Dóra stieß Matthias mit dem Ellbogen an und deutete auf einen jungen Mann, der gerade an ihnen vorbeiging. »Das ist der Kellner, dieser Jökull, der so schlecht über Birna geredet hat«, sagte sie leise und stand auf. »Der weiß bestimmt was.« Sie saßen mit ihren Kaffeetassen in einer Nische neben der Hotellobby und diskutierten die anstehenden Schritte — ergebnislos, außer, dass sie Birnas Liebhaber kennenlernen wollten: Bergur, den Bauern von Tunga. Es war ihnen jedoch schleierhaft, unter welchem Vorwand sie ihn aufsuchen sollten, und Dóra hatte genug von den Grübeleien. Daher war sie froh über das Auftauchen des Kellners und ging ihm mit schnellen Schritten hinterher. Er steuerte auf den Speisesaal zu. Bevor er ihn erreicht hatte, tippte ihm Dóra auf die Schulter. »Hallo«, sagte sie und lächelte. »Erinnerst du dich an mich?«
Der junge Mann drehte sich verwundert um. »Äh, ja, doch. Du bist doch die Anwältin?«
»Genau, ich heiße Dóra. Hast du vielleicht fünf Minuten Zeit? Ich würde dich gerne noch etwas über Birna fragen.«
Der Kellner schaute auf seine Armbanduhr. »Ja, von mir aus. Ich weiß allerdings nicht viel. Ich hab dir meine Meinung über sie ja schon gesagt.«
»Man weiß ja nie«, entgegnete Dóra. »Sollen wir uns setzen?« Sie zeigte auf eine Sofaecke im Flur, die dort nur zu Dekorationszwecken stand. Wahrscheinlich wird sie jetzt zum ersten Mal benutzt, dachte Dóra und nahm Platz. Sie klopfte auf den Sessel neben sich. Eine kleine Staubwolke wirbelte aus dem Polster hoch. »Woher kanntest du sie? Nur aus dem Speisesaal?«
Der Kellner setzte sich auf die Sesselkante. »Hier arbeiten so wenige, dass man nicht darum herumkommt, sich ein bisschen kennenzulernen. Ich arbeite allerdings noch nicht lange hier und bin ihr außerdem aus dem Weg gegangen, darum sind wir uns nicht sehr nahe gekommen. Da sprichst du besser mit den anderen.«
Dóra runzelte die Stirn. »Ich verstehe nicht ganz, warum du dir eine so klare Meinung über sie gebildet hast, wenn du sie so gut wie gar nicht kanntest. Eine sehr klare und negative Meinung. Dafür muss es doch einen Grund geben.«
Das Gesicht des Kellners verdunkelte sich. »Ich bin eben Menschenkenner«, sagte er ohne weitere Erklärungen.
Dóra beschloss, ihre Fragen in eine harmlosere Richtung zu lenken. »Du heißt doch Jökull, nicht wahr?«
»Ja«, antwortete Jökull, immer noch zurückhaltend. »Jökull Guðmundsson.«
»Passt ja gut zu dem Ort hier: Jökull — Gletscher«, sagte Dóra freundlich und lächelte ihm zu. »Stammst du hier aus der Gegend?«
»Ja, allerdings«, antwortete Jökull, »ich bin auf einem Hof in der Nähe aufgewachsen. Bin dann nach Reykjavík gegangen, um Kellner zu lernen, und da hängengeblieben. Als Jónas nach Mitarbeitern inseriert hat, hab ich die Gelegenheit genutzt, wieder herzuziehen.«
»Kann ich gut verstehen«, sagte Dóra, »es ist wunderschön hier, und ich kann mir vorstellen, dass es einen wieder zurückzieht, wenn man mal hier gelebt hat.«
»Ja, es ist ganz anders als in Reykjavík«, antwortete Jökull und lächelte zum ersten Mal.
