Nachdem Dóra rasch ihre Klamotten übergestreift hatte, ging sie sofort zur Rezeption; sie hoffte auf weitere Informationen über den Leichenfund. Auf dem Weg nach draußen sah sie, dass die Masseurin in der Hektik ihren Schlüsselbund vergessen hatte. Dóra beschloss, ihn vorne abzugeben.
Im Foyer war die Masseurin nirgends zu sehen. Eine junge Frau beugte sich über den Tresen, in ein leises Gespräch mit ihrer Freundin an der Rezeption vertieft. Sie war furchtbar dünn, und der kurze schneeweiße Kittel, den sie über einer Hose im selben Stil trug, betonte ihre Figur noch mehr. Dóra stellte sich neben sie und lächelte den beiden zu, in der Hoffnung, mitreden zu dürfen. Die Reaktion der beiden Frauen war alles andere als entgegenkommend. Ihre Gesichter nahmen einen widerwilligen Ausdruck an, aber sie schafften es in Sekundenschnelle, ihn zu überspielen und zurückzulächeln. Dóra tat so, als betrachte sie das Plakat mit der Ankündigung einer spiritistischen Sitzung, die am vergangenen Abend mit einem bekannten Medium aus Reykjavík abgehalten worden war. Dann drehte sie sich zu den Frauen und lächelte.
»Hi«, sagte Dóra, um das Eis zu brechen. Ihre Neugier war so groß, dass sie den Vorwand mit dem Schlüsselbund vergessen hatte. »Ich hab gehört, am Strand wurde eine Leiche gefunden.«
Die Frauen wechselten einen Blick und verständigten sich darüber, Dóra einzuweihen. Die Dünne drehte sich zu ihr. »Entsetzlich«, sagte sie theatralisch und riss die Augen auf. »Weißt du schon, dass die Polizei hier ist?« Sie nahm ihre Ellbogen vom Tresen und reichte Dóra die Hand. »Ich heiße Kata und arbeite hier als Kosmetikerin.« Ihre weißen Zähne blitzten.
Dóra schlug ein und wunderte sich über den festen Händedruck dieser schlanken Frau. »Dóra — ich recherchiere etwas für Jónas. Ich bin kein richtiger Gast.«
Die Frau an der Rezeption nickte. »Ach ja, er hat mir davon erzählt. Ich heiße Vigdís, Empfangschefin. Du bist doch so eine Rechtsanwältin, oder?«
Ohne sich im Klaren darüber zu sein, was »so eine« in diesem Zusammenhang bedeuten sollte, nickte Dóra. »Stimmt genau.« Sie schaute sich um und sah durch die große Glastür im Foyer, dass draußen ein Streifenwagen stand. »Wo sind die Polizisten denn?«
Vigdís zeigte nach rechts und senkte verschwörerisch ihre Stimme, obwohl niemand in der Nähe war. »Sie wollten mit Jónas sprechen.« Sie lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und hob nachdrücklich die Brauen. »Er hat sich gar nicht gewundert, als ich ihm das mitgeteilt habe.«
»Was hat die Polizei denn eigentlich gesagt?«, fragte Dóra. »Vielleicht war ihm nicht klar, worum es ging.«
Vigdís errötete leicht. »Äh, nein, nein«, sagte sie zögernd. »Sie haben mir gar nichts gesagt, nur nach Jónas gefragt.«
»Woher weißt du denn dann, dass es um eine Leiche geht?«, fragte Kata, die Kosmetikerin, die offensichtlich nicht eingeweiht war.
Die Röte auf Vigdís’ Wangen verstärkte sich. »Ich hab gehört, wie sie’s gesagt haben. Ich musste sie zu Jónas’ Büro begleiten, und dann haben sie sich vorgestellt und ihm erklärt, worum’s geht.«
Dóra war sich hundertprozentig sicher, dass die Frau an der Tür gelauscht hatte. »Haben sie was darüber gesagt, wie der Betreffende gestorben ist?«, fragte sie. »Wurde die Leiche an Land gespült?«
»Und ist es eine Frau oder ein Mann?«, warf die Kosmetikerin ein. »Haben sie das erwähnt?«
»Es ist wohl eine Frau«, antwortete Vigdís. Die Röte verflüchtigte sich langsam. Offensichtlich genoss sie es, über begehrte Informationen zu verfügen, und als sie weiterredete, zog sie jedes Wort in die Länge, um die Situation auszukosten. »Sie haben nicht direkt über die Todesursache gesprochen, aber ich könnte schwören, sie haben angedeutet, dass es sich um einen unnatürlichen Tod handelt.« Sie atmete dramatisch durch die Nase. Kata schlug sich die Hand vor den Mund; die übertriebene Show hatte offenbar ihren Zweck erfüllt.
