das dahinter liegende Halbdunkel. Kühle Stille umfing sie, als sie die Tür hinter sich schloss und den Lärm der Straße aussperrte. Eine schmale Treppe lag vor ihr, die nur von einem schmalen Oberlicht erhellt wurde und an deren oberen Ende es eine weitere Tür gab. Lautlos stieg Chaya hinauf und öffnete sie. Die Kammer, die sich dahinter befand, wies zur Rückseite hin einige schmale Fensteröffnungen auf – die Galerie, von der aus Frauen die Gebete im Gotteshaus verfolgen durften.
Mit pochendem Herzen schloss Chaya die Tür. In gebückter Haltung, damit sie von unten nicht gesehen werden konnte, huschte sie zu einem der Fenster und kauerte sich darunter. Augenblicke lang verharrte sie so und lauschte dem verhaltenen Stimmengewirr, das aus dem Hauptraum der Synagoge heraufdrang. Dann fasste sie allen Mut zusammen und erhob sich, um einen vorsichtigen Blick zu riskieren.
Sie konnte den Thoraschrein sehen, der sich an der Stirnseite befand, die Bima, von der aus die Weisung Gottes verlesen wurde, sowie die Sitze der Räte, die in einem weiten Kreis aufgestellt waren. Soweit sie es beurteilen konnte, waren bereits alle Angehörigen des Gemeinderates eingetroffen, dem neben den sieben einflussreichsten Mitgliedern der Gemeinde auch deren gewählter Vorsteher, ein Buchführer sowie der Rabbiner und dessen beide Gehilfen angehörten. Chaya fand die Räte in angeregte Gespräche vertieft, während sie ihre Plätze einnahmen. Ihr Herzschlag beschleunigte sich weiter, als sie unter den Anwesenden auch ihren Vater ausmachte, der einige Worte mit Mordechai Ben Neri wechselte – dem Mann, der um ihre Hand angehalten hatte.
Erschrocken fuhr sie hinter die Leibung des schmalen Fensters zurück und ermahnte sich zur Ruhe, ehe sie einen weiteren Blick riskierte. Was, so fragte sie sich bange, mochte ihr Vater Ben Neri sagen? Würde er sein Angebot doch annehmen, wider ihren ausdrücklichen Wunsch?
Mordechai war älter als sie, wenn auch nur um einige Jahre, und von kräftigem Körperbau. Schwarzes Kraushaar und ein Kinnbart umrahmten seine undurchschaubaren, von einem listig funkelnden Augenpaar beherrschten Züge. Erst vor zwei Wintern hatte er das Kontor seines verstorbenen Vaters geerbt, diese wenige Zeit jedoch genutzt, um es zu einem der größten und gewinnbringendsten von ganz Köln zu machen. Den dadurch erworbenen Reichtum stellte er gerne zur Schau, indem er samtene Mäntel und silberne Ringe trug, so auch an diesem Tag.
Atemlos beobachtete Chaya, wie die beiden Männer miteinander redeten, und zu ihrem Entsetzen konnte sie sehen, wie sich Mordechai Ben Neris Mund zu einem gewinnenden Lächeln dehnte – das jedoch im nächsten Augenblick auf seinen Zügen zu gefrieren schien. Sein Blick wurde eisig, und er blieb wie erstarrt stehen, als sich Isaac mit einer höflichen Verbeugung empfahl und seinen Ratssitz aufsuchte.
In diesem Moment hätte Chaya ihre Zurückhaltung am liebsten aufgegeben und wäre hinausgestürmt, um ihren Vater zu umarmen und ihm auf den Knien dafür zu danken, dass er Mordechais Angebot ausgeschlagen hatte. Sie wusste nun, was sie hatte erfahren wollen. Von einer Woge der Dankbarkeit getragen, zog sie sich von der Galerie zurück und wollte zurück zur Treppe schleichen, als Daniel Bar Levi, der Parnes der Gemeinde, das Wort ergriff.
»Meine Freunde«, hörte sie ihn sagen, »ich danke euch, dass ihr euch zu dieser Versammlung eingefunden habt. Böse Kunde ist es, die uns in diesen unheilvollen Tagen aus anderen Gemeinden erreicht.«
Chaya, die ihre Hand schon am Türgriff hatte, hielt plötzlich inne. Wovon sprach der Vorsteher? Von welcher bösen Kunde war die Rede? Sie hatte bemerkt, dass ihr Vater in den letzten Tagen angespannt gewesen war und weniger gesprochen hatte als sonst, es aber auf die Trauer um ihre Mutter zurückgeführt, obgleich die Zeit der Schiwa längst verstrichen war. Sollte dies nur die halbe Wahrheit gewesen sein?
»Unheilvoll?«, hörte sie eine schneidende Stimme fragen, die zweifellos Mordechai Ben Neri gehörte. »Ist es erlaubt zu fragen, wovon Ihr sprecht?«
»Ist das nicht offensichtlich?« Chaya zuckte zusammen, als sie ihren Vater sprechen hörte. Sie konnte nicht anders, als vorsichtig zum Fenster zurückzuhuschen und hinabzuspähen. »Unser geschätzter Parnes spricht von den Soldaten, die aus dem ganzen Reich zusammenströmen. Jeden Tag werden es mehr, niemandem, der offenen Auges durch die Straßen geht, kann dies entgehen.«
»Ganz recht, alter Freund«, bestätigte Bar Levi und neigte zustimmend das kahle, nur von der Kippa bedeckte Haupt.
»Und?«, fragte Mordechai, dessen Kontor am äußeren Rand der Judengasse lag und der entsprechend viel mit den Andersgläubigen verkehrte. »Wo ist das Unheil, von dem ihr sprecht? All diese Soldaten warten doch nur auf ihren Marschbefehl und werden, sobald sie ihn erhalten haben, wieder abziehen, so wie schon zu Pessach. Und bis dahin«, fügte er mit einem breiten Lächeln hinzu, das von niemandem in der Runde erwidert wurde, »lasst uns die Zeit nutzen, um mit ihnen Geschäfte zu machen wie mit allen anderen in dieser Stadt.«
»Euer Geschäftssinn in allen Ehren, Mordechai«, hielt Daniel dagegen, der anders als die übrigen elf Mitglieder des Rates nicht auf seinem Hocker saß, sondern auf einen hölzernen Stab gestützt aufrecht stand, als bedürfe er dieser Hilfe, um unter der drückenden Last seiner Sorgen nicht niederzugehen. »Es ist bekannt, dass Ihr bevorzugt Geschäfte mit Christen macht, und das sei Euch unbenommen. Aber ich fürchte, dass Eure Freude am Gewinn Euren Blick für die Wirklichkeit trübt. Oder habt Ihr vergessen, was das Vorhaben all dieser Soldaten ist, die in so großer Zahl an den Rhein kommen?«
»Einen Krieg gegen die Ungläubigen zu führen, gegen Sarazenen und Muselmanen«, erwiderte der Kaufmann aus der Enggasse ohne Zögern. »Ich sehe nicht, was dies mit uns zu tun haben sollte.«
»Dann seid Ihr entweder ein Narr oder von der Aussicht auf lohnende Geschäfte geblendet, Mordechai«, beschied ihm der Vorsteher in seltener Schärfe. »Schon zu Pessach ist es zu Drohungen gegen unsere Leute gekommen, wisst Ihr nicht mehr? Peter von Amiens, den sie den ›Einsiedler‹ nennen, berichtete von Übergriffen auf die jüdischen Gemeinden in Franken und in der Normandie …«
»… für die es nicht einen einzigen wirklichen Beweis gegeben hat«, warf der andere ein. »Dennoch haben wir bereitwillig die Börsen geöffnet und dem Einsiedler mehrere Hundert Silbermark mit auf den Weg gegeben, damit er sein Heer versorgen konnte. Tatsächlich glaube ich, dass es weder damals noch heute eine wirkliche Bedrohung für unsere Leute gegeben hat. Der Zorn der Christen mag gegen andere gerichtet sein, uns trifft er nicht.«
»Und wenn ich dir sagte, Mordechai Ben Neri, dass es neuerliche Berichte von Übergriffen auf Juden gibt?«, fragte Bar Levi. Furcht sprach dabei aus seinen faltigen Zügen, die sich rasch auf die übrige Versammlung auszubreiten schien. Mit Unbehagen sah Chaya, dass sich auch auf die Züge ihres Vaters ein dunkler Schatten senkte.
»Was für Übergriffe?«, wollte Akiba wissen, der Rabbiner der Gemeinde, während seine Gehilfen beunruhigte Blicke tauschten.
»Ein Graf aus Leiningen, Emicho mit Namen, hat ein neues Heer aufgestellt«, berichtete der Parnes mit bebender Stimme. »Die Männer, die er unter seinen Fahnen versammelt, sind größtenteils nur Arme und Bettler, aber sie sind nicht weniger von ihrer Mission überzeugt als jene, die im Frühjahr in der Stadt waren. Ein Mönch namens Folkmar, der sich in Emichos Gefolge befindet, hält vor dem Volk flammende Reden, und mit jeder Stadt, die sie erreichen, wird die Schar ihrer Anhänger größer. In Trier, wo sie bereits waren, soll es dabei auch zu Drohungen gegen die jüdische Gemeinde gekommen sein, und in Speyer haben sie angeblich geplant, am Sabbat die Synagoge zu überfallen.«
»Und haben sie es getan?«, erkundigte sich Mordechai und hob fragend die dunklen Brauen.
»Nein«, räumte Bar Levi ein. »Weil sich unsere dortigen Brüder an den Bischof gewandt und in seinen Schutz begeben haben.«
»Und ist der Bischof etwa kein Christ?«, verlangte der Kaufmann zu wissen. »Wenn es so wäre, wie ihr sagt, und der Zorn jener Soldaten sich auch gegen uns richten würde, wäre dann nicht der Bischof der Erste, der ihnen dabei zur Hand gehen müsste?«
Die Frage wurde rings von allgemeinem Nicken begleitet. Den Mitgliedern des Rates war anzusehen, dass sie den Beschwichtigungen Mordechais größeren Glauben schenken wollten als den beunruhigenden Berichten ihres Vorstehers. Schon deshalb, vermutete Chaya, weil die Sichtweise des Kaufmanns es ihnen gestattete, ihr Leben fortzuführen, ohne sich Sorgen zu machen oder sich gar vor etwas ängstigen zu müssen. Lediglich ihr Vater enthielt sich der Zustimmung – wohl weil er Daniel Bar Levi lange und gut genug kannte, um zu wissen, dass der Parnes nur dann seine Stimme erhob, wenn es vonnöten war, und dass er die Mitglieder des Rates und der Gemeinde niemals grundlos in Aufregung versetzt hätte.
»Wir wissen, dass die Christen, der Botschaft ihres Glaubens und ihrer eigenen Gebote ungeachtet, selten untereinander einig sind«, wandte er ein. »Und wir wissen auch, dass die Privilegien, die wir uns im Lauf einer langen Zeitspanne erworben haben, nicht die Folge der Nächstenliebe sind, die ihre Priester predigen, sondern vielmehr der klingenden Münze, mit der wir dafür bezahlt haben. Die Erfahrung lehrt uns, dass was immer die Christen tun, vom Streben nach Vorteil bestimmt ist. In dem geschilderten Fall mag es dem Bischof günstig erschienen sein, die jüdische Gemeinde seinem Schutz zu unterstellen – aber können wir damit rechnen, dass eine solche Hilfe auch uns zuteil wird, wenn wir ihrer bedürfen?«
»Was schlagt Ihr stattdessen vor, Isaac?«, fragte Mordechai in unverhohlener Ablehnung. Auch ein Hauch von Spott schwang in seiner Stimme mit. »Wollt Ihr vor dem herannahenden Pöbel die Flucht ergreifen? Ihr habt selbst gehört, dass jener Graf Emicho nichts als Bettler und Tagelöhner unter seinen Fahnen versammelt hat.«
»Pöbel dürfte es auch gewesen sein, der den Propheten Jeremia gesteinigt hat«, brachte Rabbi Akiba in Erinnerung. »Das wollen wir nicht vergessen.«
»Unser Freund Mordechai«, fügte Isaac mit betonter Gelassenheit hinzu, »spricht mit dem Ungestüm der Jugend. Wir Älteren hingegen wissen, dass von jenen, die nichts zu verlieren haben, bisweilen größere Gefahr auszugehen pflegt als von den Wohlhabenden. Zumal wenn letztere von ihren Geschäften mit uns profitieren.«
»Das ist nur zu wahr«, pflichtete Bar Levi ihm bei und sandte ihm einen dankbaren Blick.
»Was wollt ihr also tun?«, bohrte Mordechai weiter, ohne auf den Einwand einzugehen oder auch nur den Versuch zu unternehmen, ihn zu entkräften. »Wollt ihr die Stadt verlassen? Wollt ihr aufgeben, was wir hier durch unseren Fleiß und unserer Hände Arbeit aufgebaut haben, nur weil ihr euch fürchtet?«
»Zumindest wäre es eine Überlegung wert«, antwortete der Vorsteher ohne Zögern, was zu Chayas Bestürzung bewies, dass er sich bereits darüber Gedanken gemacht hatte. »Wir könnten bei den Gemeinden anderer Städte um Aufnahme bitten und dort so lange bleiben, bis die Aufrührer wieder abgezogen sind.«
»Niemals!«, widersprach Mordechai entschieden und sprang auf. Sein weiter Mantel raschelte, als er die Arme effektheischend ausbreitete. »Wisst ihr, was ich viel eher denke?«, fragte er in die Runde.
»Was?«, wollte Isaac wissen.
Ein hintergründiges Lächeln spielte um die bärtigen Züge des Jüngeren. »Es ist kein Geheimnis, dass unsere Kontore in Konkurrenz zueinander stehen, Ben Salomon«, sagte er dann. »Und natürlich wisst Ihr genau wie ich, dass die Anwesenheit der Soldaten in der Stadt gute Geschäfte bedeutet. Ob Wein, Tuch, Stahl oder Leder – die Nachfrage nach diesen Gütern ist in den vergangenen Wochen sprunghaft angestiegen und hat uns beiden wachsende Einkünfte beschieden. Ist es nicht so?«
»Was hat das eine mit dem anderen zu tun?«, fragte Isaac.
»Wisst Ihr es wirklich nicht? Oder gebt Ihr Euch nur unwissend, um Eure wahren Beweggründe zu verschleiern?«
»Was für Beweggründe?« Chaya kannte ihren Vater gut genug, um zu sehen, dass es ihm inzwischen schon schwerer fiel, die Fassung zu wahren. Auch sie selbst konnte fühlen, wie ihr Blut in Wallung geriet. Was führte Mordechai im Schilde?
»All die Gewinne, die Ihr in den letzten Wochen verzeichnen konntet, hätten noch ungleich höher ausfallen können, hättet Ihr sie nicht mit Euren Konkurrenten teilen müssen«, führte dieser bereitwillig aus, worauf er nach beiden Seiten schielte, um zu sehen, was seine Worte bei den anderen Ratsmitgliedern und Vornehmen bewirkten. »Was aber, wenn Ihr sie mit einem geschickten Winkelzug aus dem Feld räumen und auf diese Weise ganz allein Geschäfte mit den Soldaten machen könntet?«
»Das traut Ihr mir zu?« Fassungslosigkeit sprach aus den Zügen ihres Vaters, und Chaya musste an sich halten, um ihre Empörung über diese gemeine Unterstellung nicht laut hinauszuschreien. Auch die übrigen Räte schienen betroffen. Blicke wurden gewechselt, hier und dort leise getuschelt, aber nur einer verlieh seiner Erschütterung tatsächlich Ausdruck.
»Mordechai Ben Neri«, sagte Bar Levi im Tonfall eines Lehrers, der einen Schüler schalt, »dass Ihr Euch nicht schämt, im Haus Gottes einen derart abscheulichen Verdacht zu äußern! Noch dazu, wo Ihr genau wisst, dass unser geschätztes Ratsmitglied Ben Salomon noch immer den schrecklichen Verlust betrauert, der über ihn und seine Tochter gekommen ist.«
»Der Tod Eurer Gattin hat uns alle tief getroffen, Ben Salomon«, räumte Mordechai ein, »und natürlich gehört Euch in diesem Jahr der Trauer mein ganzes Mitgefühl …«
»Ich danke Euch«, sagte Isaac.
»… aber selbst der Schmerz über den Verlust eines geliebten Menschen darf nicht zwischen uns und der Wahrheit stehen«, fuhr der Jüngere fort. »Würdet Ihr, wenn die Dinge umgekehrt lägen, nicht einen ähnlichen Verdacht hegen? Alle hier wissen um die Rivalität unserer Familien, die Generationen zurückreicht. Mein Vater und Ihr, Isaac Ben Salomon, sind erbitterte Konkurrenten gewesen. Ist es da nicht nachvollziehbar, dass ich mich frage, ob Ihr die Gelegenheit womöglich nutzen wollt, um die Geschäftsverhältnisse in der Stadt zu Euren Gunsten zu beeinflussen? Wenn es nicht so ist, so nehmt meine Entschuldigung dafür, dass ich so dachte. Aber sollte es so sein, seid versichert, dass ich dies niemals zulassen werde.«
In der Synagoge war es so still geworden, dass nur noch das leise Fauchen der Kerzen zu hören war, die im kreisförmigen Leuchter unterhalb der Deckenkuppel brannten und die der Windzug fortwährend flackern ließ. Dabei tauchten sie den Thoraschrein und die Bima in unstetes Licht, und es sah aus, als würden sich die Tierfiguren, mit denen die Wände bemalt waren, bewegen. Aller Augen hatten sich auf Isaac gerichtet, der auf seinem Hocker saß und tief aus- und einatmete, sich mühsam zur Ruhe zwingend. Natürlich waren die Vorwürfe völlig aus der Luft gegriffen, und vermutlich wusste Mordechai dies auch. Aber er schien keinesfalls gewillt, der Argumentation Isaacs und Daniel Bar Levis zu folgen, und Chaya hegte den dumpfen Verdacht, dass es entgegen seiner Beteuerungen nicht nur geschäftliches Interesse war, das ihn so handeln ließ, sondern auch der gekränkte Stolz eines Mannes, dessen Brautwerbung zurückgewiesen worden war.
Mit einem Mal fühlte sie sich schuldig an dem, was dort unten im Rat geschah. Gebannt schaute sie auf ihren Vater, der in diesem Moment zu einer Erwiderung ansetzte.
»Mordechai Ben Neri«, entgegnete er und schien jedes einzelne Wort mit Bedacht zu wählen, »ich führe es auf Eure Jugend und Eure Unerfahrenheit zurück, dass solche Worte über Eure Lippen kommen, und werde sie deshalb nicht als das werten, was sie tatsächlich sind, nämlich eine gemeine Verleumdung. Es stimmt, dass Euer Vater mein ärgster Konkurrent gewesen ist und mir manches lohnende Geschäft vor der Nase weggeschnappt hat. Aber selbst Euch müsste klar sein, dass ich eine Situation wie diese, in der sich dunkle Wolken über unserem Volk zusammenziehen, niemals nutzen würde, um daraus Gewinn zu schlagen, und dass ich die Überlegungen unseres geschätzten Parnes nur deshalb unterstütze, weil ich mich wie er um das Wohl unserer Gemeinde sorge.«
»Wollt Ihr mir unterstellen, das täte ich nicht?«, fragte Mordechai, und im angriffslustigen Funkeln seiner Augen hatte Chaya für einen Moment das Gefühl, seinen Vater zu erblicken. Die erstaunliche Fähigkeit, jemandem das Wort im Mund herumzudrehen, hatte Mordechai fraglos von ihm, und wie der allgemeinen Entrüstung zu entnehmen war, zeigte sie noch immer Wirkung. »Ich habe die Nachfolge meines Vaters in diesem Gremium nicht angetreten, weil ich nach Einfluss oder Anerkennung dürste«, tönte er fort, »sondern weil ich als wohlhabendes Mitglied dieser Gemeinde Verantwortung trage für unser aller Wohlergehen. Und diese Verantwortung sagt mir, dass es falsch wäre, sich der Furcht zu ergeben, sondern dass wir auf das vertrauen sollten, was wir uns über eine lange Zeit hinweg mühevoll erarbeitet haben, nämlich die Freundschaft und die Anerkennung jener, in deren Städten wir leben, denen wir Tribut entrichten und die geschäftlich mit uns verkehren.«
»Freundschaft?« Isaac schaute ihn durchdringend an. »Glaubt Ihr wirklich, die Christen wären uns freundschaftlich verbunden? Ihr verwechselt den Respekt, den sie uns entgegenbringen, mit Liebe. Vielleicht, weil Ihr den Unterschied nicht kennt.«
Chaya hielt den Atem an. Ihr war klar, dass ihr Vater nicht nur vom Verhältnis Mordechais zur Gemeinde sprach – und Mordechai wusste es vermutlich auch. Seine Augen verengten sich, seine Lippen begannen vor Wut zu beben. »Spitzfindigkeiten«, rief er und machte eine unwirsche Handbewegung. »Respekt oder Liebe, was gilt es mir? Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Christen ihr gutes Verhältnis zu uns leichtfertig gefährden oder es gar aufs Spiel setzen würden.«
»Ich ebenso wenig«, pflichtete Jakob Lachisch bei, der Gabbai und Buchführer der Gemeinde. Auch von den anderen Sitzen kam Zustimmung, sodass die Stimmabgabe, um die der Vorsteher schließlich bat, nur noch eine Sache der reinen Form war.
Nur drei der zwölf Mitglieder des Rates waren dafür, Vorsichtsmaßnahmen zu ergreifen und andere Gemeinden um Hilfe zu bitten. Die überwältigende Mehrheit hingegen schloss sich Mordechais Argumentation an und stimmte dafür, alles beim Alten zu belassen und den Sturm, der sich vielleicht über anderen Städten, ganz sicher aber nicht über Köln zusammenbrauen mochte, vorüberziehen zu lassen. Lediglich allgemeine Schutzmaßnahmen wurden beschlossen – so wollte man eine Empfehlung aussprechen, die den Mitgliedern der jüdischen Gemeinde nahelegte, das eigene Viertel nur zu verlassen, wenn die Notwendigkeit es verlangte, keinesfalls jedoch nach Einbruch der Dunkelheit. Außerdem wurde auf Drängen Rabbi Akibas ein allgemeines Fasten angeordnet, mit dem man Gott um Beistand bitten wollte.
Chaya blieb nicht mehr lange genug, um zu hören, wie der Parnes ein Dankgebet sprach und die Versammlung auflöste – was sie betraf, so hatte sie genug erfahren. Auf leisen Sohlen schlich sie von der Galerie und verließ die Synagoge, um noch vor ihrem Vater zu Hause zu sein. Was sie gehört hatte, ließ sie jedoch nicht mehr los.
In vergleichsweise gelöster Stimmung hatten die Ratsmitglieder das Gotteshaus verlassen, augenscheinlich sehr zufrieden mit dem, was erreicht worden war. Lediglich Daniel Bar Levi und Isaac Ben Salomon blieben zurück, und es war offensichtlich, dass sich in ihren faltigen Mienen dieselbe Sorge spiegelte.
»Wie ich sehen kann, mein Freund, teilt Ihr die Erleichterung der anderen nicht«, stellte der Vorsteher der Kölner Gemeinde ohne jede Genugtuung fest. Den Stab in seiner Rechten schien er mehr denn je zu benötigen, so als hätte der Verlauf der Beratung ihn abermals um Jahre altern lassen.
»Nein«, gab Isaac zu. »Denn anders als Mordechai habe ich Zweifel, was die guten Absichten jener fremden Krieger betrifft. Und ich fürchte, dass Fasten allein sie nicht fernhalten wird.«
»Auch ich hege diese Zweifel«, pflichtete der Vorsteher bei, »doch wie du gesehen hast, wollte sie niemand hören. Die Mehrheit unserer Brüder zieht es vor zu glauben, dass stets alles so bleiben wird, wie es gewesen ist.«
»Nur ein Narr denkt so«, sagte Isaac bitter.
»Mein Freund«, erwiderte Bar Levi und legte mitfühlend eine Hand auf seine Schulter, »ich weiß, dass es der erlittene Verlust ist, der Euch so sprechen lässt, denn noch vor einiger Zeit wähntet auch Ihr Euch sicher und behütet, ehe der Tod Eures Weibes Euch aus diesem Traum erwachen ließ. Nicht Narrheit, sondern die menschliche Natur ist es, die unsere Brüder so sprechen lässt. Mit aller Macht klammern sie sich an das, was Gottes Gunst und ihrer Hände Arbeit ihnen eingetragen haben, und wiegen sich in vermeintlicher Sicherheit. Doch das Gedächtnis unseres Volkes reicht weit in die Vergangenheit, und wenn die Erfahrung uns eines lehrt, dann dass es immer wieder Zeiten gab, da wir alles verloren. Man hat uns versklavt und unterjocht, uns aus der alten Heimat vertrieben und in die Fremde geschickt.«
»Und Ihr fürchtet, es könnte wieder so werden?«, fragte Isaac leise, fast flüsternd.
Ein Lächeln glitt über die Züge des Vorstehers, aller Sorge zum Trotz. »Wer weiß zu sagen, was Gott plant? Aber wenn es so ist, darf uns der Feind nicht unvorbereitet finden wie einst. Wenn der dunkle Schatten sich über uns breitet, so müssen wir handeln. Versteht Ihr, was ich meine?«
Isaacs von Trauerfalten durchfurchte Züge wurden noch finsterer, als der Parnes ihn an das Versprechen erinnerte, das er vor langer Zeit gegeben hatte. Freilich war er in jenen Tagen noch ein anderer gewesen, unbelastet von Sorge und bar der Erfahrungen, die er seither gemacht und die sein Leben geprägt hatten.
Doch das Wort, das er gegeben hatte, band ihn heute wie damals, auch wenn sich alles in ihm dagegen wehrte und er sich nicht vorstellen konnte, dass …
»Ich verstehe, Rabbi«, hörte er sich selbst sagen, und mehr noch als an allen anderen Tagen, die seit ihrem Tod vergangen waren, wünschte er sich seine Frau zurück.