»Und kennst du dich mit der Geschichte der Gegend aus?«, fragte Dóra. »Weißt du vielleicht etwas über den Spuk, den es angeblich hier auf dem Hof geben soll?«
Jökull machte wieder ein abweisendes Gesicht. »Ich hab keine Lust, mit Leuten aus der Stadt über Geister zu reden«, sagte er. »Ihr versteht das nicht. Sobald ihr keine Asphaltstraßen mehr seht, bringt ihr alles durcheinander und macht euch über alles lustig.«
Dóra hob die Brauen. »Ich wollte mich nicht lustig machen. Ich arbeite an einem Auftrag für Jónas, bei dem es um Geister geht. Das ist alles. Jede Information darüber ist sehr hilfreich für mich.«
»Kann ja sein.« Jökull war skeptisch. »Aber die musst du dir woanders besorgen. Ich bin kein Spezialist für Geistergeschichten, auch wenn ich welche kenne, und ich glaube, die Welt ist komplizierter, als die Reykjavíker meinen.«
»Weißt du denn zum Beispiel etwas über die Leute, die hier gewohnt haben?«
Jökull schüttelte den Kopf. »Nein, gar nichts. Ich bin zu jung, um mich für die alten Geschichten zu interessieren.«
Da ist was dran, dachte Dóra und nahm sich vor, ältere Leute aus der Gegend ausfindig zu machen. »Hast du denn noch Verwandte hier?«
»Eine Schwester.«
»Dann sind deine Eltern in die Stadt gezogen?«
»Nein, sie sind tot«, antwortete Jökull noch abweisender als zuvor.
»Oh«, sagte Dóra, traute sich aber nicht, weiter nachzufragen. »Bitte entschuldige meine fixe Idee mit der Vergangenheit, aber weißt du, ob es hier mal eine Nazigruppierung oder so was gegeben hat?«
Jökull riss die Augen auf, und Dóra nahm ihm seine spontane Antwort ab: »Nee, daran könnte ich mich mit Sicherheit erinnern. Das ist bestimmt Quatsch.«
»Ja, wird wohl so sein«, entgegnete Dóra. »Aber weil du ja hier aus der Gegend kommst, kannst du mir bestimmt eine Sache erklären.«
»Was?«, fragte Jökull misstrauisch.
»Ich habe heute einen jungen Mann getroffen, der offenbar von hier stammt. Ich weiß nicht, wie alt er ist, aber er könnte in deinem Alter sein. Er saß im Rollstuhl und war schwerverletzt, wahrscheinlich Verbrennungen. Weißt du, was ihm zugestoßen ist?«
Jökull stand ohne ein Wort zu sagen auf. »Ich muss weiterarbeiten. Die fünf Minuten sind schon lange um.« Er presste die Lippen zusammen, wie um zu verhindern, dass sein Mund von alleine zu plappern beginnt.
»Du kennst ihn also nicht?«, fragte Dóra und stand ebenfalls auf.
»Ich muss mich beeilen. Tschüs«, sagte Jökull und drehte sich auf dem Fuß um. Dóra schaute ihm nachdenklich hinterher. Anscheinend hatte sie einen wunden Punkt getroffen.
»Er hat sich höchst merkwürdig verhalten«, meinte Dóra und stellte den Kaffee beiseite, der inzwischen eiskalt war.
»Glaubst du, er hat was mit dem Mord zu tun?«, fragte Matthias. »Oder war er nur komisch?«
»Keine Ahnung. Er konnte Birna offensichtlich nicht leiden, wollte mir aber nicht erzählen, warum, meinte nur, er sei Menschenkenner. Ob er ein ehemaliger Liebhaber ist, den sie für diesen Bauern hat fallenlassen?«
»Oder ein so guter Menschenkenner, wie er behauptet?« Matthias zuckte die Achseln. »Ich habe Riesenhunger, wie spät ist es eigentlich?«
Dóra ignorierte seine Frage vollkommen. »Nein, irgendwas ist mit ihm. Er hat total abweisend reagiert, als ich ihn nach dem jungen Mann im Rollstuhl gefragt habe.«
Matthias schaute sie pikiert an. »Du hast ihn danach gefragt? Wie bist du denn auf diese Idee gekommen?«
»Einfach so«, antwortete Dóra. »Ich bin einfach neugierig und habe überhaupt nicht mit solch einer Reaktion gerechnet. Jetzt ist mir zumindest klar, dass ich unbedingt rauskriegen muss, was da passiert ist.«
»Ich finde das wirklich taktlos«, sagte Matthias verstimmt. »Sich nach dem Schicksal eines völlig unbekannten Mannes zu erkundigen. Der auch noch behindert ist.«
»Na und? Darf man etwa nicht nach Behinderten fragen?«, meinte Dóra. »Du hast einfach Hunger, und deshalb bist du schlecht gelaunt. Lass uns was essen gehen.« Sie erhob sich vom Sofa.
