28. KAPITEL

Dóra saß mit dem Telefonhörer am Ohr in Jónas’ Büro vor dem Computer. »Die Polizei wird dem Richter Indizien vorlegen, die auf deine Schuld hindeuten, und ich werde versuchen, sie zu entkräften oder nachzuweisen, dass sie nicht ausreichen. Anschließend wird der Richter dir einige Fragen stellen, und du hast die Möglichkeit zu antworten. Du musst es nicht, aber ich rate dir, die Antwort nur in absoluten Ausnahmefällen zu verweigern.«

»Bekomme ich denn keine Gelegenheit, meine Unschuld zu beteuern?«, fragte Jónas ängstlich. »Der Richter wird doch bestimmt spüren, dass ich die Wahrheit sage. Richter sollten für so etwas besonders sensibel sein.«

Dóra musste laut auflachen und legte die Hand über den Hörer. »Jónas, Richter sind ganz normale Menschen, die genauso falsche Schlüsse ziehen können wie jeder andere. Außerdem muss der Richter die Indizien berücksichtigen. Wenn sie darauf hinweisen, dass du etwas zu verbergen hast, dann muss er seine Entscheidung nach der Indizienlage richten, egal, wie glaubwürdig du deine Unschuld darlegst.«

»Ich hab totale Angst«, sagte Jónas aus tiefstem Herzen.

»Denk dran, dass ich morgen früh bei dir bin. Hoffen wir, dass alles gut läuft.«

»Was wirst du sagen?«, fragte Jónas. »Hast du was Neues?«

»Nur, wenn heute Abend irgendetwas Bahnbrechendes passiert. Du wirst um neun Uhr dem Richter vorgeführt, und ich bezweifle, dass ich bis dahin etwas Neues herausgefunden haben werde.« Enttäuschung klang aus der Stille am anderen Ende der Leitung. »Aber ich tue, was ich kann. Das verspreche ich.«

»Sag mal, kannst du nicht den Mörder oder eine Person finden, die vorgibt, der Mörder zu sein?«

»Es wird mir wohl kaum gelingen, einen Schauspieler aus dem Ärmel zu schütteln, der sich vor dem Richter falscher Taten bezichtigt.« Dóra bewegte die Maus, und der Computerbildschirm leuchtete auf. »Was ist dein Passwort für den Computer, Jónas? Ich hab ihn hochgefahren, komme aber ohne Passwort nicht rein.«

»Hasch«, sagte Jónas. »Mit kleinen Buchstaben.«

Dóra stöhnte. »Bist du noch ganz bei Trost? Ich ändere es. Wenn die Polizei deinen Computer beschlagnahmt, ist das kein Passwort, das wir ihnen mitteilen möchten. Ich nehme was Harmloseres.«

Sie verabschiedeten sich, und Dóra änderte umgehend das Passwort. »Amnesty«, sagte sie zu sich selbst. »Kleingeschrieben.«

»Mit wem sprichst du?«, fragte Matthias, als er den Raum betrat. »Mit dem Geist?«

Dóra blickte vom Monitor auf und grinste. »Ja, warum nicht? Vielleicht kann der mir bis morgen früh den Mörder verraten.«

Matthias nahm umständlich auf einem Stuhl gegenüber von Dóra Platz. Er knallte einen Stapel Papier auf den Tisch. »Ich hab ein paar Autos gefunden.«

Dóra nahm die Blätter zur Hand. Matthias hatte auf dem Parkplatz anhand der Liste mit den Kfz-Kennzeichen überprüft, ob Fahrzeuge der Gäste oder des Personals an dem Tag, an dem Eirikur zu Tode getrampelt worden war, den Tunnel passiert hatten.

