»Was soll denn da sein?«, fragte Dóra und löste ihren Blick von dem kleinen Schaufenster. Sie verstand Matthias’ aufrichtige Freude über den Plunder in den verstaubten, weißen Holzregalen überhaupt nicht. »Lauter alte Tassen, na und?«
»Guck doch mal genauer«, sagte er enttäuscht und zeigte auf einen kleinen Gegenstand zwischen einem ausgestopften Schneehuhn und einer verblichenen Rose.
Dóra spähte durch die Fensterscheibe und sah ein silbernes Amulett mit einem Helm und zwei Schwertern. Da das Amulett in dem Regal lag, konnte Dóra es nur erkennen, wenn sie sich auf die Zehenspitzen stellte. »Was ist das?«
»Ein deutscher Orden aus dem Zweiten Weltkrieg«, sagte Matthias selbstzufrieden.
»Und?«, entgegnete Dóra. »Möchtest du ihn kaufen?«
Matthias lachte. »Lieber nicht«, sagte er und zeigte auf die Ladentür. »Aber ich habe eben den Kaufmann gesehen. Er scheint noch älter zu sein als der ganze Kram, den er anbietet. Ich dachte, wir könnten reingehen und ihn über Nazis in Snæfellsnes befragen. Er weiß bestimmt eine ganze Menge.«
»Aha«, sagte Dóra. »Jetzt verstehe ich.«
Als sie das Geschäft betraten, schellte die Glocke an der Tür lautstark. Dóra fand sie ziemlich überflüssig, denn der Laden war so klein, dass es gar nicht zu übersehen war, wenn jemand eintrat. Auf jedem freien Fleck stand Krempel herum, wodurch der Laden noch kleiner wirkte. Die übervollen Regale an den Wänden reichten fast bis zur Decke. An einem lehnte eine Leiter. Die Gegenstände waren verstaubt, was nicht gerade auf gute Geschäfte schließen ließ. Ganz hinten im Laden stand ein weißhaariger Mann hinter einem abgegriffenen Tisch mit einer altmodischen Kasse, die gewiss nicht die strengen Auflagen der Steuerbehörden erfüllte. Nachdem sie sich umgeschaut hatten, schlängelten sie sich an allerlei alten Kleinmöbeln vorbei, die dicht beisammen auf der winzigen Bodenfläche des Ladens standen, zum Verkaufstresen.
»Guten Tag«, sagte Dóra lächelnd, als sie endlich beim Tresen angelangt waren, ohne etwas kaputt gemacht zu haben.
»Tag«, antwortete der Mann ruhig, ohne zu lächeln. »Was kann ich für euch tun?«
»Mein Freund aus Deutschland hat die Brosche im Fenster gesehen«, sagte Dóra. »Könnten wir uns die mal näher anschauen?«
Der alte Mann nickte und quetschte sich an dem Gerümpel vorbei zum Schaufenster. »Ja, die habe ich schon lange, kann ich euch sagen«, erklärte er, während er sich nach dem Gegenstand reckte. »Es ist allerdings ein Orden, keine Brosche.« Er kam mit dem Silberamulett zurück und legte es auf den Tresen. »Ein Orden für die Verwundeten.«
»Oh«, sagte Dóra und nahm den Gegenstand in die Hand. Der Orden war, wie sie vermutet hatte, mit einem Helm und zwei Schwertern verziert, aber erst jetzt sah sie das Hakenkreuz auf dem Helm. Lorbeer umkränzte den Orden. »Ist er im Krieg verletzten Soldaten verliehen worden? Dann gibt es doch bestimmt viele davon, oder?«
Der alte Mann machte ein verdrossenes Gesicht, und Dóra bereute ihre letzte Frage. Er glaubte bestimmt, sie wolle ihn runterhandeln. Er nahm ihr den Orden ab. »Es wurden sogar ziemlich viele verliehen. Als der Krieg seinen Höhepunkt erreicht hatte, wurden nämlich auch bei Luftangriffen verletzte Zivilisten damit ausgezeichnet. Dieser hier ist deshalb interessant, weil er aus Silber ist. Es gab drei verschiedene Orden, je nachdem, wie schwer die Verletzungen waren. Einfach, Silber und Gold. Der einfache Orden wurde meist an der Front verwundeten Soldaten verliehen. Er war am weitesten verbreitet.«
»Wie schwer musste man verletzt sein, um Silber zu bekommen?«, fragte Dóra.
