»Geh du vor«, sagte Dóra und stieß Matthias leicht an. »Tu einfach so, als wärst du Pferdenarr. Das glauben sie bestimmt, schließlich bist du Deutscher.« Sie standen auf dem Hofplatz von Tunga, und Dóra hoffte, dort den Bauern Bergur anzutreffen. Er schien ihr am ehesten an den Morden beteiligt zu sein, bei denen Jónas nun Hauptverdächtiger wurde. Sie waren fast bei dem äußerst zweckmäßig gebauten Wohnhaus angelangt. Es sah so aus wie viele kleine, um 1970 erbaute Einfamilienhäuser, war jedoch in schlechtem Zustand. Der Anstrich des wellblechverkleideten Dachs blätterte großflächig ab; Roststreifen zogen sich an den überall durchscheinenden Stahlträgern entlang die schmutzige gelblich weiße Außenwand hinunter. »Mach schon, sei nicht so schüchtern«, säuselte Dóra.
»Kommt nicht in Frage, meine Liebe«, erwiderte Matthias und rümpfte die Nase. »Schrecklicher Gestank hier«, fügte er hinzu und sah in alle Richtungen, um die Ursache ausfindig zu machen.
»Ist das nicht einfach nur Landluft?«, meinte Dóra und atmete tief durch die Nase ein. »Es sei denn, der Wind kommt aus der Richtung des gestrandeten Wals. Komm mit«, sagte sie. »Ich übernehme das Reden. Wahrscheinlich ist es sowieso besser, ihnen nichts vorzumachen.« Sie klopfte leicht an die ramponierte Haustür. Daran war ein Holzschild mit den Namen der Bewohner in schnörkeliger Schrift befestigt: Bergur und Rósa. Dóra hoffte inständig, dass die Dame des Hauses nicht zur Tür kommen würde. Sie wollten zu Bergur, und Dóra war nicht bekannt, ob die Ehefrau von seinem Verhältnis mit Birna wusste. Sie wollte nicht diejenige sein, die ihr die Nachricht überbrachte, und es würde nicht viel bringen, mit Bergur zu sprechen, ohne es zu erwähnen.
Die Tür ging auf. Vor ihnen stand ein Mann zwischen dreißig und vierzig. Er war schlank, wirkte aber dennoch muskulös, mit breiten Schultern und kräftigen Unterarmen. Dóra konnte gut verstehen, dass Birna den Mann anziehend gefunden hatte. Etwas an seinen markanten Gesichtszügen und seinem dunklen lockigen Haar machte ihn sehr attraktiv. »Guten Tag«, sagte Dóra. »Bist du Bergur?«
»Ja«, antwortete der Mann und schaute die Gäste fragend an.
Dóra lächelte. »Ich heiße Dóra und bin die Anwältin von Jónas vom Hotel. Das ist Matthias aus Deutschland, der zu meiner Unterstützung hier ist, wenn man das so sagen kann.« Sie zeigte auf den höflich nickenden Matthias. »Wir würden gerne kurz mit dir reden.« Sie schaute ihm in die Augen. »Über den Mord an Birna und den neuesten Leichenfund.«
Bergur sah sie scharf an. Dóra hatte den Eindruck, dass er über den Besuch alles andere als erfreut war. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich was mit euch zu besprechen habe«, sagte er unwirsch. »Ich bin stundenlang von der Polizei verhört worden und vollkommen ausgelaugt. Könnt ihr euch nicht einfach die Zeugenaussage besorgen?«
Dóra lächelte weiter. »Ich spreche lieber mit den Leuten persönlich, als mir ihre Aussagen durchzulesen. Die Fragen, die mich interessieren, werden nicht immer gestellt.« Sie seufzte leicht. »Aber wenn du nicht mit uns reden willst, versuchen wir einfach, morgen deine Frau zu erreichen. Sie ist bestimmt nicht so ausgelaugt wie du.«
Bergur schwankte. »Sie ist mit Sicherheit genauso wenig daran interessiert, mit euch zu reden wie ich.«
»Das wird sich ja dann herausstellen, nicht wahr?«, entgegnete Dóra. »Ich rufe an und erkläre ihr unser Anliegen. Ich bin mir sicher, dass sie mich dann treffen will.« Dóra hoffte, dass das genügen würde. Sie setzte ihr coolstes Pokerface auf, damit er nicht auf die Idee kam, dass sie ihm etwas vorspielte.
