R-E-R. B-E-R. Bertha. Dóra legte das Handy auf den Tisch und starrte vor sich hin.
Matthias, Gylfi und Sigga warteten schweigend mit erhobenem Besteck auf eine Erklärung für ihre Reaktion. »Es ist nicht Rósa«, verkündete Dóra in die Stille hinein. »Bertha hat von dem Fuchs gewusst.«
»Du weißt, dass man nicht gleich schuldig ist, wenn man davon wusste«, entgegnete Matthias. Gylfi und Sigga verfolgten die Situation gespannt, obwohl sie nichts begriffen.
»Es ist nicht nur das«, erwiderte Dóra, »erstens hat sie neben ihrer Mutter Elín und ihrem Onkel Börkur am meisten zu verlieren. Sie war hier bei der Séance und sie hat Angst vor Geistern. Es ist ihr zuzutrauen, dass sie Nadeln in die Fußsohlen ihrer Opfer sticht, damit sie nicht zu Wiedergängern werden.«
»Aber vergisst du da nicht, dass Bertha nicht vor Ort war, als Eiríkur getötet wurde?«, gab Matthias zu bedenken. »Sie war in Reykjavík. Die Liste aus dem Tunnel beweist es. Oder glaubst du, es gibt zwei Mörder?«
»Nein, auf keinen Fall«, sagte Dóra. »Wenn man genauer darüber nachdenkt, dann ist sie vermutlich gar nicht nach Reykjavík gefahren.«
Matthias hob die Brauen. »Du meinst, sie hat jemandem ihr Auto geliehen?«
»Nein, ich glaube, sie hat ihr Auto mit Steini getauscht«, antwortete Dóra. »Es ist ein viel zu großer Zufall, dass sie beide in entgegengesetzter Richtung durch den Tunnel gefahren sind. Er hat nicht beobachtet, wie sie wegfuhr, wie wir gedacht haben, sondern er ist durchgefahren, hat am anderen Ende des Tunnels auf Bertha gewartet, mit ihr den Wagen getauscht, und dann ist sie hergekommen und hat Eiríkur getötet. Er hat am Straßenrand gewartet, während sie gewendet hat, und im selben Augenblick kam der Kajakfahrer vorbei. Vielleicht war sie sogar in dem Fahrzeug, das laut seiner Aussage anhielt, als er weiterfuhr. Auf diese Weise hat sie ein Alibi.«
»Und Steini?«, fragte Matthias. »Er muss stattdessen die Suppe auslöffeln.«
Dóra schüttelte den Kopf. »Wer würde denn glauben, dass er Eiríkur in die Box zu dem Hengst hätte sperren können? Du hast ihn doch gesehen. Unmöglich. Aber sie ist baumstark, schließlich hat sie ihn im Rollstuhl überall durch die Gegend geschoben.« Dóra fasste sich an die Stirn. »Erinnerst du dich an das Foto von ihrer Tante Guðný in dem Rahmen auf meinem Nachttisch?«
Matthias nickte. »Wenn man es genauer anschaut, sehen sie und Bertha sich ziemlich ähnlich. Vor allem, wenn man sich Guðný mit einer anderen Frisur vorstellt.«
Matthias lächelte. »So genau kann ich mich auch wieder nicht an das Gesicht erinnern, geschweige denn an die Frisur. Spielt das eine Rolle?«
»Es war das Foto, das Jónas so aufgewühlt hat«, erklärte Dóra. »Er meinte, er hätte einen Geist gesehen, der genauso aussah wie die Frau auf diesem Foto. Zuletzt hat er den Geist in seiner Wohnung gesehen.« Sie schloss die Augen und rief sich das Bild von Guðnýs hübschem Gesicht in Erinnerung. »Ich vermute, der Geist war Bertha, die die Schlaftabletten geklaut hat. Vielleicht hat sie nach etwas gesucht, was Aufschluss über Jónas’ Pläne für das neue Gebäude gibt. Er hat sie überrascht, und mein Gefühl sagt mir, dass er völlig verwirrt war, nicht mehr wusste, ob er einen lebendigen Menschen oder einen Wiedergänger sieht. Vielleicht wollte sie Birna die Schlaftabletten verabreichen, hat sich aber nicht mehr getraut, weil Jónas sie gesehen hatte. Als sie schließlich Eiríkur umbringen wollte, hielt sie es für ungefährlich oder musste die Tabletten einfach verwenden, weil sie das einzig verfügbare Betäubungsmittel waren. Wahrscheinlich war sie auch der Geist, der draußen hinter dem Hotel im Nebel gesehen wurde. Ich vermute, sie hat dort mit einer Schaufel nach der Falltür gesucht. Vielleicht hat sie gehofft, Kristíns Knochen beseitigen zu können, bevor sie gefunden werden.«