»Wurde die Leiche hier bei euch am Strand gefunden?«, fragte Dóra.
Vigdís nickte langsam und zeigte zu einem Fenster mit Blick aufs offene Meer. »Ich weiß es nicht genau, aber es muss hier in der Nähe gewesen sein. Irgendwo da unten.« Dóra und Kata schauten aus dem Fenster. Es war relativ gutes Wetter und immer noch taghell, obwohl es schon recht spät war. Der eigentliche Strand war nicht zu sehen, da es einen Höhenunterschied zwischen der Wiese vor dem Fenster und dem Meer gab.
»Es kann ja wohl kaum direkt da unten gewesen sein«, meinte Dóra und wandte sich wieder vom Fenster ab. »Ihr hättet doch gemerkt, wenn die Polizei da mit irgendwelchen Geräten herumhantiert hätte.«
Vigdís zuckte die Achseln. »Zu dem alten Hof gehört ziemlich viel Land, und der Strand ist von hier überhaupt nicht komplett einsehbar. Das hängt vor allem mit der Landspitze da zusammen.« Sie zeigte durch das Fenster auf eine Anhöhe. »Das Gelände reicht auf der anderen Seite der Anhöhe weit nach Westen; das können wir von hier gar nicht sehen. Außerdem gibt es noch eine zweite Möglichkeit, da runterzufahren.«
Dóra und Kata starrten zu der Anhöhe, als wollten sie durch sie hindurchsehen. Dann nickte Dóra langsam. »Gab es hier nicht ursprünglich zwei Höfe?« Vigdís zuckte mit den Schultern. Dóra redete weiter: »Wenn ich mich recht erinnere, handelte es sich um zwei Höfe, die Besitzer waren zwei Brüder, aber der eine ist kinderlos verstorben, weshalb sein Land an den anderen überging. Der hat die Höfe dann zusammengefügt. Das würde den zweiten Zufahrtsweg erklären. Meistens gibt es ja zu jedem Grundstück nur eine Zufahrt. Die Grundstücksgrenze lag bestimmt bei dem Hügel da hinten.« Sie schaute auf und merkte, dass keine der beiden Frauen sich auch nur einen Deut dafür interessierte.
»Bestimmt«, sagte Kata und wandte sich rasch wieder ihrer Freundin zu. »Aber wer ist es? Haben die Polizisten darüber was gesagt?«
»Ich glaube, sie haben keinen blassen Schimmer. Als sie gekommen sind, haben sie mich nämlich gefragt, wie viele Gäste im Hotel sind und ob jemand vermisst wird.« Sie warf ihrer Gesprächspartnerin einen verschwörerischen Blick zu. »Ich hab gesagt, was ich sagen konnte — dass ich keine Ahnung habe. Das ist ein Hotel und kein Gefängnis.« Dann wandte sie sich an Dóra: »Die Gäste können ihre Schlüssel mitnehmen. Sie hinterlegen sie nicht bei mir. Es ist also reiner Zufall, wenn ich erfahre, wo sie sind. Sie erzählen mir das nur selten. Eigentlich nur, wenn sie wissen wollen, wo man am besten spazieren gehen kann.«
»Es ist bestimmt die Frau von dem versoffenen Ehepaar in Zimmer 18. Die haben sich seit zwei Tagen nicht blicken lassen«, ereiferte sich Kata.
Vigdís schüttelte den Kopf. »Nein, die Küche hat ihnen eben noch Essen bringen lassen. Und Getränke.« Die Betonung lag auf dem letzten Wort. »Die Frau hat angerufen und nach dem Zimmerservice gefragt. Sie meinte, sie seien krank und hätten den ganzen Tag geschlafen.«
Kata schnaubte. »Krank, pah! Die waren entweder noch verkatert oder schon wieder betrunken.«
Dóra merkte, dass von den beiden Frauen nicht viel mehr zu erfahren war. Sie hatte kein Interesse daran, über andere Leute herzuziehen. Vor allem nicht über Leute, die sie überhaupt nicht kannte. Also beschloss sie, sich zu verabschieden, steckte die Hand in ihre Tasche und zog den Schlüsselbund heraus. »Diese Schlüssel hat meine Masseurin vergessen.« Dóra hielt ihnen den Schlüsselbund mit einem Messingplättchen mit der isländischen Fahne hin.