»Da gab es Verschiedenes, zum Beispiel der Verlust von Gliedmaßen. Und leichte Hirnverletzungen.« Der Mann hob den Orden in die Höhe und ließ das trübe Tageslicht darauf scheinen. »Das war kein Orden, nach dem man strebte, kann ich dir sagen.«
»Geschweige denn nach Gold«, fügte Dóra hinzu. »Mein Freund jedenfalls würde ihn sehr gerne kaufen.« Sie zeigte auf Matthias. »Weißt du etwas über die Herkunft?«
Der alte Mann lächelte. »Nein, leider nicht. Ich habe ihn vor vielen Jahren mit einer Hinterlassenschaft bekommen. Es ist unklar, wie er dahingekommen ist.«
»Ich dachte, er hätte vielleicht einem Isländer gehört«, sagte Dóra. »Das wäre sehr interessant.«
»Nicht, dass ich wüsste«, entgegnete der alte Mann. »Könnte schon sein, aber ich bezweifle es. Ich glaube, den konnten nur Deutsche bekommen, zumindest als Zivilisten.«
»Haben nicht auch Isländer mit den Deutschen gekämpft?«, meinte Dóra und hoffte, das Gespräch auf Nazis in Snæfellsnes lenken zu können.
»Ich glaube, das waren nur sehr wenige. Ein paar Dummköpfe haben sich mit den Deutschen in Norwegen und auch in Dänemark verbündet, aber ich glaube, keiner von denen ist jemals an der Front gewesen.« Der Mann legte den Orden auf den Tisch. »Wer sich hier bei uns mit diesem Unfug abgegeben hat, war kein Held, sondern ein furchtbarer Idiot. Ich glaube, die haben sich vor allem für die Uniformen begeistert.«
»Ach, wirklich?«, fragte Dóra. »Ich muss gestehen, dass ich gar nichts darüber weiß, wie das hier in Island war. Gab es denn hier eine echte Nazibewegung?«
»Ja, ja«, sagte der alte Mann. »Das waren Nationalisten, vor allem junge Burschen fanden es toll, mit Fahnen umherzumarschieren und sich mit den Sozis zu prügeln. Ich glaube, mehr aus jugendlichem Leichtsinn als aus Überzeugung.«
»War diese Bewegung hier in Snæfellsnes weit verbreitet?«, fragte Dóra unschuldig.
Der alte Mann kratzte sich am Kopf. Dóra bemerkte, dass er für einen so alten Mann außergewöhnlich dichtes Haar hatte, das jedoch vollkommen weiß war. »Zum Glück konnte dieser Unsinn hier nie richtig Fuß fassen«, sagte er und schaute Dóra mit seinen farblosen, wässerigen Augen an. »An der Südküste der Halbinsel gab es einen Mann, der diese Ideologie verbreitet und Gleichgesinnte um sich geschart hat, aber bevor er viel Schaden anrichten konnte, wurde er krank. Und die jungen Männer aus der Gegend, die er für die Sache der Nationalisten gewonnen hatte, verloren bald das Interesse. Es wurde also nie was draus.«
Dóra hätte am liebsten laut hurra gerufen, beließ es aber dabei, beiläufig zu sagen: »Ach ja, stimmt. War das nicht Grímur þórólfsson, der Bauer von Kreppa?« Sie kreuzte die Finger und hoffte, recht zu behalten. Wenn es Börkurs und Elíns Großvater gewesen war, würde das die Nazidevotionalien in der Kiste erklären.