»Wie hast du es geschafft, diese Unmenge an Nummern und Namen durchzusehen?«, fragte Dóra. »Wie viele sind es eigentlich?«

»Etwa fünftausend, aber die Polizei ist die Liste netterweise schon durchgegangen und hat ein paar Autos angekreuzt, die mit dem Mord in Verbindung stehen könnten. Darunter auch einige Fahrzeuge der Angestellten«, erklärte Matthias. »Problematisch sind die Mietwagen. Bei denen sind die Firmen als Eigentümer eingetragen, da bringt die Liste alleine nicht viel. Aber Vigdís hat mir geholfen«, sagte Matthias. »Sie ist mit rausgekommen und hat mir gesagt, wem welcher Wagen gehört. Sie wusste genau Bescheid.« Er nahm den Stapel und blätterte darin herum. »Leider hat’s nicht viel gebracht. Die Leute mit den Mietwagen sind natürlich alle Ausländer, und keiner von ihnen steht unter Verdacht. Allerdings hat weder der Wagen der Japaner noch der von Robin, dem Fotografen, am fraglichen Tag den Tunnel passiert.«

»Robin meinte, er sei in den Westfjorden gewesen«, entgegnete Dóra. »Dann passt es ja, dass er nicht durch den Tunnel gefahren ist. Und die Japaner fahren laut Vigdís nie irgendwohin. Was ist mit den anderen?«

»Ich weiß nicht, ob uns das weiterhilft, aber unter den von der Polizei gekennzeichneten Fahrzeugen ist das von Bergur. Er ist vormittags hin- und zurückgefahren — er ist also noch im Rennen«, sagte Matthias und blätterte weiter. »Der verletzte Börsenmakler ist nicht weggefahren, zumindest stand sein Name nicht auf der Liste. Ich bezweifle allerdings, dass er in seinem Zustand überhaupt Auto fahren kann. þröstur, der Kajakfahrer, ist abends um sechs weggefahren. Der Mord wurde um die Abendbrotzeit herum begangen, er scheint also nicht in Frage zu kommen. Er ist erst viel später zurückgekommen.«

»Wie viel Zeit liegt zwischen seiner Hin- und Rückfahrt?«, fragte Dóra. »Man kann nämlich auch am Fjord entlangfahren, das heißt, er hätte durch den Tunnel Richtung Reykjavík fahren, den Rückweg über den Hvalfjörður nehmen, Eiríkur umbringen, wieder am Fjord entlang und dann in entgegengesetzter Richtung durch den Tunnel zurückfahren können.« Sie schaute skeptisch drein. »Das ist allerdings ziemlich weit hergeholt. Wenn er eine halbe bis eine Stunde vor dem Mord durch den Tunnel fährt, ist es ziemlich unwahrscheinlich, dass er es schafft, hierher zurückzukommen, Eiríkur in den Pferdestall zu schleppen, ihn zu töten und dieselbe Strecke noch einmal zu fahren. Ich kenne den genauen Todeszeitpunkt. ›Zur Abendbrotzeit‹ — das ist alles andere als präzise.«

Matthias verglich þrösturs Hin- und Rückfahrtzeiten. »Er ist zweieinhalb Stunden nach dem Hinweg wieder durch den Tunnel zurückgekommen.«

»Dann ist es im Grunde ausgeschlossen«, sagte Dóra. »Er hätte verdammt Gas geben müssen. Ich finde, wir sollten trotzdem mit ihm reden. Vielleicht weiß er etwas. Wen hast du da noch?«

»Die Angestellten scheinen größtenteils hier gewesen zu sein, zumindest stehen kaum Fahrzeuge von ihnen auf der Liste. Jökulls Wagen ist gegen zwei Uhr Richtung Reykjavík gefahren und zwei Stunden später wieder zurückgekommen, das heißt, er ist noch mit im Spiel. Dann gab’s da noch einen Wagen, der laut Vigdís der Masseurin gehört. Sie ist gegen Mittag gefahren und nicht zurückgekommen. Und die Polizei hat auch noch den Wagen einer Frau markiert, die hier arbeitet. Sie heißt Sóldís und ist laut Vigdís in erster Linie Zimmermädchen. Kurz nach dem Mord ist sie durch den Tunnel gefahren. Vigdís meinte, Sóldís wollte ihren Wagen am Sonntag in Reykjavík in die Werkstatt bringen und zurücktrampen. Ich kenne die Frau nicht, aber sie könnte im Grunde jederzeit zurückgekehrt sein. Wir wissen ja nicht, wer sie mitgenommen hat.«

»Diese Sóldís ist blutjung. Unwahrscheinlich, dass sie mit der Sache zu tun hat«, erklärte Dóra. »Ich hab mich ein bisschen mit ihr unterhalten, bevor du gekommen bist. Scheint eine ehrliche Haut zu sein. Außerdem glaube ich sowieso nicht, dass Frauen in Frage kommen. Nicht, wenn wir davon ausgehen, dass beide Male derselbe Mörder am Werk war. Weil Birna immerhin vergewaltigt wurde.«

»Ja, ja, aber die Polizei hat Fahrzeuge von Männern und Frauen aussortiert«, erwiderte Matthias. »Und es ist nicht gesagt, dass der Eigentümer auch der Fahrer sein muss. Vielleicht hat eine Frau ihr Auto verliehen, und der Mörder war gar nicht in seinem eigenen Wagen unterwegs. Der Eigentümer muss ja nicht unbedingt am Steuer sitzen.«

»Nein, das stimmt natürlich«, gab Dóra zu. »Das Ganze ist also nicht sehr hilfreich, oder?«

»Nein«, entgegnete Matthias. »Ich hab die Namen auf der Liste allerdings etwas genauer unter die Lupe genommen, man weiß ja nie, wonach die Polizei sucht.« Er blätterte weiter durch den Stapel. »Dabei habe ich gesehen, dass die beiden Geschwister, die Jónas das Land verkauft und die wir in Stykkishólmur getroffen haben, Börkur und Elín, einige Zeit vor dem Mord durch den Tunnel in unsere Richtung gefahren sind. Sie sind nicht wieder umgekehrt. Dann ist da dieses Mädchen, Bertha, sie ist eine Stunde vor dem Mord in die Stadt gefahren und an diesem Tag nicht mehr zurück.«

»Ob die Geschwister die Mörder sein könnten?« Dóras Mundwinkel zuckten. »Auf die Idee bin ich noch gar nicht gekommen. Ist allerdings schwierig, sich ein Mordmotiv vorzustellen.«

»Man kann nie wissen«, sagte Matthias. »Ah, und dann habe ich Vigdís noch nach dem alten Baldvinsson gefragt, und sie meinte, er hätte kein Auto, sein Enkel hat ihn gebracht.«

»Dann ist da noch Bergurs Frau«, sagte Dóra nachdenklich. »Merkwürdig, dass das alles bei ihnen vor der Haustür passiert ist, ohne dass die Eheleute irgendetwas mit der Sache zu tun haben. Er ist Birnas Liebhaber, entdeckt ihre Leiche, und dann wird Eiríkur in ihrem Pferdestall umgebracht. Rósa hatte genügend Gründe, Birna zu töten, aber warum hätte sie Eiríkur ermorden wollen?« Dóra blickte zu Matthias. »Ob sie nur Birna umgebracht hat? Könnte sie einen Komplizen für die Vergewaltigung gehabt haben?«

Matthias zuckte die Achseln. »Ja, klar, fragt sich nur, wen. Jökull vielleicht?«

Dóra seufzte und drehte sich zum Computer. »Ich sterbe vor Hunger.« Sie schaute auf die Uhr in der Bildschirmecke. »Sollen wir mal sehen, ob wir was zu essen kriegen? Ich fürchte, wenn wir noch länger warten, hat die Küche geschlossen. Der Computer läuft uns ja nicht weg.«

Sie standen auf und verließen das Büro. Matthias ließ den Papierstapel zurück, und Dóra schloss sorgfältig ab. Sie war sich keineswegs sicher, ob die Polizei ihr eine Kopie der Liste aushändigen würde, falls diese verschwand — beziehungsweise ob sie ein markiertes Exemplar bekäme, und es wäre unglaublich viel Arbeit, noch einmal von vorne anfangen zu müssen. »Oh, hoffentlich haben sie Muscheln.« Dóras Magen knurrte. »Oder Frikadellen.«

»Ich hätte nichts gegen ein leckeres Sandwich und ein Bier«, meinte Matthias. »Auf gar keinen Fall Walfleisch, und du brauchst mir auch nichts von deinen Muscheln abzugeben.« Als Dóra ihn leicht am Ärmel zupfte, verstummte er. Sie nickte in Richtung eines schlanken Mädchens, das in Begleitung einer alten Dame zum Ausgang ging.

»Das da ist Sóldís«, flüsterte Dóra. »Die von der Liste, die du nicht kanntest.« Sie näherten sich, und Dóra grüßte das Mädchen freundlich. »Hallo Sóldís«, sagte sie und blieb stehen.

Sóldís und die Frau blieben ebenfalls stehen, und das Mädchen presste etwas hervor, das einem Lächeln ähnelte. »Ach, hallo.«

Dóra stellte sich der alten Dame vor und reichte ihr die Hand. »Ich bin Anwältin«, fügte sie hinzu, »und arbeite für den Hotelbesitzer. Sóldís war mir bei einigen Dingen behilflich.« Die Frau stellte sich als Lára vor. Dóra lächelte dem Mädchen zu. »Ich wollte dich noch etwas fragen, falls ihr es nicht eilig habt.«

»Ich jedenfalls nicht«, sagte die alte Frau. »Ich bin nur hier, um sie abzuholen.«

»Hm, von mir aus«, brummte Sóldís mit einem so desinteressierten Gesicht, wie es nur Jugendliche aufsetzen können. Sie kaute Kaugummi, offensichtlich einen recht großen, denn sie nuschelte ein wenig. »Was willst du denn wissen?«

»Ach, nichts Besonderes«, antwortete Dóra. »Es gibt eine Liste der Fahrzeuge, die am Sonntag den Hvalfjörður-Tunnel passiert haben, und du bist offenbar mit deinem Wagen in die Stadt zur Werkstatt gefahren.«

»Stimmt«, entgegnete Sóldís. Sie zeigte mit dem Daumen auf die alte Dame. »Ich kriege ihn erst am Mittwoch zurück, deshalb holt Oma mich ab.«

»Die Frage ist«, sagte Dóra, »mit wem bist du zurückgefahren? Wir versuchen herauszufinden, wo die Leute sich an diesem Tag aufgehalten haben, wer auf dem Grundstück war und so weiter.«

Sóldís’ Gesichtsaudruck deutete darauf hin, dass sie die Frage sonderbar fand. »Ich bin mit þröstur gefahren.«

»Mit dem Kajakfahrer?«

»Ja, ich hab ihn sagen hören, er müsste kurz nach Reykjavík, und ich hatte echt ein Problem, also hab ich ihn gefragt, ob er mich mitnehmen könnte. Er hatte nichts dagegen.« Sie formte mit dem Kaugummi eine große Blase und ließ sie platzen. Die Enden des Kaugummis beförderte sie dann geschickt mit der Zunge wieder in ihren Mund. »Steini hatte abgesagt, deshalb hatte ich Glück, dass þröstur mir geholfen hat.«

»Steini?«, fragte Dóra. »Wer ist Steini?«

»Mein Freund«, antwortete Sóldís. »Oder ein Freund. Er wollte mich abholen, hat dann aber im letzten Moment einen Rückzieher gemacht. Er ist ein bisschen komisch. Früher war er nicht so, aber dann hatte er einen Unfall und …« Sie tippte sich mit dem Zeigefinger an die Schläfe.