»Du meinst Sibba«, entgegnete Vigdís und reckte sich über den Tresen nach dem Schlüsselbund. »Die ist manchmal total vergesslich.« Ihr Blick fiel auf einen Plastikanhänger an dem volkstümlichen Schlüsselbund. »Himmel, das ist sogar der Generalschlüssel. Die ist wirklich …« Sie erfuhren nicht, worauf sich dieses »wirklich« bezog, denn das Telefon klingelte und Vigdís drehte sich zum Apparat.
Dóra nahm die Schlüssel schnell wieder an sich und schaute zu Kata. »Ich bringe ihr die Schlüssel einfach selbst zurück. Ich hab vergessen, einen neuen Termin auszumachen, deshalb muss ich sowieso nochmal mit ihr sprechen.« Sie lächelte die junge Frau unschuldig an. »Weißt du vielleicht, wo sie sein könnte?«
Die Kosmetikerin zuckte die Achseln. »Vielleicht in der Kaffeestube.« Sie zeigte zu einem nach rechts führenden Gang. »Neben der Küche.«
Dóra bedankte sich bei ihr: »Und weißt du zufällig, in welchem Zimmer Birna wohnt? Die Architektin? Ich wollte ihr kurz hallo sagen.«
Kata schüttelte den Kopf und reckte sich nach einem Buch hinter dem Tresen. Vigdís telefonierte immer noch und kümmerte sich nicht um die beiden. »Birna, Birna …« Gepflegte Finger mit langen, weißlackierten Fingernägeln strichen über die Seite. »Ah, hier ist es.« Sie schlug das Buch wieder zu. »Zimmer 5. Daran kommst du vorbei. Sie muss hier sein; ihr Auto steht auf dem Parkplatz. Ziemlich schicker Wagen.«
»Oh, toll«, sagte Dóra, die sich für Autos nicht besonders interessierte. »Vielen Dank. Vielleicht schaue ich morgen mal bei dir im Kosmetiksalon vorbei. Ich könnte mir mal wieder die Augenbrauen zupfen lassen.« Die junge Frau nickte beflissen, eigentlich etwas zu eifrig, fand Dóra.
Auf dem Weg durch den Flur schossen ihr verschiedene Gedanken durch den Kopf. Was zum Teufel dachte sie sich nur dabei? Sie konnte schließlich nicht davon ausgehen, dass die tote Frau die Architektin war, über deren Verschwinden Jónas geklagt hatte. Aller Wahrscheinlichkeit nach handelte es sich um eine ganz andere Frau. Und wenn es doch diese Birna wäre? Das rechtfertigte noch lange nicht, in ihrem Zimmer herumzuschnüffeln. Dóra überlegte weiter, doch je näher sie Zimmer 5 kam, desto entschlossener war sie, einen Blick hineinzuwerfen, wahrscheinlich die letzte Gelegenheit, denn falls an Birnas Tod etwas verdächtig war, würde die Polizei es versiegeln. Sie versuchte, sich selbst einzureden, dass sie als Jónas’ Anwältin diese Gelegenheit beim Schopf packen musste. Vielleicht stand er unter Verdacht? Sie würde nur ganz kurz den Kopf hineinstecken und sich umschauen. Mehr nicht.
Vor der Zimmertür blieb Dóra stehen. Sie warf einen schnellen Blick über ihre Schulter und sah, dass die Frauen an der Rezeption ins Gespräch vertieft waren und nicht zu ihr hinübersahen. Sie steckte die Plastikkarte ins Schloss, öffnete die Tür und huschte hinein.