Der alte Mann kniff die Augen zusammen und schaute Dóra misstrauisch an. »Ich dachte, du wüsstest nichts darüber. Ich finde, dafür triffst du aber ziemlich ins Schwarze.«
»Äh, ich kenne nur die Familie«, beeilte sich Dóra zu entgegnen. Sie drehte sich zu Matthias und blinzelte ihm zu. »Also, willst du die Brosche jetzt kaufen?«
»Den Orden«, korrigierte er und zog widerwillig seine Geldbörse hervor. »Was kostet er?«
Sie einigten sich über den Preis, und während der Mann den Orden einpackte, fragte Matthias Dóra: »Wann hast du eigentlich Geburtstag? Ich hab schon ein Geschenk für dich.«
Dóra streckte ihm die Zunge heraus und drehte sich dann zu dem Mann. »Vielen Dank«, sagte sie. Im Zickzack gingen sie zum Ausgang. Als sie bei der Tür angekommen waren, blieb Dóra noch einmal stehen, entschlossen, einen letzten Versuch zu wagen, den Namen des Bauern in Erfahrung zu bringen. Aber sie musste gar nichts mehr sagen.
Der alte Mann stand an seinem Platz hinter dem Tresen, die Hände auf den Tisch gestützt. Er schaute Dóra mit undurchdringlichem Gesicht scharf an, ergriff dann aber das Wort, bevor sie ihre Frage stellen konnte. »Bjarni«, sagte der alte Mann laut und deutlich. »Grímurs Bruder. Bjarni þórólfsson von Kirkjustétt.«
»Dieser Bjarni muss ja ein höchst sympathischer Zeitgenosse gewesen sein«, bemerkte Matthias und legte den Orden auf den Tisch. »Missbraucht seine Tochter und verbreitet Nazipropaganda.« Er drehte den Orden so, dass der Helm und die Schwerter von Dóra wegzeigten. »Ich glaube, der steht dir richtig gut.«
Dóra schob den Orden weg. »Bist du noch ganz dicht?«, sagte sie, »so was würde ich nie tragen. Der bringt bestimmt Pech. Könnte auch auf eine leichte Hirnverletzung hindeuten.« Sie zeigte auf den vor Matthias stehenden Teller. »Iss jetzt lieber, es kommt nicht oft vor, dass ich jemanden zum Essen ausführe.« Sie saßen in einem kleinen Restaurant, in das Dóra Matthias als Entschädigung für den Kauf eingeladen hatte. »Das ist für den Orden, weißt du.«
Sie häufte Pasta auf ihre Gabel und schob sie in den Mund. Als sie den Happen hinuntergeschluckt hatte, schaute sie auf und sagte: »Trotzdem bin ich der Frage, ob das mit Birna zusammenhängt, nicht näher gekommen. Eigentlich weiß ich genauso viel wie vorher.«
»Glaub mir, aus einem Bild von einem Hakenkreuz, das jemand in ein Notizbuch gezeichnet hat, lässt sich wirklich nicht viel schließen.«
»Nein, vielleicht nicht«, entgegnete Dóra. »Ich hab nur so ein Gefühl, dass es wichtig ist.«
»Manchmal sollte man auf seine Gefühle hören«, sagte Matthias. »Aber leider stimmen sie nicht immer.« Er trank einen Schluck Mineralwasser. »Am besten wäre es, wenn du deine Gefühle mit Argumenten untermauern könntest. Am allerbesten mit plausiblen.«
Dóra stocherte mit ihrer Gabel in den Nudeln herum. Mit zufriedener Miene schaute sie auf. »Weißt du, was ich tun sollte?«
»Hm, aufhören, dir den Kopf darüber zu zerbrechen und der Polizei die Ermittlungen überlassen?«, antwortete Matthias hoffnungsvoll.