Bergur warf einen Blick über die Schulter zurück ins Haus. Dann drehte er sich wieder um und schaute Dóra wütend an. Matthias ignorierte er. »In Ordnung«, meinte er griesgrämig. »Ich rede kurz mit euch, aber nicht hier. Draußen im Pferdestall ist eine kleine Kaffeestube. Da können wir uns hinsetzen.« Er ging wieder in den Flur, zog seine Schuhe an und rief laut: »Rósa! Ich bin draußen!« Dann schloss er wortlos die Tür hinter sich, obwohl seine Frau etwas zurückrief, was Dóra nicht verstehen konnte. Schweigend ging er los.
»Dieser Pferdestall …« rief Dóra ihm hinterher, während er vor ihnen her zu einem neueren wellblechverkleideten Gebäude marschierte, »… ist das der Stall, in dem Eiríkurs Leiche gefunden wurde?« Bergur antwortete nicht. Dóra warf Matthias einen Blick zu und signalisierte ihm, dass es nicht besonders gut lief. Sie wedelte mit der Hand vor ihrem Mund herum und zeigte dann auf Matthias. Sie wollte ihn dazu bringen, sich am Gespräch zu beteiligen. Er schüttelte nur den Kopf.
Sie folgten Bergur zu einer mächtigen Tür, die er mit großer Anstrengung öffnete. »Kommt rein«, sagte er.
»Danke«, sagte Dóra und musste über Matthias’ Gesichtsausdruck lachen. Der Gestank des Pferdemists traf ihn wie ein Donnerschlag. »Gut, dieser Pferdegeruch«, sagte sie zu ihm, ohne dass Bergur sie hören konnte, und blinzelte. Matthias hatte die Lippen so fest zusammengepresst, dass ein Lächeln nicht mehr möglich war. In der Kaffeestube entspannte sich sein Gesicht ein wenig.
»Ihr könnt euch da hinsetzen«, sagte Bergur und zeigte auf drei gepolsterte, um einen alten Küchentisch gruppierte Stühle. Er lehnte sich an einen kleinen Waschtisch mit einer schmutzigen Kaffeemaschine und einer Kiste Gewehrpatronen.
»Vielen Dank«, sagte Dóra und nahm Platz. Sie sah, dass Bergur angewidert beobachtete, wie Matthias sich erst auf den Stuhl setzte, nachdem er mit der flachen Hand darübergewischt hatte.
»Ich weiß nicht, ob du mich eben gehört hast«, sagte Dóra, »aber ist das der Pferdestall, in dem Eiríkurs Leiche gefunden wurde?«
Bergur nickte. »Ja.«
»Und du hast ihn gefunden, oder?«, fragte Dóra. Wieder nickte er schweigend. »Und du hast auch Birnas Leiche entdeckt. Seltsam«, fügte sie hinzu und machte ein verwundertes Gesicht.
Bergur antwortete nicht direkt, sondern starrte sie intensiv unter seinen schwarzen, dichten Augenbrauen an, bis Dóra seinem Blick ausweichen musste. Endlich ergriff er das Wort. »Willst du damit irgendwas andeuten?«, fragte er trocken. »Falls das so ist, kann ich dir nur sagen, was ich auch der Polizei gesagt habe — ich habe nichts mit diesen Todesfällen zu tun.«
»Mordfälle«, korrigierte ihn Dóra. »Sie wurden beide ermordet. Wie dem auch sei, wir wissen, dass du mit Birna eine Affäre hattest. War zwischen euch noch alles okay?«
Bergur errötete leicht. Dóra war sich nicht sicher, ob aus Wut oder aus Scham darüber, mit Unbekannten über seinen Ehebruch zu sprechen. Seine Stimme ließ eher auf Letzteres schließen. »Es lief gut«, sagte er und presste die Lippen zusammen.
»Wusste deine Frau davon? Wie heißt sie nochmal?«, sagte Dóra und fügte dann hinzu: »Ach ja, Rósa. Wusste Rósa davon?«
Seine Röte verstärkte sich. »Nein«, antwortete Bergur. »Sie wusste es nicht und ist immer noch nicht dahintergekommen, glaube ich. Jedenfalls hat sie es von mir nicht erfahren.«
»Es war also nichts Ernstes?«, fragte Dóra. »Ich frage nur, weil du es vor deiner Frau verheimlicht hast.«
»Hätte mehr draus werden können«, antwortete Bergur nervös. »Ich wollte mich von Rósa trennen. Es war nur noch eine Frage der Zeit.«
»Verstehe«, sagte Dóra. »Dann ist es jetzt vielleicht nicht mehr nötig, mit ihr darüber zu reden, oder wie?«
»Das geht dich nichts an«, antwortete Bergur mit feuerrotem Gesicht.
»Nein, natürlich nicht«, sagte Dóra. Sie setzte sich auf ihrem Stuhl zurecht, der dabei fast zusammenbrach. »Ich habe heute etwas über Birna gehört, das mir merkwürdig vorkommt.« Sie verstummte, so als überlege sie, ob sie Bergur etwas anvertrauen konnte.
»Was denn?«, fragte Bergur neugierig.
»Ach, vielleicht ist es nur dummes Zeug«, sagte Dóra und musterte ihre Fingernägel. Dann sah sie auf und schaute Bergur direkt in die Augen. »An dem Tag, an dem Birna ermordet wurde, hatte sie mit zwei Männern Geschlechtsverkehr. Mit dir, nehme ich an, und mit einem anderen. Vielleicht mit dem Mörder — vielleicht auch nicht. Ist es möglich, dass euer Verhältnis in ihren Augen nur ein Zeitvertreib war?«
Bergur richtete sich auf und stieß kräftig Luft aus. »Ich weiß ja nicht, woher du deine Informationen hast, aber mir wurde gesagt, sie sei vergewaltigt worden. Ich denke, man muss kein Genie sein, um zu erkennen, dass dieser Verkehr gegen ihren Willen stattgefunden hat«, stieß er hervor.
»Du warst also einer der beiden?«
Bergur lehnte sich wieder an den Waschtisch. »Ja«, sagte er. »Mit ihrem vollen Einverständnis und lange bevor sie umgebracht wurde. Nachmittags.«
Dóra überlegte kurz. »Was glaubst du, wer Birna getötet hat?«, fragte sie.
»Jónas«, platzte Bergur heraus, »wer denn sonst?«
Dóra zuckte mit den Schultern. »Er behauptet, unschuldig zu sein. Genau wie du. Und warum sollte er ihr etwas antun wollen? Sie hat an einem Projekt gearbeitet, das ihm viel bedeutet hat. Das wird jetzt den Bach runtergehen oder sich zumindest stark verzögern. Soweit ich weiß, hatte er sich mit der Trennung von ihr abgefunden, Eifersucht war also nicht im Spiel. Oder was meinst du?«
»Sie hatten keine Liebesbeziehung«, sagte Bergur wütend. »Sie waren zusammen, aber sie hatten keine Beziehung.« Er schnappte nach Luft. »Aber er hat ihr nachgeweint. Es ist eine Lüge, dass er sich damit abgefunden hätte, dass sie ihn hat fallenlassen.«
»Woher weißt du das?«, fragte Dóra.
»Birna hat es mir erzählt«, antwortete Bergur naiv. »Er hat ihr ständig nachgestellt. Deswegen hat sie nicht mehr im Hotel gearbeitet. Er hat sie einfach nicht in Ruhe gelassen.«
Dóra horchte auf. »Wo hat sie denn gearbeitet«, fragte sie, »irgendwo hier in der Nachbarschaft?«
Bergur registrierte Dóras Interesse sofort. Er kostete es aus, sie ein wenig zappeln zu lassen, gab aber schließlich nach. »In Kreppa«, sagte er, »der Hof gehört zum Hotelgelände, steht aber leer. Da hat sie sich eingerichtet.«
»Ich weiß, welcher Hof das ist«, antwortete Dóra. »Ich war sogar schon dort, hab aber nichts gesehen, was darauf hindeuten würde, dass dort kürzlich jemand gearbeitet hätte«, meinte sie skeptisch. »Weißt du, welches Zimmer sie benutzt hat?«
»Eins der Zimmer in der oberen Etage«, antwortete Bergur.