»Was willst du jetzt tun?«, fragte Matthias. »Ich bin mir ziemlich sicher, dass diese Mutmaßungen nicht ausreichen. Warum hat sie beispielsweise Eiríkur umgebracht?«
Dóra stieß kräftig Luft durch die Nase aus. »Ich weiß es auch nicht. Vielleicht steckte er mit ihr unter einer Decke, oder er hat sie beobachtet. So wie es aussieht, ist Bertha die Einzige, die den Grund kennt.«
»Sollten wir das nicht der Polizei erzählen, Dóra? Dieser þórólfur scheint ja ganz in Ordnung zu sein. Er wird bestimmt nicht allzu sauer, wenn du ihn noch einmal auf eine neue Spur bringst. Wobei er vermutlich gerade mit Rósa redet, die du vor einer knappen Stunde für schuldig befunden hast.«
Dóra stöhnte und stand auf. »Ich muss hinfahren und ihn informieren. Je eher desto besser.«
»Cat«, sagte die einzige Person, die sich nicht über die veränderte Situation den Kopf zu zerbrechen schien. Sóley lächelte Matthias an und schaute dann zu ihrer Mama. »Sag ihm, dass ich Englisch kann«, forderte sie hochzufrieden.
»Toll, Liebling«, sagte Dóra und strich über den blonden Schopf. »Du kannst weiterüben, ich muss nämlich mal eben weg. Matthias bleibt bei euch.«
»Dog«, hörte sie Sóley stolz sagen, als sie aus dem Speisesaal huschte und zu ihrem Auto lief.
Lára setzte sich auf dem harten Stuhl zurecht und achtete darauf, ihren Mantel, den sie im Arm hielt, nicht zu zerknautschen. Die mitgebrachten Blumen schienen sich im Wasser nicht zu erholen und hingen schlaff in der Edelstahlvase auf dem Nachttisch. Lára begrüßte die alte Málfríður Grímsdóttir. Sie räusperte sich und nahm die vertrocknete Hand der alten Frau. »Ich konnte an nichts anderes mehr denken. Die Erinnerungen holen mich ein, seit meine Enkelin Sóldís angefangen hat, in dem Hotel zu arbeiten, das inzwischen bei uns in Snæfellsnes steht. Du kennst die Wahrheit, und ich habe gehofft, du würdest mir jetzt alles erzählen wollen. Bevor es zu spät ist.« Sie betrachtete das kränkliche Gesicht der Frau im Bett. Seltsam, wie unterschiedlich das Alter den Menschen doch mitspielte. Málfríður war viel jünger als sie, und dennoch war sie bettlägerig und schien kaum den Kopf hochhalten zu können, während Lára mit geradem Rücken bei ihr saß. Sie hoffte, es schnell hinter sich zu bringen, wenn es bei ihr so weit wäre. Sie wollte auf keinen Fall, dass ihr Leben auf diese Weise verebbte.
Im Augenwinkel der alten Frau bildete sich eine Träne. »Gott möge mir vergeben«, sagte sie und schloss die Augen. Dabei löste sich die Träne und tropfte aufs Kissen. »Ich war so jung. Ich habe mich nicht getraut, Papa zu verletzen, und dann wurde er krank, und ich hatte andere Sorgen.«
»Ich will dich nicht tadeln, Málfríður«, sagte Lára mitfühlend und drückte die Hand der Frau. »Ich weiß, dass du damals nicht mit mir darüber sprechen konntest, aber jetzt haben wir beide nicht mehr viel Zeit, und ich möchte diese Welt nicht verlassen, ohne erfahren zu haben, was mit dem Kind geschehen ist. Das bin ich Guðný schuldig.«
Die Tränen flossen nun unaufhörlich, während Málfríður mit geschlossenen Augen dalag. »Sie ist tot«, sagte sie mit brüchiger Stimme. »Papa hat es getan.« Sie schluchzte, und Lára wartete geduldig darauf, dass sie sich wieder beruhigte. »Er hat sie in den Kohlenkeller gesperrt. Sie war die ganze Nacht über da draußen.