Matthias’ Gesicht hellte sich auf. »Wie wär’s, wenn wir irgendwo anders essen?«, fragte er. »Gibt’s hier in der Nähe nicht noch mehr Restaurants?«
»Doch«, antwortete Dóra. »Wir könnten nach Hellnar fahren. Wer weiß, vielleicht treffen wir da jemanden, der sich mit Geistern auskennt oder etwas über diesen Bergur von Tunga weiß.«
Matthias seufzte. »Ach, hoffentlich nicht.«
Eiríkur nahm all seine Kraft zusammen und öffnete die Augen. Der Aura-Experte hatte so schlimme Kopfschmerzen wie schon seit Jahren nicht mehr. Er versuchte, sich zu bewegen, gab es aber sofort wieder auf, denn ihm wurde speiübel. Er musste die Augen wieder fest schließen, bevor er sich orientieren konnte. Als das Schlimmste vorbei war, versuchte er, zu begreifen, was eigentlich mit ihm geschehen war, Was war passiert? Hatte er getrunken? Er konnte sich an nichts erinnern und hatte keinen Alkoholgeschmack auf der Zunge. Plötzlich fielen ihm die Tarotkarten in seinem Angestelltenhäuschen wieder ein; er hatte sich selbst die Karten gelegt. Oder für jemand anders? Er erinnerte sich dunkel daran, dass er sich mit Jónas gestritten hatte, wusste aber nicht mehr worüber. Über die Arbeit oder über die Tarotkarten? Seine Gedanken wirbelten durcheinander, und er verspürte einen heftigen Schmerz. Er ging von seinen Beinen aus und war so stark, dass Eiríkur den Ursprung zunächst nicht lokalisieren konnte, nicht wusste, ob einer oder beide Knöchel gebrochen waren. Dann ließ der Schmerz ein wenig nach, woraufhin er ein fürchterliches Brennen unter den Fußsohlen verspürte. Was war eigentlich geschehen? War er im Hotel?
Eiríkur hatte das Gefühl, auf etwas Lauwarmem, aber Hartem zu liegen. Er tastete mit der flachen Hand umher und meinte Gras oder Heu zu fühlen. Der ekelhafte Geruch, der ihm in die Nase stieg, ließ jedoch darauf schließen, dass er sich nicht in der freien Natur befand. Außerdem hörte er ein merkwürdiges Geräusch, das er nicht einordnen konnte. War es ein Atmen? War jemand bei ihm? Vorsichtig öffnete Eiríkur ein Auge und sah, dass er sich in einem Gebäude befand. Es war fast dunkel, nur ein schwacher Lichtschein drang irgendwo hinter ihm hinein. Keine menschliche Macht hätte ihn dazu bringen können, sich umzudrehen und nachzuschauen, woher das Licht kam. Im Augenblick fiel es ihm schon schwer genug, überhaupt zu atmen. Er bemühte sich, es ganz langsam zu tun — ein, aus, ein, aus — und kämpfte gegen die immer stärker werdende Übelkeit an.