»Nein«, entgegnete Dóra, »ich müsste mal kurz ins Internet und außerdem Birnas Kalender genauer unter die Lupe nehmen. Ich hab ihn mir nicht so genau angeschaut, weil ich ein schlechtes Gewissen hatte. Gut möglich, dass ich was übersehen habe.« Sie stieß mit ihrem Limoglas gegen Matthias’ Mineralwasser. »Darauf trinken wir!«
Dóra saß an der Rezeption an einem Computer mit Internetzugang für die Gäste. In ihrem Zimmer, wo angeblich drahtloser Empfang sein sollte, lag ihr Laptop, aber nach zehn erfolglosen Versuchen hatte sie es aufgegeben und Matthias mit in die Lobby geschleppt. Dóra zeigte auf den Bildschirm. »Das muss er sein. Grímur þórólfsson wurde im Jahr 1890 in Stykkishólmur geboren und starb 1957 in Reykjavík.« Sie hatte im Grabstättenverzeichnis der Reykjavíker Friedhöfe Grímurs Namen gefunden. Sie klickte ihn an und las vom Bildschirm: »Fossvogur Friedhof. Grab H-36-0077.« Triumphierend schaute sie zu Matthias.
»Ich will dir deine Genugtuung wirklich nicht nehmen, Dóra, aber was haben wir davon?«
»Ich würde gerne wissen, was auf dem Grabstein steht. Wer weiß, vielleicht liegt Kristín neben ihm? Leider lässt sich das über die Grabnummern nicht feststellen, also bin ich gezwungen, jemanden zum Friedhof zu schicken.«
»Wen denn?«, fragte Matthias.
»Den rettenden Engel«, antwortete Dóra, »unsere Bella.«
»Doch, Bella. Ich möchte, dass du zum Fossvogur Friedhof fährst und ein Grab für mich suchst.« Dóra stöhnte leise und verdrehte die Augen. »Ja, und sag mir, was auf dem Grabstein steht und ob neben ihm oder in der Nähe eine gewisse Kristín liegt.« Sie schwieg eine Weile, lauschte den Einwänden der Sekretärin, fiel ihr aber am Ende ins Wort. »Natürlich ist mir klar, dass du nicht gleichzeitig im Büro und auf dem Friedhof sein kannst. Es dauert nicht lange. Du kannst die Anrufe auf dein Handy umleiten, und ruckzuck sitzt du wieder an deinem Platz.« Dóra fasste sich beim Zuhören an die Stirn. »Gut. Und sag mir Bescheid, was du rausgefunden hast.« Sie legte auf. »Puh. Warum kann ich nicht einfach eine normale Sekretärin haben, die sich darüber freut, mal an die frische Luft zu kommen?«
Matthias lächelte. »Sie ist schon in Ordnung. Du musst ihr nur eine kleine Chance geben.« Er lag im Bett, zufrieden mit Gott, der Welt und Bella. Ihr hatte er es zu verdanken, dass Dóra und er einen Moment für sich hatten und er die Richtung bestimmen konnte. Bella war beim ersten Mal nicht ans Telefon gegangen. Auch nicht beim zweiten und dritten Versuch. Daher hatte Dóra beschlossen, ihr eine halbe Stunde Zeit zu geben, bevor sie einen vierten Versuch startete.
Dóra nippte im Bademantel an ihrem Kaffee, den sie in der winzigen Kaffeemaschine auf dem Zimmer zubereitet hatte. Vor ihr auf dem kleinen Beistelltisch lag Birnas Kalender. Eifrig tippte sie mit dem Finger auf eine Seite. »Das ist merkwürdig.« Sie schaute zu Matthias, der halb schlummernd unter der Decke in dem großen Bett lag.
»Willst du sichergehen, dass deine Fingerabdrücke auch ganz bestimmt in dem Buch sind, falls es der Polizei in die Hände fällt?«, fragte er schläfrig.
»Nein, hör zu«, sagte Dóra eindringlich, »hier auf der Seite vor dem Hakenkreuz beschreibt sie die Kisten, die ich unten im Keller durchgesehen habe.« Sie hob das Buch hoch und zeigte Matthias die geöffnete Seite. »Guck mal, hier ist eine Liste über den Inhalt. Sie muss auf dieselben Dinge gestoßen sein wie ich, also auch auf die Nazifahne.«
»Und?«, fragte Matthias. »Was hat deine großartige Entdeckung zu bedeuten?«
Dóra legte den Kalender beiseite. »Ich weiß es nicht genau«, sagte sie und blätterte weiter zu der Seite mit dem Hakenkreuz. »Es ist doch offensichtlich, dass sie das wichtig fand, wenn man bedenkt, wie sorgfältig sie das Symbol gezeichnet und wie oft sie die Linien nachgezogen hat. Sieh nur.« Wieder hob sie das Notizbuch für Matthias in die Höhe.
Er kniff die Augen ein wenig zusammen und ließ sich dann wieder aufs Kissen fallen. »Ja, die Skizze ist tatsächlich sehr detailliert. Was hat sie danebengeschrieben?«
»Alles Mögliche«, sagte Dóra, »manches ist nicht lesbar, weil sie es wieder durchgestrichen hat, aber ich kann Hakenkreuz?? lesen, und hier steht Wo war er damals?? Dann sind da irgendwelche Telefonnummern, die ich leider nicht richtig entziffern kann, weil sie durchgestrichen sind.«
»Vielleicht nachdem Birna sie durchtelefoniert hatte?«, meinte Matthias.
»Fünf, acht irgendwas«, sagte Dóra, die Nase im Buch. Sie richtete sich auf und stemmte die Hände in die Hüften. »Warte mal, ich hab doch die Nummern notiert, die Birna von dem Telefon in ihrem Zimmer aus angerufen hat. Die könnte ich mal testen.« Dóra zog einen Zettel aus der Tasche, stand auf und ging zum Telefon. Sie wählte die erste Nummer und wartete, während es klingelte. Endlich wurde abgenommen. KB Bank, guten Tag! tönte es vom anderen Ende der Leitung. Dóra legte auf. »Fehlanzeige«, sagte sie zu Matthias und probierte die nächste Nummer. Als endlich abgenommen wurde, legte sie den Finger auf die Lippen, um Matthias zu bedeuten, er solle ruhig sein.
»Rehazentrum Reykjalundur, guten Tag«, sagte eine sanfte Frauenstimme.
Darauf war Dóra nicht vorbereitet. Sie hatte gehofft, es handele sich um Privatanschlüsse von Leuten, die sich sofort an Birna erinnerten. Da Dóra nicht wusste, wie sie am besten reagieren sollte, kam sie direkt zum Thema. »Guten Tag, ich heiße Dóra.«
»Hallo, womit kann ich behilflich sein?«, fragte die Frau.
»Ich brauche Informationen über die Architektin Birna Halldórsdóttir. Sie hat sich diese Nummer notiert, und ich dachte, du wüsstest vielleicht oder könntest nachschauen, wen sie im Haus gekannt hat?« Dóra fluchte im Stillen darüber, wie unwahrscheinlich es war, damit Erfolg zu haben.
Die Frau am anderen Ende der Leitung reagierte sehr förmlich. »Leider führen wir keine Liste über die Besucher oder Telefonate unserer Patienten. Wir haben sehr viele Patienten und können das nicht registrieren.«
»Es muss nicht unbedingt ein Patient sein«, sagte Dóra, in der vagen Hoffnung, Birna hätte versucht, einen Angestellten zu kontaktieren.
»Das registrieren wir ebenso wenig«, entgegnete die Frau. »Leider kann ich dir nicht behilflich sein. Entschuldige bitte, ich muss ein anderes Gespräch entgegennehmen. Auf Wiederhören.«
»Reykjalundur«, sagte sie zu Matthias und seufzte. »Das Rehazentrum. Keine Ahnung, wen sie da angerufen hat.« Sie nahm den Zettel erneut zur Hand. »Dann also die dritte und letzte Nummer. Wenn ich nur nicht so schlampig geschrieben hätte. Ist das eine Fünf oder eine Sechs?« Sie nahm den Hörer ab und wählte wieder. »Vier, Eins, Eins …« Sie wählte zu Ende und wartete. Als es fast zehnmal geklingelt hatte, war sie kurz davor, aufzugeben. Im selben Augenblick erklang eine Computerstimme und sagte, der Anruf würde weitergeleitet. Nach nochmaligem Klingeln wurde abgenommen.
»Rathaus, guten Tag.«
»Guten Tag«, sagte Dóra. »Verzeihung, mit wem bin ich denn verbunden? Das Rathaus in Reykjavík?«
»Ja«, sagte das Mädchen, »hast du versucht, Baldvin zu erreichen?« Als Dóra zögerte, fügte das Mädchen hinzu: »Ich kann sehen, dass du seine Durchwahl gewählt hast. Er hat mittwochs zwischen vier und sechs Telefonsprechstunde. Versuch es am besten dann noch einmal.« Sie verabschiedete sich freundlich.
Dóra drehte sich zu Matthias. »Das war die Nummer von Baldvin Baldvinsson im Rathaus. Er ist Stadtrat und scheint da ein Büro zu haben.«
»Und wer ist dieser Baldvin?«, fragte Matthias desinteressiert.
»Der Enkel des alten Magnús«, antwortete Dóra und griff nach dem Notizbuch. Sie musterte die durchgestrichenen Nummern. »Er ist derzeit einer der vielversprechendsten Politiker. Ich bezweifle, dass Birna ihn angerufen hat, um mit ihm über die Umbauten am Sommerhaus seines Großvaters zu diskutieren. Außerdem bin ich mir sicher, dass diese Nummer auch in Birnas Notizbuch steht.« Sie blätterte weiter in dem Kalender. »Ich glaube, ich habe irgendwo eine E-Mail-Adresse gesehen, die von ihm sein könnte.« Rasch blätterte sie durch das Buch, bis sie auf eine Seite mit einer Notiz am Rand stieß: baldvin.baldvinsson@reykjavik.is. »Hier ist es. Das muss er sein.«
»Was glaubst du, was sie von ihm wollte?«
»Ich weiß es nicht, aber wir müssen uns den Alten nochmal vornehmen«, sagte Dóra. Dann nahm sie das Buch wieder zur Hand und blätterte es hastig durch. »Hier stehen bestimmt jede Menge wichtige Informationen. Ich müsste nur die Spreu vom Weizen trennen können.«
»Kannst du dir vorstellen, wie froh die Polizei wäre, wenn sie diesen Kalender hätte?«, fragte Matthias. »Dann wäre der Mörder vielleicht schon hinter Schloss und Riegel.«
»Worauf willst du hinaus?«, fragte Dóra, »meinst du, die Polizei ist schlauer als ich?«
»Nein, nein«, lenkte Matthias ein. »Du hast nur weniger Personal und eine schlechtere Ausrüstung für solche Ermittlungen.«
Da ihr keine passende Entgegnung einfiel, vertiefte Dóra sich in eine zufällig aufgeschlagene Seite. Es war die mit dem geplanten Bauland und Birnas Bemerkungen dazu. Was ist mit dieser Stelle??? Alte Pläne??? Sie musterte jede Ecke und jeden Winkel der Seite, und als sie nichts Neues entdeckte, blätterte sie weiter. Auf der nächsten Seite stand: Vielleicht der Stein? Und dahinter: Es muss Pläne geben — mit Jónas sprechen.
Dóra stand auf und trat ans Fenster. Von dort überblickte man die Stelle, für die Birna sich so brennend interessiert hatte. Dóra wollte überprüfen, ob ihr etwas daran auffiel. Sie zog die Gardine zur Seite und ließ ihren Blick über die saftige Wiese schweifen. Das Land war ziemlich flach, und nach Dóras Eindruck perfekt zur Bebauung geeignet. Sie betrachtete die vorherige Seite und versuchte, den genauen Standort des neuen Gebäudes auszumachen. Er befand sich am östlichen Ende der Wiese, weit genug entfernt, um den bereits bestehenden Zimmern nicht den Blick aufs Meer zu nehmen. »Diese Stelle ist ganz normal«, sagte sie mehr zu sich selbst als zu Matthias. »Eine ganz normale Wiese. Allerdings schlecht gemäht.« Sie kniff die Augen zusammen. Das Einzige, das sich von der grünen windgebeutelten Fläche abhob, war ein grauer Stein. »Komm mit«, sagte sie zu Matthias und langte nach dem Zipfel der Bettdecke, »zieh dich an. Wir müssen einen Stein begutachten.«