Ich war drüben in Kirkjustétt, um ihre Puppe zu holen, die sie so vermisste, und da hab ich es durchs Fenster gesehen. Oh mein Gott«, sagte Málfríður und verstummte bei der Erinnerung. Sie fasste sich wieder und sprach weiter: »Er hat die Stallgebäude abgebrannt, dann hat er die Tierkadaver in die Kohlenkammer geworfen und die Falltür im Frühjahr mit Grassoden abgedeckt. Er hat die Tür, die von der Kammer in den Gang führt, fest verschlossen, und später hat er das andere Ende des Ganges im Keller so verdeckt, dass niemand sehen konnte, dass da mal eine Tür war.«
»Warum?«, fragte Lára, den Tränen nahe.
»Kristín … —«, schluchzte Málfríður. Sie öffnete die Augen und starrte an die weiße Decke. »Papa hasste sie. Ich habe es am Anfang nicht verstanden. Sie war so brav und nett, sehr still, aber stets lieb. Sie war ein paar Jahre jünger als ich, und die wenigen Tage, die sie bei uns war, hat sie sich fast nur um ihre Mutter gekümmert. Papa wollte nicht zu Guðný ins Zimmer, weil er Angst hatte, sich anzustecken, aber das kleine Mädchen saß bei ihr, fütterte sie und achtete darauf, dass Guðný es so gut wie nur irgend möglich hatte. Bis ihre Mutter eines Nachts starb. Kristín war etwas Besonderes, aber Papa sah es nicht. Ich war so froh, dass sie da war, und habe in meiner Einfalt geglaubt, sie würde nach dem Tod ihrer Mutter bei uns bleiben. Aber es kam anders.« Málfríður machte eine kurze Pause. »Anstatt sie bei uns wohnen zu lassen, hat er sie getötet und alle Merkmale beseitigt, so als habe sie nie existiert. Als Kristín geboren wurde, hatte er gehofft, sie würde sich bei ihrem Großvater mit Tuberkulose anstecken und nie erwachsen werden. Er schrieb nie eine Geburtsurkunde für sie, weil er uneheliche Kinder für eine Familienschande hielt. Das kam ihm später zugute.«
»Wie konnte er nur!«, schluchzte Lára. »Ich hätte Guðnýs Kind gerne zu mir genommen und es geliebt wie mein eigenes. Er hätte sie nicht töten dürfen!«
Málfríður drehte ihren Kopf zu Lára. »Er war sehr erzürnt darüber, dass er sich um sie kümmern musste. Papa hatte alles verloren. Sein Bruder Bjarni hatte ihm geholfen, indem er unseren Hof kaufte und alle Schulden übernahm, aber anstatt sich über die Großzügigkeit zu freuen, begann der Samen in Papa zu reifen, der seinem Leben schließlich ein Ende setzte. Er brachte sich um, voller Hass und Scham über das, was er wegen des Geldes getan hatte. Bevor er sich das Leben nahm, hat er mir alles erzählt. Ich glaube, er wollte seinen Seelenfrieden, aber den konnte ich ihm nicht geben.« Málfríður starrte wieder an die Decke. »Ich habe seine Grabinschrift in Übereinstimmung mit seiner Lebensweise gewählt. Das Herz blutet.« Sie verstummte und hustete schwach.