Jónas versuchte, sich so zu verhalten, wie es ein unschuldiger Hoteldirektor vermutlich tun würde, merkte aber, dass ihm diese Rolle ziemlich schwerfiel. Er hatte die Polizei noch nie ausstehen können, und das schien auf Gegenseitigkeit zu beruhen, wie selten sich ihre Wege auch kreuzten. Diese Polizisten verstanden es besonders gut, ihm direkt in die Augen zu schauen, während sie ihn ausfragten, und Jónas hatte den Eindruck, als hätten sie einen Lehrgang absolviert, wie man den Leuten den Wahrheitsgehalt ihrer Antworten aus den Bewegungen ihrer Pupillen ablesen kann. Für einen Unschuldigen blinzelte er viel zu oft. Das würde sich bestimmt nicht gut machen. Er räusperte sich. »Wie gesagt, diese Beschreibung könnte auf Birna, die Architektin, zutreffen, aber sie ist viel zu allgemein, als dass man das mit Sicherheit sagen könnte. Hatte die Frau keinen Ausweis bei sich, eine Geldbörse oder so?« Er reckte sich zum Fenster. »Findet ihr es nicht warm hier drin? Soll ich das Fenster aufmachen?« Jónas fürchtete, Schweiß könne ihm über die Stirn laufen.
Die Beamten wechselten einen Blick. Ihnen schien es nicht zu heiß zu sein, obwohl sie volle Kriegsmontur trugen, schwarze Uniformen mit goldverzierten Schulterbändern. Sie hatten ihre Jacken nicht ausgezogen, obwohl diese zweifellos warm waren, hielten jedoch ihre Polizeimützen in den Händen. Sie reagierten nicht auf Jónas’ Bemerkungen, sondern fragten einfach weiter. »Wann hast du diese Birna zuletzt gesehen?«
»Tja, ich weiß nicht genau«, antwortete Jónas und versuchte, sich zu erinnern. »Gestern war sie auf jeden Fall hier. Das ist klar«
»Du hast sie also gestern getroffen?«, fragte der Jüngere. Er sah streng aus. Jónas kam mit dem Älteren besser klar; er schien wesentlich umgänglicher zu sein.
»Hä?«, fragte Jónas plump, fügte dann aber hastig hinzu: »Äh, ja. Ich hab sie getroffen. Sogar mehrmals. Sie war mit Vorschlägen für einen Anbau beschäftigt, der hier entstehen soll, und kam öfter zu mir, um mir verschiedene Details zu zeigen.«
Die Polizeibeamten nickten im Takt. Der Ältere nagte eine Weile an der Innenseite seiner Wange und fragte dann: »Und heute? War sie heute auch bei dir?«
Jónas schüttelte energisch den Kopf. »Nein. Ganz sicher nicht. Heute Morgen wollten wir uns treffen, aber sie ist nicht gekommen. Ich hab nach ihr gesucht, sie aber nirgendwo gesehen. Hab mehrmals versucht, sie auf dem Handy anzurufen, das war aber ausgeschaltet. Da war nur die Mailbox.«
»Was für ein Handy hatte sie? Kannst du es beschreiben?«, fragte der jüngere Mann.
Jónas musste nicht lange nachdenken. Birnas Handy war sehr auffällig. Er hatte sie oft damit gesehen. »Es ist feuerrot, so eins zum Aufklappen. Glänzend. Ziemlich klein. Ich weiß allerdings nicht, von welcher Marke. Auf dem Deckel war ein großes silbernes Friedenszeichen, aber ich glaube, das ist nicht die Marke, sondern nur eine Verzierung.« Die Beamten tauschten einen schnellen Blick und standen gleichzeitig auf. Jónas blieb sitzen. Er fühlte sich etwas sicherer, weil er endlich ohne Stocken eine Frage beantworten konnte. »Diese Frau, die gefunden wurde … war das … ein Unfall?«
Keiner der Beamten antwortete. »Würdest du uns bitte zu Birna Halldórsdóttirs Zimmer begleiten?«
Dóra schaute sich ein letztes Mal in Birnas Zimmer um. Sie hatte nichts Interessantes entdeckt. Es war zweifelsohne anders als die anderen Hotelzimmer, da die Architektin sich offenbar für einen längeren Aufenthalt eingerichtet hatte. Mit Haftgummi hatte sie Gebäudeskizzen an der Wand befestigt, offenbar Vorschläge für das neue Gebäude, von dessen Planung Jónas erzählt hatte. Auf den Zeichnungen standen alle möglichen Anmerkungen, einige auch für Laien verständlich, andere nicht. An den Rändern einiger Skizzen waren Berechnungen mit rot unterstrichenen Ergebnissen, ziemlich hohe Zahlen, und Dóra hoffte für Jónas, dass es sich nicht um die groben Kostenvoranschläge handelte.
Den Kleiderschrank hatte Dóra mehr aus Neugier geöffnet, sie rechnete nicht damit, dort etwas Bemerkenswertes zu finden. Sie hatte einen Bleistift durch den Türgriff gesteckt, da sie keine Fingerabdrücke hinterlassen wollte. Sie hätte es ebenso gut bleibenlassen können, denn der Kleiderschrank sagte ihr nicht viel mehr, als dass Birna sehr ordentlich war. Es gab nicht viele Kleidungsstücke; Blusen, schickere Hosen und Jacketts hingen auf Bügeln, die anderen Sachen waren sorgfältig in die Regale einsortiert. Die Frau musste in einer Modeboutique gearbeitet haben, so hübsch war alles zusammengelegt. Birna hatte einen guten Geschmack, die Sachen waren dezent, aber geschmackvoll und schienen eines gemeinsam zu haben: Sie waren teuer. Dóra versuchte, das Markenzeichen am Kragen eines zuoberst liegenden Pullovers zu erspähen, konnte es aber nicht lesen. Sie schloss den Schrank und ging zu dem Telefon, das auf einem der Nachttische stand. Probeweise drückte sie mit dem Fingernagel auf die Taste für die zuletzt gewählten Nummern. Von dem Notizblock neben dem Telefon riss sie ein leeres Blatt und notierte die Nummern. Es waren drei. Sie faltete das Blatt zusammen und steckte es in die Hosentasche.
Dann ließ sie ihren Blick durchs Zimmer schweifen, sah jedoch nichts, was sie näher hätte begutachten wollen, bis auf die Schreibtischschublade. Die Papiere auf dem Schreibtisch hatte sie leicht angehoben, was sie aber auch nicht weitergebracht hatte, überwiegend Prospekte aller möglichen Hersteller unterschiedlicher Baumaterialien. Dóra schob den Schreibtischstuhl mit dem Fuß beiseite, um an die Schublade zu gelangen. Jetzt benötigte sie ihre Hände, denn an der Schublade war kein Griff. Sie zog ihren Ärmel über die rechte Hand und öffnete die Schublade, indem sie von unten dagegendrückte. Darin befanden sich zwei Bücher, das Neue Testament und ein in Leder gebundener Terminkalender mit der Aufschrift Birna. Endlich etwas Brauchbares. Dóra fischte ihn aus der Lade. Sie wedelt einmal kurz mit dem Arm, sodass der Kalender aufschlug. Bingo. Dóra lächelte, was ihr jedoch sofort wieder verging. Draußen vom Gang waren Geräusche zu hören; sie schienen direkt vor der Tür zu sein. Dóra saß in der Falle. Es gab nicht viele Möglichkeiten, sie musste raus. Sie hätte auf keinen Fall erklären können, was sie in dem Zimmer zu suchen hatte — es fiel ihr sogar schwer, sich das selbst zu erklären. Sie hechtete zu den bodenlangen Gardinen und betete zu Gott, dass die Zimmer alle gleich wären. Glücklicherweise war es so. Zitternd entriegelte sie das Schloss der Terrassentür und sprang nach draußen. Dann lehnte sie die Tür so vorsichtig wie möglich an und ging mit schnellen Schritten davon.
Als sie an der Hausecke angekommen war, atmete Dóra tief durch. Ihr Herz hämmerte in der Brust. Was hatte sie sich nur dabei gedacht? Verdammt, das war knapp. Sie war sich sicher, Türöffnen gehört zu haben, im selben Augenblick, als sie hinausschlüpfte. Sie atmete noch einmal tief ein. Ihr Herzschlag verlangsamte sich wieder … — die Schreibtischschublade! Sie hatte sie offen stehen lassen. Sie versuchte, sich zu beruhigen. Na und? Natürlich würde jeder glauben, Birna hätte sie so hinterlassen. Im selben Moment zuckte sie zusammen — sie erblickte den Kalender in ihrer Hand mit der Aufschrift Birna Halldórsdóttir, Mitglied im Isländischen Architektenverein.