Geld. Geld und Tod. Sein Herz hämmerte wild in seiner Brust. Plötzlich erinnerte er sich an etwas. Er drehte so langsam wie möglich den Kopf. Er befand sich in einem Pferdestall. Weit und breit kein Geld, jedoch beschlich ihn die Vermutung, dass der Tod ganz in der Nähe war. Er verlor die Kontrolle über seinen Atemrhythmus und über die Übelkeit, musste sich heftig übergeben und konnte eine Weile nichts anderes mehr wahrnehmen. Aber es ging schnell vorüber, und wieder packte ihn Entsetzen. Ein schrilles Wiehern ertönte, gefolgt von Hufstampfen. Woher kamen diese Geräusche? Auf welcher Seite von ihm befand sich das Tier? Eiríkur zwang sich dazu, sich halb aufzurichten und die Augen zu öffnen. Dabei musste er sich erneut übergeben, aber der erste Schwall war so heftig gewesen, dass kaum noch etwas kam. Als das Schlimmste vorbei war, schaffte er es, sich auf die Ellbogen zu stützen und sich vorsichtig umzuschauen. Sein Blick fiel auf seine Brust, und trotz seines absonderlichen Zustands wurde ihm sofort klar, woher der unerträgliche Gestank kam. Verzweifelt versuchte er, den Schrei zu unterdrücken, der sich in seinem Hals bildete; am Ende gelang es ihm. Er zwang sich, seinen Blick von dem blutigen Fell und dem weit geöffneten Maul an dem baumelnden Kopf abzuwenden und sich auf die Dinge über ihm zu konzentrieren. Der Drang zu überleben war stärker als der, sich dieses Scheusals zu entledigen, obwohl er es nicht erwarten konnte, das grobe Band, mit dem es an ihm festgebunden war, zu lösen. Langsam blickte er nach oben.
Beine. Vier schlanke Beine und kräftige Hufe. Was hatte man ihm gesagt? Dass das niemand begreifen würde, dass alle sagen würden, es sei ein Unfall gewesen. Ein sehr tragischer tödlicher Unfall, den er selbst verursacht hatte. Das durfte nicht geschehen. Die Leute mussten erfahren, dass es Mord war, und nicht seine eigene Dummheit. Eiríkur hatte in der letzten Zeit schon genug Spott wegen seiner Arbeit als Hellseher über sich ergehen lassen müssen. Er musste dafür sorgen, dass der Hohn ihn nicht bis ins Grab hinein verfolgte. Auf einmal war es ihm wichtiger, diese Botschaft zu übermitteln, als am Leben zu bleiben. Es war unsinnig, Strohhalme aneinanderzulegen; sie würden längst zertrampelt sein, wenn endlich jemand käme. Nein, er musste etwas an eine Stelle ritzen, die vor dem Vieh sicher war. Vorsichtig wanderten seine Augen umher. Die Wand war nicht weit entfernt. Mit einer Entschlossenheit, die er nie für möglich gehalten hätte, gelang es ihm, die Schmerzen auszuschalten und auf die Wand zuzukriechen. Dabei betete er zu Gott, dass es ihm gelänge, mit seinem Ring ein paar Buchstaben in die Wand zu ritzen, bevor es zu spät wäre. Der Atem des Biestes ging schneller, und Eiríkur erstarrte. Sobald er den Mann auf dem Boden bemerken würde, musste der Hengst vor Angst die Kontrolle verlieren und ihn zu Tode trampeln. Als der Atem wieder ruhiger ging, wartete Eiríkur sicherheitshalber noch einen Moment und schleifte sich dann ganz langsam zur Wand. Er konnte unmöglich aufstehen; der Schmerz unter seinen Fußsohlen fühlte sich an, als hätte er sich verbrüht.
Eiríkur spürte, wie er mit der Schulter gegen die Wand stieß, und streckte seine Hand mit dem Ring nach oben. Er begann, in die Boxenwand zu ritzen. Der Hengst schnaubte wegen des kratzenden Geräuschs, das der schabende Ring auf der Wand verursachte. Entsetzt sah Eiríkur, dass das Tier plötzlich seine braunen Augen auf ihn richtete und wieherte. Hastig ritzte er weiter, traute sich jedoch nicht, die Augen von dem Kopf mit der weißen Blesse abzuwenden. Das Pferd scharrte mit den Vorderhufen, drehte Eiríkur dann die Hinterhand zu und keilte aus. Das Einzige, was dem Mann durch den Kopf ging, war, ob das Gekritzel ausreichen würde, um den Mörder zu entlarven. Wenn er nur etwas mehr Zeit gehabt hätte. Niemand würde das verstehen. Der Hengst gab ein grauenhaftes Geräusch von sich, und Eiríkur hob instinktiv seinen Arm vor den Kopf.
Aber das war im Grunde genauso zwecklos wie zu glauben, das Biest könne die Schrift an der Wand entziffern: