»Ja, wie gesagt, die Verkäufer wollten den Kram endlich abholen«, erklärte Jónas und lehnte sich im Stuhl zurück. Sie hatten es sich in einer Nische am Kamin neben der Bar, umgeben von alten Fotografien, gemütlich gemacht. »Ich hatte Birna gebeten, sie über die Anbaupläne am alten Hof zu informieren, damit sie die Dinge, die sie haben wollten, vor Baubeginn abholen konnten. Aus der Sache mit dem Anbau ist zwar nichts geworden, aber sie haben sich trotzdem dazu aufgerafft. Keine Ahnung, wie weit sie sind. Birna oder mir hat jedenfalls niemand mitgeteilt, dass sie fertig wären.«
Matthias trank einen Schluck Bier. »Haben sie hier übernachtet?«
»Nein, sie haben nie nach einem Zimmer gefragt. Allerdings waren sie ein paar Mal im Restaurant essen.«
»Waren beide Geschwister hier oder nur Elin?«, fragte Dóra.
»Keine Ahnung«, antwortete Jónas. »Einmal waren mehrere Leute da: der Bruder, seine Frau, die Schwester und zwei Jugendliche, sein Sohn und ihre Tochter. Ich weiß nicht, ob das nur ein Tagesausflug war oder ob sie in der Nachbarschaft gewohnt haben. Vigdís hat mir erzählt, das junge Mädchen ist ein- oder zweimal zu ihr gekommen und hat um Kartons gebeten. Wenn mich nicht alles täuscht, besitzen sie immer noch Land hier auf der Halbinsel. Ich glaube, sie haben auch ein Haus in Stykkishólmur oder Ólafsvík, das sie als Sommerhaus nutzen.«
»Könnte einer von ihnen eine Auseinandersetzung mit Birna gehabt haben?«, fragte Dóra.
»Nee, kann ich mir nicht vorstellen«, antwortete Jónas. »Birna hat mit dem Bruder etwas besprochen, aber soweit ich weiß verlief das sehr harmonisch. Sie brauchte Informationen über die Ortsverhältnisse, als die Höfe noch bewohnt waren. Ich glaube, sie hatte gehofft, er besäße alte Pläne oder so was.«
»Und hatte er welche?«, fragte Dóra.
»Nein, ich glaube nicht«, antwortete Jónas. »Er hat ihr erlaubt, die alten Sachen durchzusehen, den Kram hier im Keller in Kirkjustétt und das Zeug drüben in Kreppa.«
»Hat Birna jemals den Namen Kristín erwähnt?«, fragte Dóra. »Oder nach jemandem mit diesem Namen gefragt?«
Jónas schüttelte den Kopf. »Nein, nicht dass ich wüsste. Wer ist diese Kristín?«
»Keine Ahnung«, antwortete Dóra. »Wahrscheinlich hat sie nichts mit der Sache zu tun. Wir haben ihren Namen in …« Dóra konnte sich gerade noch davon abhalten, Birnas Kalender zu erwähnen, »… einen Balken auf dem Hof geritzt gesehen. Vielleicht ist es nur der Name eines Haustiers, einer Katze oder so. Wir glauben, dass ein Kind das geschrieben hat.«
»Kristín wäre aber ein ziemlich seltsamer Name für eine Katze«, gab Jónas zu bedenken. »Ich kann mich nicht erinnern, dass Birna jemals eine Kristín erwähnt hätte, weder eine Frau noch eine Katze.«
Sie schwiegen eine Weile. Dóra nippte an dem Weißwein, den Jónas ihr hatte bringen lassen, und nahm den Raum in Augenschein. Der Kamin war behaglich — altmodisch, aber dennoch Teil des modernen Anbaus. »Sind die von hier?«, fragte sie und zeigte auf die alten Fotografien an den Wänden.
»Nein, ich habe sie in Antiquitätenläden gekauft. Keine Ahnung, welche Leute das sind. Es war Birnas Idee.« Jónas schaute sich um. »Ist ihr gut gelungen.«
Matthias und Dóra nickten zustimmend. »Vielleicht solltest du die Familie fragen, ob du ein paar von den Fotos aus den Kisten im Keller benutzen darfst. Da sind einige Alben und ein gerahmtes Foto. Ich glaube, die Fotos sind von den ehemaligen Bewohnern. Das könnte hübsch aussehen. Ich hab allerdings die meisten mit auf mein Zimmer genommen. Du kannst sie dir dort ansehen, wenn du willst.«
Jónas schüttelte sich. »Nein, vielen Dank, kein Interesse. Von denen will ich gar nichts wissen.«
»Auf welchem Foto hast du den Geist denn eigentlich wiedererkannt?«, fragte Dóra. »Ich hab sie alle durchgesehen, es kommen mehrere in Frage.«
»Es war ein Bild in einem Rahmen von einem jungen Mädchen«, antwortete Jónas. »Blond. Ganz genau wie das Wesen, das in meinem Zimmer erschienen ist.«
»Es war also gar kein Kind«, entgegnete Dóra. »Ich dachte, es war ein Kind.« Das einzige gerahmte Foto, das Dóra gefunden hatte, war das von Guðný — das Porträt, das sie in ihrem Zimmer aufgestellt hatte. Darauf war Guðný kein Kind mehr, sondern ein halbwüchsiger Teenager.
»Kind und Kind«, sagte Jónas. »Ein junges Mädchen, viel jünger als ich. In meinen Augen ein Kind.«
»Und du bleibst dabei, dass das wirklich passiert ist?«, warf Matthias ein. Sein Gesichtsausdruck sprach Bände. »Du hast es nicht geträumt?«
»Nein«, antwortete Jónas bestimmt, »ausgeschlossen. Ich bin müde nach Hause gekommen, und das erklärt vieles. In einem solchen Zustand sind die Abwehrmechanismen des Verstandes geschwächt, und man lässt Dinge aus dem Jenseits eher an sich heran. Es ist passiert, das kann ich beschwören.«
»Okay«, sagte Dóra. »Lassen wir es erst mal gut sein. Und wie sieht es mit deiner Erinnerung an Donnerstagabend aus?«
»Tja«, sagte Jónas. »Ziemlich schlecht. Ich weiß noch, dass ich kurz vor Beginn der Séance hier war, dann aber doch nicht daran teilgenommen habe. Ich hatte … Angst.«
»Angst?«, platzte Matthias heraus. »Wovor?«
»Vor dem, was geschehen würde. Das ist ein schlechter Ort. Ich will das nicht von Verstorbenen bestätigt bekommen«, sagte Jónas, so als gäbe es nichts Natürlicheres. »Deshalb habe ich beschlossen, einen Spaziergang zu machen und meine Energiepunkte zu reaktivieren. Draußen waren Nebelschwaden. Solches Wetter eignet sich immer gut dafür.«
Dóra ergriff rasch das Wort, bevor Matthias die Gelegenheit hatte, nach der Reaktivierung der Energiepunkte zu fragen. »Hast du bei diesem Spaziergang jemanden getroffen?«
»Nein«, antwortete Jónas. »Niemanden. Es war ziemlich schlechtes Wetter, und hier ist ja nicht viel los. Außer mir war kein Mensch unterwegs.«
»Du vergisst Birna«, sagte Dóra. »Und den Mörder. Sie müssen zur selben Zeit draußen gewesen sein.« Sie schaute Jónas flehend an. »Jetzt erzähl mir bitte nicht, du bist runter zu der Schlucht gegangen, wo Birna gefunden wurde.«
»Nein, nicht bis zur Schlucht«, sagte Jónas, »nur ein Stück in die Richtung, aber nicht den ganzen Weg. Ich war ziemlich entnervt und bin ziellos umhergewandert. Ich hatte einen Anruf von der Gemeinde bekommen, dass ein Abwasserkanal unter unserem Zufahrtsweg repariert werden müsste, und der Bauarbeiter hatte sich ausgerechnet diesen Tag ausgesucht, um die Straße aufzureißen, und ist dann einfach nach Hause gefahren, ohne die Arbeit zu Ende zu bringen. Die Besucher, die abends zu der Séance kommen wollten, mussten ihre Autos an der Hauptstraße stehen lassen und den Rest des Weges zu Fuß gehen. Zwei Kilometer! Ich bin mir sicher, dass viele deshalb nicht gekommen sind. Außerdem waren die Hotelgäste sauer, als sie gemerkt haben, dass ihre Autos festsaßen.«
»Wann war der Weg wieder befahrbar?«, fragte Matthias.
»Am nächsten Morgen«, antwortete Jónas, immer noch sauer auf den Straßenarbeiter. »Der Typ hätte sich auch nichts anderes getraut, nachdem ich ihn zusammengestaucht habe.«
»Es hätten also keine Autos vom Hotel runter zur Bucht fahren können, wo Birna wahrscheinlich ermordet wurde?«, fragte Dóra.
»Nein, völlig ausgeschlossen«, antwortete Jónas. »Da war ein Riesengraben.«
»Hattest du bei deinem Spaziergang dein Handy dabei?«, fragte Matthias.
Jónas musste nicht lange überlegen. »Nein, ganz sicher nicht. Die Handy-Strahlung hätte mich ja bei der Reaktivierung der Energiepunkte gestört.«
Matthias schnitt eine Grimasse und wollte Jónas gerade näher dazu befragen, als Vigdís mit einigen Ausdrucken in der Hand geradewegs auf sie zusteuerte. »Hier sind die Sachen, um die du gebeten hast«, sagte sie und reichte Jónas zwei Blätter. »Auf der ersten Seite stehen die Namen der Gäste, die am Donnerstag- und Freitagabend hier übernachtet haben und auf der zweiten die, die gebucht haben, aber nicht gekommen sind oder storniert haben.«
Sie schenkte Dóra und Matthias ein aufgesetztes Lächeln. »Ich muss wieder zur Rezeption, wegen des Telefons.« Sie ging davon, und Jónas rief ihr ein Danke hinterher. Er überflog die Blätter und reichte sie anschließend Dóra.
»Das ist ein Ausdruck aus unserem Buchungssystem. Ist bestimmt nicht sehr hilfreich. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Birna von einem Hotelgast ermordet worden ist. Das scheint mir doch sehr weit hergeholt.«
»Man kann nie wissen«, entgegnete Dóra und begann zu lesen. Die Liste war nicht lang. »Habt ihr immer so wenige Buchungen?«, fragte sie. »Das sind ja nicht besonders viele Namen.«
»Ja, leider«, antwortete Jónas leicht verbittert. »Wir können nur im Hochsommer mit voller Auslastung rechnen. Die Reisesaison ist so kurz, dass man kaum von Saison sprechen kann. Ich plane alle möglichen Aktivitäten für den Winter, um den Anreiz zu erhöhen. Sonst wird es hier ziemlich trostlos sein.«
Dóra nickte, ohne ihren Blick von der Liste abzuwenden. »Hiernach waren am Donnerstag acht und am Freitag zehn Zimmer belegt.«
»Kommt hin«, entgegnete Jónas. Er hob sein Bierglas und nahm einen Schluck. »Das Bier ist aus kontrolliert biologischer Herstellung«, sagte er, als er das Glas wieder abstellte und sich den Schaum von der Oberlippe wischte.
Dóra sah, dass Matthias die Brauen zusammenzog. Argwöhnisch schnupperte er an seinem Glas. Sie redete schnell weiter, bevor er sich nach der biologischen Herstellung erkundigen würde. »Kennst du die Gäste, Jónas? Sind irgendwelche Stammkunden auf der Liste?«
»Es gibt uns ja noch nicht so lange, Stammgäste haben wir leider noch keine. Aber ich kann euch bestimmt sagen, wer die Gäste waren.« Jónas legte seinen Finger auf den ersten Namen. »Mal sehen, Herr und Frau Brietnes, nein, das ist ein älteres Ehepaar aus Norwegen, sehr unwahrscheinlich, dass sie etwas mit dem Fall zu tun haben. Sie sind immer noch hier, falls ihr mit ihnen sprechen wollt.« Er bewegte seinen Finger abwärts. »Karl Hermannsson. An den erinnere ich mich nicht, er scheint nur eine Nacht hier gewesen zu sein. Aber an dieses Paar kann ich mich erinnern, Arnar Friðriksson und Ásdís Henrýsdóttir, die waren schon mal hier, interessieren sich für unsere Angebote und nehmen rege daran teil. Die haben auf keinen Fall etwas mit der Sache zu tun. Moment mal, wer war das noch gleich? þröstur Laufeyjarson?« Jónas überlegte. »Ach ja, stimmt — der Kajakfahrer. Er ist schon länger hier und trainiert für einen Wettkampf. Hat bis Mittwoch reserviert. Sehr verschlossen und unfreundlich. Könnte vielleicht ein Mörder sein.«
»Oder auch nicht«, sagte Dóra. Ihr war nicht bekannt, dass Mörder verschlossener waren als andere Menschen. »Und diese Ausländer?« Sie zeigte auf die folgenden Namen.
»Herr Takahashi und sein Sohn.« Jónas blickte zu Dóra und lächelte. »Viel, viel zu höflich für Mörder. Beide sehr zurückhaltend. Der Vater erholt sich von einer Krebsbehandlung. Der Sohn weicht nicht von seiner Seite. Vergiss sie.« Er betrachtete die nächsten Namen. »Ich weiß nicht, wer die sind, Björn Einarsson und Guðný Sveinbjörnsdóttir. Aber den hier müsstest du kennen, Dóra. Magnús Baldvinsson, ein alter Politiker vom linken Flügel.«
Als Dóra den Namen hörte, kam ihr sofort das Gesicht des Mannes, den sie am Mittag im Speisesaal gesehen hatte, in den Sinn. »Ja, natürlich. Ich hab ihn heute Mittag gesehen und vor kurzem einen Artikel über ihn in der Zeitung gelesen. Er ist der Großvater von Baldvin Baldvinsson, diesem vielversprechenden Kommunalpolitiker aus Reykjavík. Was macht der Mann denn hier?«
»Sich erholen, glaube ich. Er ist nicht besonders gesprächig, hat mir aber erzählt, er stamme aus der Gegend. Im Alter zieht einen das Herz offenbar in die Heimat«, kommentierte Jónas. Er ging die Liste weiter durch. »An diese þórdís Eggertsdóttir kann ich mich nicht erinnern, keine Ahnung, wer das ist. Aber an den hier, Robin Kohman, Fotograf. Der macht Aufnahmen für einen Artikel in einem Reisemagazin über das Westland und die Westfjorde. Eine Zeit lang war ein Journalist mit ihm hier, aber der ist schon abgereist. Am Dienstag oder Mittwoch. Und dieser Teitur ist Börsenmakler. Ist schon seit ein paar Tagen hier, scheint ganz nett zu sein, ein bisschen versnobt vielleicht. Er hatte einen Reitunfall, und ich war mir sicher, dass er daraufhin abreisen würde, aber er ist immer noch da. Die restlichen Namen kenne ich nicht. Weder die, die am Freitag angekommen sind, noch die, die storniert haben.« Er legte die Blätter auf den Tisch, und Dóra nahm sie an sich.
»Ich darf doch bestimmt ein bisschen mit den Leuten plaudern, oder?«
»Ja, klar«, antwortete Jónas und erhob sich. »Aber bleib bitte immer zuvorkommend. Verschreck sie nicht.« Er warf Matthias einen schnellen Blick zu und fügte dann leise auf Isländisch hinzu: »Und dass der Typ mir ja niemanden verhört. Achte drauf, dass es wie Smalltalk wirkt.« Er straffte sich, klopfte sich auf die Schenkel und stand auf. »Ich schaue mal nach der Polizei. Sie inspizieren Birnas Zimmer, keine Ahnung, wonach sie da suchen.«
Matthias blinzelte Dóra zu und grinste. »Da finden sie ganz bestimmt nichts«, sagte er ruhig.
»Immerhin haben sie mein Handy«, sagte Jónas, »und können zum Zeitvertreib alle Daten daraus registrieren.«
Steini saß tief in Gedanken versunken da und starrte aus dem Fenster auf den Zufahrtsweg. Da hätte er ebenso gut allein auf der Welt sein können. Keine Autos, keine Menschen. Er hatte für den Rest seines Lebens bereits genug Fernsehen geguckt. Obwohl er erst 23 war. Wenn sein Leben sich in die richtige Richtung entwickelt hätte, lägen die Dinge jetzt anders.
Es hätte nicht geschehen dürfen. Das konnte einfach nicht sein. Im Grunde wartete er immer noch darauf, dass jemand kommen und ihm sagen würde, es sei alles ein Missverständnis. Es hätte nicht ihn, sondern jemand anders treffen sollen. Irgendwen, vollkommen gleichgültig, solange es nur jemand anders war. Verzeihung, mein Freund, dass du das versehentlich durchmachen musstest, aber so etwas passiert eben manchmal. Jetzt steh auf. Du kannst es. Es war alles ein Missverständnis. Dein Wagen ist kein Schrotthaufen. Er gehörte jemand anderem. Und du hast gar nicht dringesessen. Er stieß ein befremdliches, sonderbares Lachen aus. Sehr wahrscheinlich!
Steini setzte sich zurecht. Dabei erschien sein Spiegelbild im Fenster. Er schreckte zurück und zog die Mütze tiefer ins Gesicht, sodass so wenig wie möglich davon zu sehen war. Er würde sich nie daran gewöhnen. Niemals. Mit geübtem Griff packte er die Räder des Rollstuhls und entfernte sich vom Fenster. Wo Bertha nur blieb? Sie hatte versprochen, zu kommen, und sie stand immer zu ihrem Wort. Liebste, wundervolle Bertha. Ohne sie wüsste er nicht, was er tun sollte. Krankengymnasten, Ärzte, Psychologen und wie sie alle hießen drängten ihn, in die Stadt zu ziehen, sich an der Uni einzuschreiben und etwas aus seinem Leben zu machen. Es sei trotz seiner Blessuren noch nicht zu Ende. Durch die richtige Therapie könnte er auf den Rollstuhl fast ganz verzichten, auch wenn es mühselig und schmerzhaft sein würde. Diese Leute verstanden ihn nicht. Er musste hierbleiben. Dies war sein Zuhause, seine Heimat. Hier war nicht viel los, und die meisten kannten ihn. Niemand zuckte zurück, wenn er die schreckliche Fratze sah, die sein Gesicht sein sollte. In Reykjavík würde ihm das oftmals am Tag passieren. Er würde verkümmern und in kürzester Zeit sterben. Er war Bertha so unendlich dankbar. Sie trug am meisten dazu bei, dass er trotz seiner Unselbständigkeit bleiben konnte.
Hatte Bertha ihn jetzt etwa aufgegeben? Hatte sie genug von ihm? Ihm zum letzten Mal geholfen? Steini rollte zum Fernseher und reckte sich nach der Fernbedienung. Lieber wollte er das lausige Programm anschauen, als diesen Gedanken zu Ende denken. Er stellte den Ton lauter und glotzte auf den Bildschirm. Nicht dran denken. Nicht dran denken.
Dóra und Matthias stießen mit ihren Gläsern an. »Ich hoffe wirklich, dass der nicht aus biologischem Anbau ist«, sagte Matthias, bevor er einen Schluck nahm.
Dóra lächelte ihn an. »Nö, hoffentlich ist ein guter Schuss Insektenvernichtungsmittel und etwas quecksilberhaltiger Dünger drin.« Sie nippte an dem Wein. »Was auch immer der Winzer angestellt hat, das Ergebnis ist sehr gut.« Sie stellte ihr Glas auf die weiße Tischdecke und nahm ein Stück Brot. »Ich sterbe vor Hunger.«
»Hmm«, machte Matthias. »Ich bin wirklich froh, dass sich das nicht geändert hat. Und dass du dich nicht geändert hast.« Er blinzelte ihr zu. »Sogar dein Kleidungsstil ist immer noch so … wie soll ich sagen …«
Dóra sah an ihrem schlichten Pulli hinunter und streckte ihm die Zunge raus. »Hast du etwa geglaubt, ich würde mit einem Abendkleid anreisen, für den Fall, dass mich jemand zum Essen einlädt?«
»Ich bezweifle, dass du mit einem Abendkleid angereist wärst, selbst wenn dich jemand zum Essen eingeladen hätte.« Demonstrativ rückte er seine Krawatte zurecht.
»Ha, ha«, sagte Dóra. »Ich bin zu hungrig für solche blöden Witze. Wo bleibt eigentlich das Essen?« Sie schaute auf die Uhr. »Mist. Ich muss zu Hause anrufen, bevor Sóley eingeschlafen ist.« Sie nahm ihre Tasche, aber bevor sie sie öffnete, fiel ihr ein, dass ihr Handy in Polizeigewahrsam war. »Ach ja, leihst du mir mal dein Handy?«
»Klar«, sagte Matthias und reichte ihr sein trendiges Mobiltelefon. »Ist mit deinen Kindern alles in Ordnung? Ich traue mich kaum zu fragen — aber bist du schon Oma geworden?«
Dóra nahm das Handy entgegen. »Keine Sorge, du sitzt immer noch mit einer jungen Dame beim Essen.« Dóra klappte den Deckel des Handys hoch. Auf dem Display erschien ein kleines, dunkelhäutiges Mädchen mit einer Unmenge von Zöpfen. »Wer ist denn das?«, fragte sie erstaunt und zeigte Matthias das Display. Er hatte nie erwähnt, dass er Vater war oder eine Beziehung hatte.
Er lächelte. »Das ist meine Tochter.«
»Was? Sieht dir nicht gerade ähnlich.« Sie musterte das Foto genauer. »Außer vielleicht … die Frisur.« Sie wusste nicht, was sie weiter sagen sollte.
Matthias lachte und strich sich mit der Hand durch seinen adretten Herrenschnitt. »Nein, wir sind nicht miteinander verwandt. Ich habe sie über eine Hilfsorganisation adoptiert.«
»Oh, wie schön.« Dóra nahm einen Schluck, um ihre Erleichterung zu überspielen. »Ich dachte schon, du seist verheiratet oder würdest mit einer Frau zusammenleben. Für Männer in festen Händen hab ich besonders viel übrig. Auf einer Skala von null bis zehn haben sie einen Attraktivitätsgrad von minus zwei.«
»Frauen sind echt komisch«, entgegnete Matthias. »Ich finde dich attraktiv, ob du nun verheiratet bist oder nicht.«
»Dann hast du ja Glück, dass ich geschieden bin«, sagte Dóra und schaute wieder auf das Foto. »Aber sie wohnt nicht bei dir, oder?« Sie konnte sich Matthias wirklich nicht beim Kinderklamottenwaschen vorstellen, geschweige denn beim Frisieren dieser ordentlichen Reihen von dicht geflochtenen Zöpfen an dem kleinen Köpfchen.
»Nein, nein«, antwortete Matthias. »Sie lebt in Ruanda. Ich kenne eine Frau, die in ihrem Dorf für das Rote Kreuz arbeitet. Sie hat mich dazu gebracht.«
»Wie heißt sie?«, fragte Dóra.
»Die Frau oder das Mädchen?«, fragte Matthias zurück.
»Das Mädchen natürlich.«
»Laya.«
»Hübscher Name«, bemerkte Dóra und legte ihre Hand auf seine. »Ich rufe schnell an. Wenn das Essen kommt, breche ich bestimmt abrupt das Gespräch ab.« Sie wählte die Nummer ihres Sohnes. »Hi, Gylfi, wie geht’s dir?«
»Bist du im Ausland?«, fragte ihr Sohn verwundert.
»Nein, ich hab von einem Ausländer hier im Hotel ein Handy geliehen, weil ich meins abgeben musste. Wie ist es denn so?«
»Urrgh. Total langweilig. Ich will nach Hause«, maulte Gylfi.
»Aber nicht doch«, entgegnete Dóra fürsorglich. »Es wird schon noch nett werden. Ist Sóley guter Dinge?«
»Sie ist immer guter Dinge, danach musst du gar nicht fragen«, antwortete Gylfi mürrisch. »Aber mich macht das hier echt fertig. Papa ist total phantastisch mit diesem 80s Sing-Star-Spiel von Sóley, und wenn er noch einmal Eye of the Tiger singt, dann bin ich weg. Das ist mein Ernst.«
»Aber Junge«, sagte Dóra, »es dauert ja nicht mehr lange. Lass mich kurz mit Sóley sprechen, Schatz.« Sie traute sich nicht, den Karaoke-Gesang seines Vaters zu verteidigen.
»Ja, aber telefonier nicht so lange mit ihr. Ich muss Sigga anrufen. Eben hat sie das Handy auf ihren Bauch gelegt, und das Baby hat mir eine SMS getreten.«
»Wirklich?« Dóra wunderte sich über gar nichts mehr. »Und was hat es geschrieben?«
»jt«, antwortete Gylfi stolz. Er reichte Sóley ohne weitere Kommentare das Handy, und eine piepsige, niedliche Stimme rief: »Mama, hallo Mama!«
»Hallo, meine Maus«, sagte Dóra. »Ist es schön bei euch?«
»Ja, ja. Prima. Ich freu mich aber trotzdem auf dich. Papa und Gylfi streiten sich die ganze Zeit.«
»Es dauert nicht mehr lange, Liebling. Ich freue mich darauf, euch wiederzusehen. Grüß Papa von mir, wir sehen uns morgen.« Dóra verabschiedete sich. Sie klappte das Handy zu und reichte es Matthias.
»Ich hab kein Wort verstanden«, sagte er und steckte das Handy in seine Jackentasche. »Würdest du nachher auch Isländisch mit mir sprechen? Im Bett?«
»Selbstverständlich, du Blödmann«, antwortete Dóra mit betörender Stimme.
Rósa stand am Herd und kochte auf altbewährte Art Kaffee. Die Handgriffe waren automatisch, und sie ließ ihre Gedanken schweifen. Leider verweilte alles Positive und Schöne nur ein paar Sekunden und wurde dann verdrängt von bedrückenden Gedanken an Dinge, die sich nicht ändern ließen. Sie versuchte, an Stubbur, das Flaschenlämmchen, zu denken, wie eifrig es am Morgen an der Flasche gesaugt hatte, aber das Bild verblasste sofort wieder. Stattdessen drängte sich die Erinnerung an Bergur auf, wie er am vorherigen Abend nach Hause gekommen war, und an seinen Gesichtsausdruck, als er ihr von der Leiche, die er am Strand entdeckt hatte, erzählte. Rósa versuchte, es zu verdrängen, indem sie sich zwang, an den bevorstehenden Besuch ihres Bruders zu denken. Das würde die Stimmung im Haus bestimmt auflockern; er lachte viel, war fröhlich und laut. Das konnten sie brauchen; das Haus war so still, dass Fremde meinen könnten, sie und ihr Mann seien stumm. Spöttisch lachte sie auf. Als ob Fremde zu Besuch kommen würden. Es kamen noch nicht einmal Bekannte. Niemand außer den engsten Verwandten wäre auf die Idee gekommen, vorbeizuschauen. Verständlicherweise. Die Leute drängte es nicht an Orte, wo sogar die Topfpflanzen vom Unglück der Eheleute zeugten.
Rósa seufzte. Sie hatte keine enge Freundin, die sie um Rat hätte fragen können, falls es überhaupt einen Rat gab. Bergur war unglücklich, weil er mit ihr zusammenlebte und sie nicht liebte. Und sie war unglücklich, weil sie mit ihm zusammenlebte und ihn liebte, ohne dass ihre Liebe erwidert wurde. Sie wusste nicht, wann er aufgehört hatte, sie zu lieben, falls es jemals Liebe gewesen war, aber sie wusste noch genau, wann sie angefangen hatte, ihn zu lieben. An dem Tag, als sie sich zum ersten Mal begegnet waren. Sie konnte sich auch daran erinnern, wie gut er ausgesehen hatte und wie anders als die anderen jungen Männer er gewesen war, mit denen sie bis dahin zu tun gehabt hatte. Er kam aus den Westfjorden, um im Frühjahr auf dem Hof mitzuhelfen, und hatte sie sofort betört. Seite an Seite hatten sie gearbeitet, blutverschmiert bis zu den Ellbogen beim Lammen, und ihre Schwärmerei verstärkte sich noch, als ihr im Laufe ihrer Gespräche allmählich klar wurde, wie belesen er war und wie gut er sich mit allen möglichen Themen auskannte. Außerdem war seine Ausdrucksweise viel kultivierter als allgemein üblich, und das bis zum heutigen Tag. Es verlieh ihm etwas Weltmännisches, selbst wenn er das Land noch nie verlassen hatte. Damals, und im Grunde noch heute, fühlte sie sich neben ihm wie ein Bauerntrampel. Sie hatte immer gewusst, dass sie ihm nicht ebenbürtig war. Eines Tages würde er sie verlassen. Der Gedanke hatte sie mit Schwermut und Trauer erfüllt, und dies wiederum erstickte ihre Ehe.
Puh. Sie schüttelte sich. Verdammte Feigheit und Selbstmitleid. Kaffeeduft stieg ihr in die Nase und munterte sie ein wenig auf. Vielleicht lag das Glück in der Zukunft. Sie holte den frisch gebackenen Sandkuchen und ein Messer, um ihn zu schneiden. Bergur musste bald zurück sein, und sie wollte alles fertig haben, wenn er müde von der abendlichen Plackerei ins Haus kam. Er reparierte das undichte Scheunendach, und sie wusste, dass ihn diese Arbeit langweilte und plagte. Er war handwerklich nicht sehr begabt, aber das war ihr egal. Es war nicht seine Geschicklichkeit, die sie faszinierte.
Sie hatte die letzte tiefgefrorene Blutwurst von der Herbstschlachtung gekocht, mit Kartoffeln. Im Nachhinein betrachtet war das keine besonders aufregende Mahlzeit, weshalb sie sich überlegt hatte, etwas Farbe in den Alltag zu bringen, indem sie ihrem Mann einen Sandkuchen zum Abendkaffee servierte. Sie schaute in den Topf und sah, dass er kurz vorm Überkochen war. Auf einmal rann ihr eine Träne über die Wange. Diese verfluchte Schlampe. Sie wischte die Träne weg, zog die Nase hoch und richtete das Messer aus. Verfluchte Schlampe. Er war vergeben, konnte sie das nicht akzeptieren? Der Topfdeckel klapperte, und Rósa zuckte zusammen. Plötzlich lächelte sie still vor sich hin, hob den Deckel und reduzierte die Temperatur der Herdplatte. Verfluchte tote Schlampe. Tote, tote, tote Schlampe. Rósa führte das Messer zufrieden über den Kuchen. Tot und bald unter der Erde. Sie hatte noch nie gehört, dass jemand wegen einer toten Schlampe seine Ehefrau verließ.
Matthias war durstig und überlegte, ob ihn der Durst oder ein Geräusch von draußen geweckt hatte. Als ihm klar wurde, dass durch das geöffnete Fenster nichts anderes drang als Stille, lächelte er über diesen Unsinn. Er gähnte und stand vorsichtig auf, wobei er darauf achtgab, Dóra nicht zu wecken. Dies gestaltete sich recht schwierig, da es ihr auf wundersame Weise gelungen war, sich so breit zu machen, dass es ihm schwerfiel, sie beim Aufstehen nicht anzustoßen. Matthias ging ins Badezimmer, drehte den Wasserhahn auf und nahm ein Glas. Als er es unter den Wasserstrahl hielt, hörte er ein merkwürdiges Geräusch. Sofort drehte er den Hahn zu und lauschte. Es war ein herzzerreißendes Kinderweinen. Matthias verließ misstrauisch das Bad und versuchte, herauszufinden, woher das Geräusch kam. Plötzlich hörte es auf. Verwundert hob er die Brauen. Vielleicht waren Gäste mit einem Baby im Hotel, das nicht schlafen wollte. So musste es sein. Er ging zum Fenster, um es etwas mehr zu schließen. Dóra wollte es weit offen stehen haben, aber inzwischen war es ziemlich kalt im Zimmer geworden. Er war es nicht gewohnt, bei solcher Kälte zu schlafen.
Als er die Fensterbefestigung verstellte, begann das Weinen erneut. Es kam zweifellos von draußen. Matthias zog die Gardine beiseite und spähte in die helle Nacht. Er konnte nichts entdecken, und das Geräusch verstummte wieder, genauso plötzlich wie beim letzten Mal. Er verharrte eine ganze Weile am Fenster, aber das Geräusch kam nicht wieder. Schließlich kroch er unter die Bettdecke, sicher, ein Weinen gehört zu haben. Aber es stammte gewiss nicht von einem Kind aus dem Jenseits.