»Ich werde Kristín ausgraben lassen«, sagte Lára, die das Gespräch beenden wollte. Sie hatte genug. »Und neben ihrer Mutter beerdigen lassen. Ich kann nicht darüber schweigen.«
Málfríður richtete sich zum ersten Mal, seit Lára gekommen war, ein wenig auf. »Das brauchst du nicht. Ich habe schon dafür gesorgt, dass es getan wird«, sagte die Alte. »Ich habe meiner Enkelin, Elíns kleiner Bertha, davon erzählt, und sie hat gesagt, es würde alles gut werden. Sie hat versprochen, sich darum zu kümmern.« Málfríður lächelte Lára geschwächt an. »Merkwürdig, dass ich meinen eigenen Kindern nicht davon erzählen konnte, aber dann kam Bertha zu mir, und etwas an dem Mädchen erinnert mich so sehr an Guðný und Kristín. Bertha ist ein guter Mensch. Sie wird das Richtige tun.«
Lára schaute Málfríður an und stand auf. Plötzlich packte sie die Wut. »Es würde mich nicht wundern, wenn sich herausstellte, dass sie deinem Vater ähnlicher ist als Guðný und Kristín.«
»Man kann nur hoffen, dass Málfríður sich auch noch an die Wahrheit hält, wenn sie mit dem konfrontiert wird, was ihrer Enkelin bevorsteht«, sagte Dóra und legte auf. Sie brauchte keine weiteren Zeugen; das Telefonat mit Lára räumte sämtliche Zweifel an Berthas Schuld aus. Dóra hatte am Straßenrand angehalten, als die Frau anrief. Nun fuhr sie ganz langsam durch den dichten Nebel weiter nach Tunga. Streckenweise schien sich der Nebel zu lichten, und alle möglichen Phantasiegestalten erschienen in der moosbewachsenen Lava auf beiden Seiten der Straße. Als der Nebel wieder dichter wurde und die wundersamen Erscheinungen verschluckte, lief Dóra unvermutet ein Schauer über den Rücken. Sie hoffte, nicht vom richtigen Weg abgekommen zu sein. Die Strecke war nicht lang, aber wegen der schlechten Sicht fuhr sie langsam und hatte Schwierigkeiten, sich zu orientieren. Plötzlich meinte sie, einen Mann mit ausgestrecktem Arm am Straßenrand stehen zu sehen, aber es war nur das Schild zum Hof Tunga. Sie bog in den Zufahrtsweg und beschleunigte ein wenig. Kurz darauf sah sie die Umrisse des Gehöfts. Auf dem Vorplatz stand þórólfurs Wagen; Dóra hielt neben ihm an. Der Wagen war leer. Sie stieg aus und ging zur Haustür, aber nach wenigen Schritten erstarrte sie. Durch den Nebel klang leises Kinderweinen. Dóra drehte sich um und versuchte, auszumachen, woher das Geräusch kam, aber es war zwecklos. Das Weinen hörte genauso plötzlich auf, wie es gekommen war. Dóra massierte ihren Arm, um die Gänsehaut zu vertreiben. Was zum Teufel war das? Sie kniff die Augen zusammen. Als sie eine Bewegung in der Nähe des Pferdestalls wahrzunehmen glaubte, zuckte sie zurück. Von Neugier getrieben ging sie in Richtung Stall. Sie trat vorsichtig auf, damit ihre Schritte auf dem Kies nicht zu hören waren.
Als sie beim Pferdestall angekommen war, begann das Weinen von neuem. Dóra drehte sich um, konnte aber nichts sehen. Sie erschrak fast zu Tode, als vor ihr ein lauter Knall ertönte. Die Stalltür war unverschlossen und schlug gegen die Wand. Anscheinend hatte jemand die Tür offen stehen lassen. Als Dóra von drinnen Geräusche hörte, sprang sie schnell zur Seite. Sie drückte sich dicht an die Hauswand und hoffte, im Nebel nicht gesehen zu werden. Aus dem Augenwinkel sah sie die Umrisse eines Menschen in der Türöffnung erscheinen, ihn hinauskommen und die Tür schließen. Dóra war sofort klar, dass das kein gutes Versteck war. »Hallo Bertha«, sagte sie. »Was machst du denn hier?«
Das junge Mädchen erschrak. Es drehte sich um und starrte Dóra entgeistert an. »Ich? Nichts.«
»Ich hab dich aus dem Stall kommen sehen«, entgegnete Dóra. »Kennst du die Leute hier auf dem Hof?«
Das Kinderweinen erklang erneut, und Bertha spähte angestrengt in den Nebel. »Ich hab das Weinen gehört und wollte nachsehen, woher es kommt«, erklärte sie zögernd.
»Im Pferdestall?«, fragte Dóra. »Das Geräusch kommt doch eindeutig von draußen.« Sie musterte das Mädchen, das begonnen hatte, an seiner Unterlippe zu knabbern. »Weißt du, Bertha, Kristíns sterbliche Überreste wurden entdeckt, und du … — Willst du nicht einfach mitkommen und mit der Polizei reden? Sie ist hier auf dem Hof.« Dóra zeigte in die Richtung, in der sie das Wohnhaus vermutete. Sie konnte jetzt kaum mehr die eigene Hand vor Augen erkennen.
»Was meinst du?«, fragte Bertha. Ihr ungezwungenes Gehabe war zwecklos, denn ihre Stimme zitterte. »Was ist das?«, fragte sie, als das Weinen lauter wurde.
»Wird wohl ein Wiedergänger sein«, antwortete Dóra ruhig. »Oder Kristín. Mir scheint, sie hat auch schon deine Großmutter heimgesucht. Komm, gehen wir lieber rein, als hier draußen rumzustehen und darauf zu warten, bis der Geist dreimal um uns herumgelaufen ist. Ich glaube, einmal hat er schon hinter sich.«
Bertha sah Dóra fast besinnungslos an, leichenblass und mit geröteten Augen. »Wie haben sie Kristín gefunden?«, stammelte sie.
»Das spielt keine Rolle. Es musste so kommen. Zum Glück ist es vorbei.«
»Mama und ich werden alles verlieren«, sagte Bertha plötzlich, und Dóra war sich nicht sicher, ob sie mit sich selbst sprach. »Steini auch. Er wohnt in einem unserer Häuser. Seine Eltern haben ihr Land verkauft und sind nach Reykjavík gegangen. Er muss zu ihnen ziehen.« Sie blickte hinaus in den Nebel und atmete tief ein. Dóra sah, dass sich winzige Schweißperlen auf ihrer Stirn und ihren Schläfen gebildet hatten. Das Heulen wurde schwächer und hörte dann ganz auf. Bertha schien ein wenig ruhiger zu werden.
»Es gibt weitaus Schlimmeres, als seinen Besitz zu verlieren, Bertha. Zum Beispiel sein Leben.«
Da erst schaute Bertha sie an. »Eiríkur und Birna hatten es nicht verdient, zu leben. Sie waren schlechte Menschen. Sie hat einen alten Mann erpresst, und Eiríkur hat versucht, mich zu erpressen. Er hat mich angerufen und behauptet, er hätte mich die Séance verlassen sehen. Er wollte Mama davon erzählen und sie sollte ihn für sein Schweigen bezahlen. Er dachte, wir wären furchtbar reich wegen unserer Ländereien hier in Snæfellsnes. Ich hab ihm gesagt, wir sollten uns hier beim Pferdeverleih treffen und dann … — du weißt.«
»Ja, leider.« Dóra überlegte, warum das Mädchen so unkompliziert und natürlich wirkte, obwohl es ganz offensichtlich völlig in seiner eigenen Wahnwelt lebte. »Ich habe Birnas Obduktionsbericht gelesen. Daraus geht hervor, dass sie mehrmals mit einem Stein ins Gesicht geschlagen wurde. Hast du gehofft, man würde sie nicht wiedererkennen?«
»Nein«, antwortete Bertha kurzatmig. »Ich wollte sie am Hinterkopf treffen, aber sie hat sich genau im selben Moment umgedreht, und der Stein hat sie im Gesicht getroffen. Wahrscheinlich hat sie mich kommen hören. Ich wollte es so aussehen lassen, als habe sie sich bei der Vergewaltigung den Kopf auf dem Kies aufgeschlagen, aber ich hab’s vermasselt. Es sollte alles perfekt sein. Ich habe extra darauf geachtet, dass die Leute mich im Hotel sehen. Ich hab mich bei der Séance ganz nach hinten gesetzt und mich rausgeschlichen, als alle auf das Medium gestarrt haben. Dann hab ich das Kajak genommen, um die Sache so schnell wie möglich zu erledigen. Sóldís hatte mir von dem Kajak erzählt und dass sein Besitzer nicht mehr lange bleiben würde. Deshalb musste ich mich beeilen.« Bertha knirschte mit den Zähnen. »Sóldís redet viel. Über sie habe ich von Jónas’ Medikamenten erfahren und dass er sein Handy überall rumliegen lässt. Sie hat mir auch erzählt, was die Sexberaterin verkauft, und andere nützliche Dinge.« Bertha seufzte, ihre Augen wurden feucht. »Es sollte alles so perfekt sein und ist trotzdem schiefgegangen. Birna war nicht sofort tot, also musste ich sie wieder und wieder schlagen. Und wieder.« Bertha musterte ihre Zehen. »Als die Möwen kamen, dachte ich, ich müsste kotzen.«
»Warum hast du ihnen die Nadeln in die Fußsohlen gesteckt?«
»Ich wollte verhindern, dass sie zu Wiedergängern werden. Damit tut man niemandem einen Gefallen, weder den Toten noch den Lebendigen.« Bertha war jetzt kurz davor, zusammenzubrechen.
»Was hast du eigentlich da drinnen gemacht?«
»Ich habe die Medikamente versteckt«, antwortete Bertha mit klangloser Stimme. »Ich hab gehofft, der Verdacht würde auf Bergur und Rósa fallen, wenn Jónas freigelassen wird. Als die Polizei entdeckt hat, dass jemand anders die SMS an Birna geschickt hat, war ich beunruhigt.« Sie seufzte und blickte in Dóras Augen. »Ich hab sein Handy geklaut. Es war alles so leicht, nachdem ich entschieden hatte, wie man am besten vorgeht. Birna musste aufgehalten werden. Sie hat nicht auf mich gehört, als ich ihr gesagt habe, dass das ein schlechter Bauplatz ist. Wenn sie nur auf mich gehört hätte, wäre alles in Ordnung gewesen.« Bertha zögerte. »Aber ich hab’s gemacht, um Steini zu retten«, sagte sie. Dóra war sich nicht sicher, ob Bertha versuchte, sich vor ihr und vor ihrem eigenen Gewissen zu rechtfertigen. »Das war das mindeste, was ich tun konnte. Es ist meine Schuld, was mit ihm passiert ist. Ich hab ihn an dem Abend, als der Unfall passiert ist, angerufen und gebeten, mich abzuholen. Er kann nicht in Reykjavík leben. Jetzt geht es ihm noch schlechter, weil er glaubt, was ich getan habe, wäre seine Schuld. Er bittet mich ständig, ihm zu verzeihen. Aber ich habe selbst entschieden, mich für ihn einzusetzen, also gibt’s nichts zu entschuldigen. Ich hab es nur für ihn getan.« Ihre Knie gaben nach.
»Ist ja gut«, sagte Dóra ruhig und half dem Mädchen rasch wieder auf die Beine, »ist ja gut.« Sie gingen auf den Hof zu, wobei Dóra Bertha stützte, damit sie nicht noch einmal hinfiel. Das Heulen begann erneut, hörte aber schnell wieder auf. Dóra war froh, als sie die Stufen erreicht hatten. Das Mädchen zitterte wie Espenlaub. Dóra warf einen Blick zurück über die Schulter, drückte die Klingel und hoffte, dass schnell jemand zur Tür käme. Als sie endlich aufging, stand Rósa im Türrahmen. Sie sagte kein Wort, starrte nur auf etwas hinter ihnen. Dóra drehte sich um, nahezu sicher, einen Wiedergänger zu erblicken, der sich mit einem Arm die Stufen hinaufschleppte.
»Gulli!«, rief Rósa. »Da bist du ja, du ungezogener Kater. Wo warst du nur?« Das Weinen hörte sofort auf. »Feine Miezekatze!«, sagte sie mit schmeichelnder Fistelstimme. »Komm her, du Bengel.« Der braungestreifte Kater stolzierte in aller Ruhe miauend die Stufen hinauf.