»Meinst du den Jungen im Rollstuhl mit den schlimmen Verbrennungen?«, fragte Dóra erstaunt. »Kann er Auto fahren?«

»Ja, ja«, antwortete Sóldís. »Seine rechte Körperhälfte ist zwar verbrannt, aber seine eine Hand ist völlig in Ordnung. Die Beine sind allerdings irgendwie verletzt, aber er hat ein Gerät im Auto, das ihm hilft, die Pedale zu treten. Es ist ein Automatikwagen.«

»Das erleichtert ihm bestimmt einiges.« Dóra versuchte ihre Verwunderung zu verbergen. Sie wäre nie auf die Idee gekommen, dass der Junge Auto fahren könnte. »Woher kennt ihr euch denn?«

»Wir waren schon mit sechs in derselben Klasse«, antwortete Sóldís. »Es gab nur eine Klasse in unserem Jahrgang, weißt du, und nach dem Unfall ist er dann in ein Haus hier in der Nähe gezogen, und ich hab ihn besucht. Erst, weil ich Mitleid mit ihm hatte, du weißt schon, und dann einfach zum Quatschen.«

»Er ist also ein guter Freund?«, hakte Dóra nach: »Die beiden Male, die ich ihn getroffen habe, wirkte er sehr verschlossen.«

»Doch, er ist klasse. Er kommt nur nicht so gut mit Fremden klar«, antwortete Sóldís und ließ den Kaugummi knallen. »Ich glaube, es ist ihm unangenehm, wenn die Leute ihn anstarren und so. Eigentlich gibt es nur zwei Personen, die ihn besuchen. Ich und seine Cousine Bertha.«

»Die habe ich kennengelernt«, entgegnete Dóra. »Seid ihr auch befreundet?«

»Ja, könnte man sagen. Ich kannte sie vorher nicht; sie ist aus Reykjavík. Hab sie bei Steini getroffen, weißt du. Sie ist sehr nett zu ihm und scheint echt in Ordnung zu sein.«

»Das war alles sehr tragisch«, warf Lára, Sóldís’ Großmutter, unvermittelt ein. »Hier in der Gegend wohnen nicht viele Leute, und alle wissen von dem Unfall mit zwei Toten und einem Schwerverletzten.«

»Ich hab gehört, es war ein älteres Ehepaar von einem Hof hier in der Nähe.«

»Ja, schrecklich«, sagte die alte Frau. »Das Schlimmste war eigentlich, dass Gvendur am Steuer alkoholisiert war. Seine Tochter Rósa hat das schwer mitgenommen. Sie ist wegen der ganzen Geschichte ziemlich isoliert. Sehr gesellig war sie nie, aber nach dem Unfall hat sie sich ganz zurückgezogen. Was Unsinn ist, denn die Leute würden sie nie dafür verantwortlich machen.«

Dóra nickte. »Du bist aus der Gegend, nicht wahr?«, fragte sie Lára.

»Ja, ich bin hier geboren und aufgewachsen«, antwortete sie lächelnd. Dóra bemerkte, dass Sóldís ihr ziemlich ähnlich sah. Trotz sechzig Jahren Altersunterschieds hatten sie dieselben Gesichtszüge. »Als ich jung war, habe ich ein paar Jahre in Reykjavík gewohnt, aber schnell gemerkt, dass ich mich hier wohler fühle. Es hat mich nie wirklich woanders hingezogen.«

Dóra lächelte. »Ich bin hier auf alle möglichen Dinge gestoßen, die mich neugierig gemacht haben. Kanntest du zufällig die Leute von den beiden Höfen hier auf dem Grundstück?«

»Die Familien von Kreppa und Kirkjustétt? Aber selbstverständlich«, sagte Lára stolz. »Wir waren beste Freundinnen, ich und Guðný, die Tochter von Kirkjustétt.«

»Erinnerst du dich gut an diese Zeit?«, fragte Dóra, während sie fieberhaft versuchte, sich die wichtigsten Fragen ins Bewusstsein zu rufen.

»Tja, natürlich lässt das Gedächtnis langsam nach, aber die ältesten Erinnerungen währen scheinbar am längsten. Die Brüder Grímur und Bjarni waren übrigens immer etwas Besonderes, insofern wundert es mich nicht, wenn du Fragen hast. Das Leben hier auf dem Hof war schon eigenartig.«

Dóra hätte Sóldís’ Großmutter küssen können. Sie holte tief Luft und legte los. »Weißt du, ob der Hof irgendwas mit Nazis zu tun hatte? Ich habe eine Fahne und anderes Zeugs gefunden. Weißt du etwas darüber?«

Lára seufzte betrübt. »Ja, leider. Bjarni hatte eine Vorliebe dafür. Man muss allerdings bedenken, dass er nach dem Tod seiner Frau Aðalheiður, so um 1930 nicht mehr derselbe war. Sie bedeutete alles für ihn. Man könnte sogar sagen, dass ihm durch den Verlust sein Verstand und sein Urteilsvermögen abhanden kamen.« Die alte Dame lächelte verschmitzt. »Allerdings hat er auch profitiert von seinen Marotten. Ungefähr gegen Kriegsbeginn begann Bjarni, in abenteuerliche Dinge zu investieren, und das Glück war mit ihm. Es war ja nur Zufall, dass sich die wirtschaftlichen Verhältnisse im Land durch den Krieg schlagartig besserten, durch die Besatzung und den Bevölkerungszuwachs. Grímur hatte hingegen nie so viel Glück, er vertrat immer die Stimme der Vernunft.«

»Ist er bankrottgegangen?«, fragte Dóra.

»Nein, so schlimm kam es nicht, aber ich glaube, es hätte nicht viel gefehlt. Er war Arzt, aber da es hier in der Gegend einen Gemeindearzt gab, hatte er nicht genug zu tun und verlegte sich immer mehr auf die Landwirtschaft. Am Ende gab er den Arztberuf auf und versuchte, den Hof zu vergrößern, aber dann fand er keine Arbeitskräfte. Alle waren nach Reykjavík gegangen, wo man bessere Löhne bei den Besatzern bekam. Bjarni hat seinen Bruder schließlich vor dem Bankrott gerettet, seine Ländereien aufgekauft, ihm aber trotzdem erlaubt, weiter zu wirtschaften, so als hätten sich die Besitzverhältnisse gar nicht geändert. Bjarni hat das getan, obwohl die Brüder kein gutes Verhältnis mehr hatten, und Grímur ist es sicherlich schwergefallen, die Hilfe anzunehmen. Zu allem Überfluss starb dann auch noch Grímurs Frau Kristrún bei der Geburt ihrer kleinen Tochter. Kristrún war gemütskrank, daher kannte ich sie kaum. Sie ging nicht viel unter Leute.« Die alte Frau machte eine Pause. »Was die Nazis angeht, da bekam Bjarni Besuch von Leuten aus Reykjavík, die ihn unbedingt zu einer Art Anführer der isländischen Nationalbewegung im Westland machen wollten. Er sollte junge Männer für eine politische Bewegung hier im Bezirk anwerben. So etwas gab es schon im Südland und ich glaube auch im Norden, obwohl sie nie richtig Rückenwind hatten.«

»Und hat er es gemacht?«, fragte Dóra. »Ist er ihnen beigetreten und hat Leute angeworben?«

»Er hat damit angefangen. Sogar ziemlich erfolgreich.« Lára lächelte erneut. »Allerdings interessierten sich die jungen Burschen weniger für die Ideologie, für die Bewegung oder für das Hakenkreuz als für Bjarnis Tochter Guðný.«

Die alte Dame schaute verträumt vor sich hin. »Sie war so hübsch. Ein hübsches kleines Mädchen und eine hübsche junge Frau. Genau wie ihre Mutter. Die jungen Burschen aus dem Bezirk konnten ihre Augen nicht von ihr abwenden, als sie ins Teenageralter kam. Sie haben wirklich jede Gelegenheit ergriffen, zu ihr nach Hause zu kommen, selbst wenn sie dafür den einen oder anderen Abend so tun mussten, als seien sie Nationalisten. Ich weiß nicht, ob sie auch nur die geringste Ahnung hatten, was Nationalsozialismus war. Sie wollten einfach in Guðnýs Nähe sein.«

»Hat sie denn an diesen Treffen teilgenommen?«

»Nein, meine Liebe«, antwortete die Alte. »Sie hat Kaffee gekocht und die Gäste bedient. Ich musste ihr manchmal helfen. Wir haben die jungen Burschen ausgiebig gemustert und heimlich über sie gekichert.« Láras Gesicht nahm einen traurigen Ausdruck an, und sie schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, wie es geendet hätte, aber der liebe Gott griff ein, und es kam, wie es kam.«

»Meinst du die Tuberkulose?«, fragte Dóra.

»Ja, unter anderem«, sagte sie. »Bjarni wurde krank und zog sich zurück — und somit auch Guðný.« Sie seufzte. »Ich bin ungefähr zur selben Zeit mit meiner Tante in die Stadt gezogen und habe deshalb, bis auf ein paar Briefe, den Kontakt zu ihr verloren. Das ganze Nazigetue fiel in sich zusammen.«

»Was hältst du von den Gerüchten, Bjarni hätte Guðný missbraucht?«

Lára schaute Dóra in die Augen. Sie holte tief Luft und löste ihren Blick wieder. »Gott, wie lange das her ist. Aber ich habe in der letzten Zeit viel an Guðný gedacht.« Sie zeigte auf Sóldís, die neben ihnen wild auf ihrem Kaugummi herumkaute und sie aufmerksam beobachtete. »Als Sóldís anfing, hier zu arbeiten, ist mir das alles wieder eingefallen.« Sie zögerte, sah Dóra dann aber scharf an. »Ich glaube, dass Bjarni seine Tochter nie angerührt hat. Er war ein guter, wenn auch seltsamer Mann, und aus ihren Briefen konnte man lesen, wie gern sie ihn hatte.« Sie schaute zu Boden. »Aber es ist trotzdem etwas passiert. Nachdem Guðný erkrankt war, wurden die Briefe kürzer, aber sie vertraute mir dennoch in ihrem letzten Brief ein Geheimnis an. Sie schrieb, sie hätte ein Kind bekommen. Diesen Brief schrieb sie kurz nachdem ihr Vater gestorben und das Kind vier Jahre alt war. Sie schrieb, sie hätte sich nicht getraut, es mir früher anzuvertrauen. Damals galt so etwas als furchtbare Schande. Sie war erst sechzehn, als das Kind gezeugt wurde. Den Vater des Kindes erwähnte sie mit keinem Wort, schrieb nur, sie würde mir die ganze Geschichte später erzählen. Aber dazu kam es nie, denn als Nächstes hörte ich, sie sei gestorben.«

»Wer hätte der Vater sein können?«, fragte Dóra.

»Da kommen nicht viele in Frage«, antwortete Lára. »Bei Tuberkulose waren die Leute sehr vorsichtig, da die Krankheit hochansteckend ist und es damals keine Heilungsmöglichkeit gab. Die beiden lebten völlig isoliert, nachdem ihr Vater beschlossen hatte, zu Hause zu bleiben und nicht in die Stadt zu gehen. Sie wollte ihn nicht allein lassen, und so kam es, wie es kommen musste. Der einzige Mensch, der die beiden besuchte, war Bjarnis Bruder Grímur. Ich hatte ihn immer in Verdacht, Guðný missbraucht zu haben, obwohl man so was nicht sagen soll, wenn man keine triftigen Beweise hat. Außer vielleicht, dass er kein guter Mensch war.«

»Was wurde aus dem Kind?«, fragte Dóra. »War es ein Mädchen oder ein Junge?«

»Ein Mädchen. Ich weiß nicht, was aus ihr geworden ist. Als ich wieder herzog, schien niemand sie gekannt zu haben. Der Pastor, der sie höchstwahrscheinlich getauft hat, war gerade verstorben, und alle Leute, die ich fragte, hatten nie ein Kind gesehen. Obwohl einige wussten, dass Guðný Waren bestellt hatte, die nur damit zu erklären waren, dass ein Kind auf dem Hof lebte. Es hieß, das Kind sei gestorben, ausgesetzt worden oder an Tuberkulose erkrankt, wie seine Mutter. Der Klatsch über Inzest ging erst los, als beide, Guðný und Bjarni, tot waren. Vielleicht haben meine Bemühungen, dieses Kind ausfindig zu machen, den Klatsch sogar losgetreten.«

»Hast du mit Grímur darüber gesprochen?«

»Ich hab’s versucht, aber er wollte nicht mit mir reden. Kurz nachdem ich wieder hier war, ist er nach Reykjavík gezogen. Niemand wollte mir helfen, etwas herauszufinden; über Inzest sprach man einfach nicht — es galt als große Schande.«

»Wie hieß das Mädchen? Weißt du das?«, fragte Dóra.

»Kristín. In dem Brief nannte sie die Kleine Kristín«, antwortete Lára. »Ich habe überall nach einem Grabstein mit diesem Namen gesucht, aber keinen gefunden. Ich weiß nicht, was mit ihr passiert ist.«

»Kristín«, sagte Dóra. »Dann gab es sie also doch.«

»Gab?«, sagte Lára. »Ich habe immer noch die Hoffnung, dass sie lebt. Ich habe immer geglaubt, dass Guðný sie heimlich bei guten Leuten untergebracht hat. Weil sie nicht wollte, dass die Leute Kristín wegen der Ansteckungsgefahr aus dem Weg gehen. Möglicherweise hatte sie das schon seit der Geburt des Kindes beabsichtigt und Grímur darum gebeten, die Geburtsurkunde nicht an die Behörden zu schicken oder sie irgendwie zu fälschen. Ich gehe davon aus, dass das Kind in Grímurs Obhut kam, denn als es geboren wurde, war jeglicher Kontakt zu Guðný und ihrem Vater gefährlich.« Láras Gesicht nahm einen entschlossenen Ausdruck an. »Guðný war gottesfürchtig. Für sie wäre nie etwas anderes in Frage gekommen, als dass ihr Kind auf einem Friedhof beerdigt wird und zwar auf dem da hinten. Deshalb glaube ich, dass das Kind überlebt hat.«

Dóra nickte. Keine Mutter, die noch bei Verstand ist, würde ihr Kind im freien Gelände begraben, wenn ein Friedhof in der Nähe war. Kristín musste ihre Mutter überlebt haben. Sie wollte der Frau nicht von den in den Balken eingeritzten Worten erzählen — dass Kristín ermordet worden war. Für die alte Frau war es besser, zu glauben, Kristín sei noch am Leben. Daher wechselte Dóra das Thema. »Weißt du, was für ein Haus hinter diesem hier stand? Es muss vor sehr langer Zeit abgebrannt sein.«

»Ein Haus?«, sagte Lára verdutzt. »Hier stand nur ein Haus, und das existiert immer noch, es ist nur in das neue Hotel integriert worden.« Nachdenklich runzelte sie die Stirn. »Es sei denn, du meinst die Scheune«, sagte sie plötzlich. Sie drehte den Kopf und suchte an der Rückseite des Hotels nach einem Fenster, fand aber keins. »Hinter dem Haus standen die Scheune und der Stall. Vielleicht sind die abgebrannt, aber das muss passiert sein, bevor ich zurückgekommen bin, ich kann mich nämlich nicht an einen Brand erinnern. Ich könnte auch nicht mehr sagen, ob die Gebäude noch standen, als ich wieder hier war.«

»Ich weiß, dass das vielleicht merkwürdig klingt, aber erinnerst du dich an den Kohlenkeller in Kreppa?«, fragte Dóra. »Er ist in den Boden gegraben, und man gelangt durch den Keller im Haus und durch eine Falltür in der Wiese hinein.«

Lára grübelte. »Nein, daran kann ich mich nicht erinnern. Ist das wichtig?«

»Was sind denn das für Typen?«, platzte Sóldís auf einmal heraus, bevor Dóra antworten konnte. »Wissen die etwa nicht, dass man hier nicht campen darf? Das steht auf dem großen Schild am Abzweig. Hier ist Naturschutzgebiet!« Sie zeigte nach draußen.

»Oh, nein«, entfuhr es Dóra. Durch die Glastür sah sie ihren Jeep samt Wohnwagen über den Parkplatz ruckeln.

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