29. KAPITEL

Der Wohnwagen stand quer auf dem Parkplatz. Dóra beobachtete, wie Gylfi aus dem Geländewagen stieg und seiner kleinen Schwester und Sigga, die auf dem Rücksitz saßen, die Tür aufhielt. Offenbar hatte er verhindern wollen, dass seinem ungeborenen Erben im Falle einer Kollision durch den Airbag Schaden zugefügt würde. Wenn es um Sicherheitsfragen ging, ließ Gylfi nichts auf sich kommen — abgesehen davon, dass er ohne Führerschein fuhr. Sigga reckte sich beim Aussteigen, und der Babybauch wirkte dabei an ihrem zierlichen Körper noch grotesker. Sie überlegte, wie sie die drei wieder in die Stadt verfrachten könnte, bis ihr einfiel, dass es kurz vor zehn Uhr abends war und somit zu spät, einen Chauffeur zu organisieren. »Warum seid ihr nicht mit eurem Vater gefahren?«, rief sie Gylfi zu, während sie ihnen über den Parkplatz entgegenmarschierte. »Er sollte euch in Selfoss abholen.«

»Nur so«, sagte Gylfi und verriegelte gewissenhaft den Wagen. »Wir wollten alle nicht zu ihm nach Hause oder zu Siggas Eltern, deshalb haben wir beschlossen, weiter zu campen. Ich hab’s Papa erzählt, damit er nicht ausflippt, falls du deswegen irgendwie sauer auf ihn bist.«

Darum machte sich Dóra die geringsten Sorgen. Hannes konnte so eingeschnappt sein, wie er wollte, ohne dass sie das in irgendeiner Form störte. Allerdings machte sie sich Sorgen darüber, wie sie sich um Jónas, Matthias, ihre beiden Kinder und ihre hochschwangere Schwiegertochter kümmern sollte, ohne etwas zu vermasseln — oder alles zu vermasseln. »Wie geht’s dir denn, Sigga?«, sagte sie zu dem schwangeren Mädchen, während sie Sóley in den Arm nahm, die sich glücklich lächelnd an ihre Mama schmiegte.

»Ach, geht so«, antwortete Sigga. »Mein Rücken tut weh.«

Dóra spürte, wie sich ihr Gesicht vor Entsetzen verzog. »Glaubst du, das Kind kommt schon?«, fragte sie. »Dann könnt ihr nicht hierbleiben.«

»Nein, Mama«, sagte Gylfi empört. »Sie ist noch nicht am Ende des neunten Monats.«

Von Frühgeburten hatte Gylfi offenbar noch nie etwas gehört. »Kommt rein«, sagte Dóra und schob die Schar zum Eingang. »Über deine Autofahrt reden wir noch, Gylfi, aber das muss warten«, flüsterte sie ihrem Sohn ins Ohr. »Ich bin total sauer auf dich.« Dann fügte sie laut hinzu: »Ich schaue mal, ob ich ein Zimmer für euch bekomme. Genug gecampt.« Matthias stand lächelnd im Türrahmen. Dóra schnitt eine Grimasse, die nur er sehen konnte. »Kinder, ihr erinnert euch bestimmt an Matthias. Er hilft mir bei einem Fall, der mit dem Hotel zu tun hat. Ihr müsst ganz brav sein, ich muss arbeiten. Ihr rührt euch nicht von der Stelle und macht nichts kaputt.« Sie war kurz davor, hinzuzufügen »und bringt nichts zur Welt«, schluckte es aber im letzten Moment hinunter. Die beiden ersten Punkte waren schon schwierig genug.


»Mach dir keine Gedanken«, sagte Matthias, nachdem sie sich in Jónas’ Büro vor den Computer gesetzt hatten. »Es ist alles in Ordnung. Ich mag deine Kinder. Ich habe mir meinen Urlaub zwar etwas anders vorgestellt, aber er wird bestimmt unvergesslich.« Er zwinkerte ihr verschwörerisch zu. »Vielleicht findest du ja in Reykjavík einen Babysitter, damit wir mal in ein Restaurant gehen können, wo nicht nur biologisch angebaute Produkte angeboten werden.«

Dóra löste ihren Blick vom Bildschirm. »Warum sind die Volksmärchen von Jón Árnason bloß nicht im Internet zugänglich?«, nörgelte sie.

»Darf ich das als Ja interpretieren?«, fragte Matthias.

»Was?«, geistesabwesend scrollte Dóra weiter über die Homepage. »Ja, ja«, fügte sie hinzu, obwohl sie keine Ahnung hatte, worauf sie sich gerade einließ. »Egal wo ich suche, ich finde nie die eigentliche Geschichte, nur den Vers. Ich müsste in eine Bibliothek.«

Matthias schaute auf die Uhr. »Das wirst du kaum mehr schaffen. Glaubst du wirklich, dass die Inschrift auf dem Stein eine Rolle spielt?«

Dóra blickte vom Bildschirm zu ihm. »Nein«, antwortete sie knapp. »Ich brauche einfach einen Strohhalm für morgen und weiß nicht, wo ich suchen soll.«

»Falls Bergur oder seine Frau die Morde begangen hat, dann glaube ich nicht, dass dieser Stein irgendwas mit der Sache zu tun hat«, meinte Matthias. »Es wäre vernünftiger, sich mit Dingen zu beschäftigen, die nicht ganz so lange her sind.« Matthias trat ans Fenster und beobachtete ein Auto, das sich dem Hotel näherte. Es rollte bis ans Haus und hielt direkt unterhalb des Fensters an. Die Scheinwerfer gingen aus, und der Motor erstarb. »Die Autonummer kenne ich doch!«, rief Matthias und ließ die Gardine los. »Wo ist die Liste?«

Dóra schaute ihn ungläubig an. »Willst du etwa behaupten, du würdest eine Nummer von Tausenden wiedererkennen?«, fragte sie und reckte sich nach der Liste mit den Kennzeichen.

»Es ist ein persönliches Kennzeichen«, antwortete Matthias. »Davon gab es nicht viele, deshalb ist es mir aufgefallen.« Er blätterte durch die Liste. »Hier ist es. Eine Stunde, bevor Eiríkur ermordet wurde, ist dieser Wagen von Reykjavík aus durch den Tunnel gefahren.« Er gab Dóra die Liste zurück und zeigte auf einen Eintrag. »Da! VERITAS«, sagte er. »Ich erinnere mich genau daran, weil es in Deutschland nur standardmäßige Städtekennzeichen gibt, keine individuellen wie bei euch, und weil ich über den Beruf des Besitzers nachgedacht habe. Das Einzige, was mir in Verbindung mit der Wahrheit eingefallen ist, war Mathematik.«

Dóra nahm die Liste entgegen und las den Namen des Eigentümers. »Knapp daneben«, sagte sie und legte das Blatt beiseite, »es ist ein Politiker. Baldvin Baldvinsson, der Enkel des alten Magnús, mit dem wir gesprochen haben.« Dóra stand auf. »Was will der denn schon wieder hier?«

»Vielleicht seinen Großvater besuchen?«, schlug Matthias vor. »Oder er ist auf Stimmenfang?«

»Wir fragen ihn einfach«, sagte Dóra. »Dem Nummernschild nach zu urteilen, wird er uns nichts als die Wahrheit sagen.«


Baldvin stand an der Rezeption und trommelte beim Warten auf den Tresen. Vigdís drehte ihm den Rücken zu und schaute in den Computer. Dóra wünschte ihr ein anständiges Gehalt, da sie Tag und Nacht zu arbeiten schien. »Löst dich niemand ab?«, fragte sie, als sie mit Matthias neben Baldvin trat. Dóra wollte nicht direkt auf den Mann einreden und zog es vor, ein Gespräch mit Vigdís anzufangen. Er schien auf etwas zu warten und würde bestimmt nicht direkt wieder gehen.

Vigdís drehte sich zu Dóra um. »Doch, doch. Jónas wollte diese Schicht eigentlich übernehmen, aber …« Sie zögerte. »… du weißt schon. Er wollte schon längst eine Kollegin für mich einstellen, aber das hat sich hingezogen.« Sie tippte etwas in den Computer und wandte sich anschließend an Baldvin. »Du kannst Zimmer 14 nehmen. Direkt neben deinem Großvater.« Sie griff nach dem Schlüssel und reichte ihn dem jungen Mann.

Dóra musterte den Gast. »Du bist doch der Enkel von Magnús, oder? Der Abgeordnete?«

Baldvin schaute Dóra irritiert an. Er sah müde aus, was nichts daran änderte, dass er seinem Großvater unglaublich ähnelte. Dóra erinnerte sich an Fotos von Magnús in jungen Jahren und überlegte, was für ein Gefühl es war, haargenau zu wissen, wie man im Alter aussehen würde. »Äh, ja«, antwortete er. »Kennen wir uns?«

Dóra reichte ihm die Hand. »Nein, aber ich kenne deinen Großvater. Ich war eine Freundin von Birna.« Sie entließ seine Hand nicht wieder aus ihrem festen Griff und fragte gerade heraus: »Ihr kanntet euch doch, oder?«

Baldvin sah aus, als hätte er eine Fliege verschluckt. Er würgte kurz und fasste sich wieder. »Birna, sagst du? Ich kenne leider keine Birna.«

»Nein?«, Dóra blieb hartnäckig. Sie hatte Baldvins Hand immer noch nicht freigegeben und spürte, wie seine Handfläche feucht wurde. »Sag mal, warst du nicht am Sonntag hier?«

Baldvin zögerte, ob wegen des langen Händedrucks oder wegen der Frage. »Ich? Nein, das muss ein Missverständnis sein«, sagte er und lächelte anbiedernd.

»Wirklich?«, sagte Dóra mit gespieltem Erstaunen. »Ich dachte, ich sei auf dem Weg hierher hinter dir durch den Tunnel gefahren. Vielleicht täusche ich mich ja auch.« Sie lockerte ihren Griff, und Baldvin zog seine Hand zurück, so als hätte er es mit einer Aussätzigen zu tun.

»Ja, muss wohl so sein. Ich war jedenfalls woanders.« Er blickte von Dóra zu Vigdís. »Vielen Dank«, sagte er und wandte sich vom Tresen ab. »Nett, dich kennenzulernen«, sagte er zu Dóra und bleckte die Zähne. Ein echter Politiker.

»Gleichfalls«, entgegnete Dóra und lächelte zurück. »Er lügt wie gedruckt«, sagte sie leise zu Matthias, und fragte dann an Vigdís gewandt: »Kannst du dich erinnern, dass er am Sonntag hier war?«

Vigdís schüttelte den Kopf und gähnte. »Nein, ich hab ihn erst zweimal getroffen. An dem Tag, als er seinen Großvater gebracht hat und dann an dem Abend, als wir die Séance hatten.«

Dóra stützte sich auf den Empfangstresen. »Da war er hier?«

»Ja, hab ich doch gesagt. Er kam und hat mit seinem Großvater zu Abend gegessen, und dann sind sie zu der Séance gegangen. Ich glaube, sie haben ziemlich schnell gemerkt, dass das nichts für sie ist — in der Pause waren sie nämlich verschwunden.«

Dóra starrte Matthias mit aufgerissenen Augen an. Er reagierte mit einem Fingerzeig in Vigdís’ Richtung, die offenbar im Begriff war, zu gehen. Dóra sah sofort, worauf Matthias hinauswollte. Vigdís hielt einen Schlüssel in der Hand, der genauso aussah wie der, den sie in der Schublade in Kreppa gefunden hatten. »Ist was?«, fragte Vigdís, irritiert, dass die beiden noch nicht gegangen waren. »Ist was mit dem Zimmer für die Kinder nicht in Ordnung?«

»Äh, nein, nein«, antwortete Dóra und starrte den Schlüssel an. »Dürfte ich wohl mal den Schlüssel da sehen?« Sie zog den anderen Schlüssel heraus. »Ich habe nämlich auch so einen und wüsste gerne, worauf er passt.«

»Das ist der Schlüssel für meinen Mitarbeiterschrank«, sagte Vigdís und reichte ihn Dóra widerwillig. »Wenn du so einen Schlüssel gefunden hast, gehört er vermutlich einem Kollegen. Kommt vor, dass sie verloren gehen.«

Dóra nahm ihn in die Hand und verglich die beiden Schlüssel. Sie waren fast identisch. Sie gab Vigdís ihren Schlüssel zurück.

»Ich glaube, dieser gehört keinem Mitarbeiter«, sagte sie. »Weißt du, ob Birna Zugang zu den Schränken hatte?«

Vigdís dachte nach. »Nicht, dass ich wüsste, ist aber durchaus möglich. Die Schränke sind erst vor kurzem aufgestellt worden. Birna hat sie ausgesucht und bestellt. Vielleicht hat sie einen für sich reserviert.« Sie ging um den Tresen herum. »Kommt mit«, sagte sie und marschierte los. »Es sind nicht sehr viele Schränke, ihr könnt den Schlüssel einfach ausprobieren.«

Dóra und Matthias folgten Vigdís in einen Mitarbeiterraum mit an der Wand aufgereihten Stahlspinden. »Darf ich einfach probieren?«, fragte Dóra mit dem Schlüssel in der Hand.

»Bitte sehr«, antwortete Vigdís. »Nummer sieben kannst du auslassen, das ist meiner.«

Dóra testete die Schlösser. Es dauerte nicht lange, denn der Schlüssel passte zum dritten Schrank. Als er sich im Schloss drehte, hörte sie ein leises Klicken. Vorsichtig packte sie den Stahlgriff und öffnete. Dann holte sie tief Luft, warf Matthias einen Blick zu und spähte in den Schrank. Fast umgehend drehte sie sich wieder um und schaute ihn enttäuscht an. »Leer. So ein Mist.« Sie gab Matthias den Blick frei. Als er sich nicht direkt wieder umdrehte, sondern seinen Kopf tiefer in den Schrank steckte, klopfte sie ihm ungeduldig auf den Rücken. »Was ist denn? Siehst du was?«

»Da klebt was«, tönte seine Stimme dumpf aus dem Stahlschrank. »Habt ihr eine Pinzette?«, fragte er, als er sich wieder aufrichtete. »Falls dieser Zettel wichtig ist, sollten wir keine Fingerabdrücke darauf hinterlassen.«

Dóra schaute zu Vigdís. »Gibt’s hier einen Verbandskasten?« Sie steckte ihren Kopf in den Schrank und sah ein kleines weißes Viereck, das mit Klebeband an der Decke befestigt war. Die Ränder des Papiers waren nicht gerade, sondern leicht gezackt. »Was ist das bloß?« Sie nahm die Pinzette von Vigdís entgegen. Matthias und Vigdís beobachteten, wie Dóra versuchte, das Klebeband zu lösen, sahen aber nicht viel mehr als ihren Rücken.

»Bingo!«, rief Dóra und kletterte mit dem weißen Viereck in der Pinzette aus dem Schrank, »ein Foto!« Sie drehte das Foto um. »Oh!«, war das Einzige, was sie sagen konnte. Dann zeigte sie Vigdís und Matthias das Bild.

»Oh mein Gott!«, stieß Vigdís hervor. »Baldvin Baldvinsson! Ich wusste gar nicht, dass er Neonazi ist.«

»Das ist nicht Baldvin«, erklärte Dóra und legte das Foto auf den Küchentisch. »Es ist sein Großvater Magnús. Ein verdammt altes Bild.«

»Wie ähnlich sie sich sehen!«, rief Vigdís. »Ich hätte das Foto weggeschmissen, wenn ich Magnús wäre. Oder Baldvin.«

»Ob sie die Gelegenheit dazu hatten?«, meinte Dóra. Sie drehte sich zu Vigdís. »Bitte sprich mit niemandem darüber, okay?«

»Himmel, nein«, entgegnete Vigdís. »Das tue ich nicht.« In ihrem Kopf hatte sie bereits die Telefonnummer ihrer Freundin Gulla abgespult und überlegt, wann Kata morgen früh in den Kosmetiksalon kommen würde. Denen konnte man selbstverständlich vertrauen. Das wusste ja jeder, dass die besten Freundinnen nicht unter die Bezeichnung »niemand« fielen. Sie trat an ihren Schrank, holte ihre Handtasche heraus und machte sich wieder auf den Weg zur Rezeption. Als sie an Matthias vorbeikam, legte sie ihm die Hand auf die Schulter und sagte freundlich, in Island seien alle aufgeklärt und er müsse sich keine Sorgen über Vorurteile machen. Matthias schaute ihr verwundert hinterher.

»Was meinte sie damit?«, fragte er Dóra befremdet.

Dóra wurde schlagartig klar, dass es um das Schweigegelübde der Sexberaterin lange nicht so gut bestellt war, wie Stefanía hatte durchblicken lassen. Dóra zuckte die Schultern. »Die sind hier alle etwas merkwürdig«, sagte sie, machte ein unschuldiges Gesicht und lächelte verhalten. »Ich sollte jetzt Sóley ins Bett bringen. Wie es aussieht, gehe ich bestimmt noch nicht schlafen.«


»Es passt alles zusammen.« Dóra saß wieder an Jónas’ Computer, wo sie die Ergebnisse der Suche nach Baldvin Baldvinsson hinunterscrollte. Sie öffnete einige Links, aber das meiste davon war unerheblich.

»Inwiefern?«, fragte Matthias. »Okay, das Foto im Schrank lässt darauf schließen, dass Birna verhindern wollte, dass jemand es findet. Aber der Einzige, der davon profitieren würde, das Foto in die Hände zu bekommen, ist Magnús, und der ist zu alt, um jemanden umzubringen. Und warum sollte er Birna ermorden, selbst wenn er wüsste, dass sie das Foto hat.«

»Ich glaube nicht, dass er der Einzige ist«, erwiderte Dóra. »Sein Enkel Baldvin hat viel mehr zu verlieren. Hier steht, bald sind Testwahlen für die Parlamentswahlen im Frühjahr, und neulich haben sie in einem Zeitungsartikel erörtert, wie ähnlich er seinem Großvater in Worten und Taten sei. Und dann ein Foto des Großvaters in Naziuniform, das ebenso gut Baldvin zeigen könnte …« Sie schaute vom Bildschirm zu Matthias. »Mensch, der Mann fährt mit einem Wagen mit dem Kennzeichen VERITAS durch die Gegend, da kannst du dir doch denken, welches Bild er den Leuten von sich vermitteln will. Da passen Nazis nicht besonders gut rein. Sein schneller Aufstieg in der Politik lässt sich ein Stück weit durch die Popularität seines Großvaters erklären. Wenn der Alte sein Ansehen verliert, überträgt sich das auf Baldvin, selbst wenn der damals noch nicht mal als Samenzelle existiert hat.«

»Aber was hatte Birna vor?«, fragte Matthias. »Warum hat sie das Foto nicht einfach aus der Hand gegeben? Wollte sie die beiden erpressen? Sie scheinen nicht übermäßig wohlhabend zu sein. Der VERITAS-Wagen ist ein alter Jeep.«

»Als sie das Bild entdeckt hat — vermutlich in dem alten Album im Keller, in dem ein Foto fehlte —, wollte sie es sich vielleicht nur genauer anschauen und hat es deshalb rausgenommen. Natürlich hat sie einen Schreck gekriegt; es handelt sich schließlich um ein bekanntes Gesicht. Dann ist ihr wahrscheinlich auf einmal klar geworden, dass sie etwas gefunden hatte, was sie für sich nutzen konnte, aber ich habe den dumpfen Verdacht, dass sie etwas anderes als Geld von den beiden wollte«, sagte Dóra und klickte auf einen weiteren Link. Sie las eine Weile und schaute dann auf. »Das ist interessant. Baldvin sitzt als städtischer Vertreter in einer Jury für den geplanten Busbahnhof am Öskjuhlíð.« Sie wandte ihren Blick vom Bildschirm ab. »Erinnerst du dich an die Zeichnung mit dem Glasgebäude an der Wand in Kreppa? Es gibt in Island nicht viele bewaldete Stellen. Eine davon ist der Hügel Öskjuhlíð. Auf dem Entwurf waren Busse.« Sie gestikulierte mit den Händen. »Anscheinend wollte sie unbedingt diesen Auftrag haben. Das würde auch das Telefonat mit Baldvin erklären.«

Matthias war skeptisch. »Willst du damit sagen, sie wollte ihn unter Druck setzen, damit er die Jury dazu überredet, ihr den Auftrag zu geben?« Er schüttelte den Kopf. »Da würde ich aber ein großes Fragezeichen hintersetzen.«

»Für einen isländischen Architekten ist ein solcher Auftrag wie ein Lottogewinn«, erklärte Dóra. »Es handelt sich um ein großes Gebäude an einer vielbefahrenen Straße; wer es entwerfen darf, wird auf einen Schlag bekannt. Und kriegt anschließend einen Auftrag nach dem anderen. So läuft das bei uns und anderswo wahrscheinlich auch.«

»Aber wie kann ein einzelner Mann in einer kompletten Jury die Entscheidung fällen?«, fragte Matthias. »Die anderen haben doch auch etwas zu sagen.«

»Klar«, entgegnete Dóra, »aber er hat Zugang zu Informationen, die den Bewerbern nicht vorliegen, und er könnte die anderen Jurymitglieder befragen, worauf sie am meisten Wert legen. Auch wenn bei solchen Ausschreibungen alle Anforderungen vorliegen sollten, wird sehr oft die Bewerbung ausgewählt, die ein kleines bisschen vom ursprünglich gesetzten Rahmen abweicht. Wenn der Architekt zum Beispiel weiß, dass die Jury im Grunde ein größeres Gebäude bevorzugt, als ausgeschrieben war …«, Dóra zuckte die Achseln, »… dann hat er einen gewissen Vorteil. Außerdem bin ich mir sicher, dass Baldvin eine große Überzeugungskraft besitzt.«

»Und was willst du jetzt tun?«, fragte Matthias. »Das ist ja wohl kaum schon wasserdicht genug, um den Mord an Eiríkur zu erklären.«

»Erinnerst du dich an Baldvins E-Mail-Adresse in Birnas Notizbuch?«

»Ja«, antwortete Matthias. »Willst du ihm eine Mail schicken?«

»Nein. Ich würde gerne einen kleinen Test machen.« Sie reckte sich nach dem Telefon. »Ich bitte die Polizei, in Birnas Computer nach Mails an Baldvin zu suchen. Sie müssen den Computer haben, und es ist keinesfalls gesagt, dass sie den Mails sonderlich viel Beachtung geschenkt haben.«

Sie ließ sich mit þórólfur Kjartansson verbinden und pfiff das alberne Lied mit, das in der Warteschleife leierte. Nach einer ganzen Weile verstummte es, und þórólfurs müde Stimme sagte: »Ja?«


Dóra lag, ihre kleine Tochter im Arm, auf dem Bett. Sie hatte das fest schlafende Kind aus Gylfis und Siggas Zimmer herübergetragen, in erster Linie aus Sorge, Sigga könnte vor Sóleys Augen das Baby zur Welt bringen. Matthias hatte sich ohne langes Murren in sein eigenes Zimmer zurückgezogen. Er verstand ihre Lage und beklagte sich überhaupt nicht darüber. Dóra war ihm unendlich dankbar, denn sie musste über einiges nachdenken. Sie hatte Angst vor dem morgigen Tag. Sie fürchtete, þórólfur würde nicht anbeißen, und sie könnte nicht viel mehr für Jónas tun als eine routinemäßige Verteidigung. Eine deprimierende Vorstellung.

Aber sie hatte noch mehr Sorgen. Wenn Magnús und Baldvin Birna ermordet hatten, gab es keinen einzigen Hinweis, warum sie auch Eiríkur etwas hätten antun sollen und wie sie mit ihm in Verbindung standen. Vielleicht war er Birnas Komplize? Welchen Zweck hatte dann der Fuchs, und was bedeutete RER? Falls die Buchstaben überhaupt eine Rolle spielten.

Zu guter Letzt plagte sie die Sache mit Kristín. Sie hatte herausgefunden, dass sie Guðný Bjarnadóttirs Tochter war, aber gleichzeitig schien sie nichts mit dem Fall zu tun zu haben. Dóra gingen noch mehr Dinge durch den Kopf, aber sie war zu müde, um sich darauf zu konzentrieren, und schon bald vermischte sich alles zu einem Wirrwarr: Kohle, Wände, Pferde, Kaufverträge, Verjährungen, Beinbrüche …

Sie schreckte aus ihren traumähnlichen Grübeleien hoch, als sie Kinderweinen hörte. Konfus schob sie den Kopf ihrer schlafenden Tochter von ihrem Arm und setzte sich auf. Das Geräusch ertönte erneut. Sie stieg aus dem Bett und trat ans Fenster, konnte aber in der Dämmerung nichts erkennen. Abermals erklang, irgendwo da draußen, das seltsame Weinen. Genauso plötzlich, wie es eingesetzt hatte, hörte es wieder auf. Dóra schloss das Fenster und zog die Gardinen sorgfältig zu, damit man auch ganz bestimmt nicht hinausschauen konnte. Ein noch feuchter Säugling, der sich in ein blutiges Tuch gehüllt mit einem Arm über den Erdboden zog, schien auf einmal kein so irrealer Anblick mehr zu sein, obwohl sie Matthias damit aufgezogen hatte. Dóra schlüpfte wieder zu ihrer Tochter ins Bett, entschlossen, keinem Menschen davon zu erzählen. Sie musste sich das alles eingebildet haben. Durch das geschlossene Fenster hörte sie undeutlich, wie das erbärmliche Heulen aufs Neue einsetzte.

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