»Verstehe.« Dóra war entschlossen, so bald wie möglich noch einmal dorthin zu gehen. Es mussten noch Dinge dort sein, die Birna gehört hatten, hoffentlich etwas, das Licht auf ihren Tod werfen würde. »Sag mir eins: Kennst du dich zufällig mit der Geschichte der beiden Höfe aus, Kreppa und Kirkjustétt?«
Bergur schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er. »Ich bin aus den Westfjorden. Bin erst mit zwanzig hergezogen.«
»Hast du schon mal was von einem Brand bei Kirkjustétt gehört?«, fragte sie mit vager Hoffnung.
»Nein, noch nie«, antwortete Bergur. »Die Höfe standen schon immer so da; es könnte nur kurz nach ihrem Bau gebrannt haben, dann hätte man die Schäden sofort beseitigt. Aber ich bezweifle es, denn Birna hat sich sehr für die Geschichte der beiden Höfe interessiert und mir gegenüber nie so etwas erwähnt.«
»Hat sie mit dir über die Geschichte der Höfe gesprochen?«, fragte Dóra hoffnungsvoll, »und hat sie in diesem Zusammenhang jemals Nazis erwähnt?«
Bergur hob die Brauen. »Ja, doch«, sagte er. »Sie hat mir zwar nichts erzählt, aber sie hat mich gefragt, ob ich etwas über Nazis hier in der Gegend weiß. Natürlich wusste ich nichts darüber, und als ich nachgefragt hab, hat sie nur gemeint, es sei nicht so wichtig. Komisch, dass du das erwähnst.«
»Und Kristín?«, fragte sie. »Hat sie jemals den Namen Kristín erwähnt?«
Bergur lachte höhnisch auf und grinste. »Zeig mir einen Isländer, der noch nie den Namen Kristín erwähnt hat.«
»In Ordnung«, sagte Dóra. »Ich würde dich gerne noch nach dem Hellseher, Eiríkur, fragen. Hast du ihn gekannt?«
»Nein«, antwortete Bergur. »Ich wusste, wer er war. Das ist alles. Hab nie mit ihm geredet.«
»Kannst du mir erzählen, wie du ihn gefunden hast, und vielleicht auch, wie die Sache passiert ist?«
»Wollt ihr es nicht lieber mit eigenen Augen sehen?«
Matthias und Dóra standen auf und folgten ihm in den eigentlichen Stalltrakt. Dóra hatte sich an den Geruch gewöhnt, aber Matthias verzog beim Verlassen der Kaffeestube leicht das Gesicht. Sie gingen zu einer Box mit höheren Wänden als die anderen. »Hier lag er«, sagte Bergur, bleich im Gesicht. »Der Hengst hat ihn in der Box totgetreten. So sah es jedenfalls aus.« Er öffnete die Boxentür. »Das Pferd ist im Moment nicht hier.«
Dóra lugte hinein. Es gab nicht viel zu sehen, der Boden war freigeschaufelt. »Die Polizei hat den Tatort bestimmt gründlich untersucht«, meinte sie.
»Ja, sie waren die ganze Nacht hier«, entgegnete Bergur. »Der Anblick war lange nicht so schön wie jetzt.«
»Das kann ich mir vorstellen«, sagte Dóra. »Was wolltest du im Stall?«
»Füttern«, antwortete er kurz angebunden. »Leider Gottes.«
»Leider Gottes?«, fragte Dóra. »Was meinst du?«
»Ich wünschte, ich hätte es nicht sehen müssen«, antwortete Bergur gerade heraus. »Der Anblick war entsetzlich. Der Fuchs, die Nadeln, das Blut und der arme Mann erst.«
»Der Fuchs?«, fragte Dóra neugierig. »War da ein Fuchs drin?«
»Ja«, antwortete Bergur. »Der Leiche auf die Brust gebunden. Zuerst dachte ich, das wäre eine Perücke, aber dann wurde mir klar, worum es sich handelte. Ich stand längere Zeit wie angewurzelt davor, konnte nicht rausgehen. Musste ihn einfach anstarren.« Er schloss die Box.
»Warum bindet man jemandem einen Fuchs auf die Brust?«, dachte Dóra laut. »Haben Füchse hier in der Gegend eine bestimmte Bedeutung?«
»Nein, nicht, dass ich wüsste«, antwortete Bergur. »Ich habe keine Ahnung, was das bedeuten sollte. Vielleicht, um das Ganze noch abscheulicher zu machen. Der Geruch des Fuchses war ekelhaft. Er war schon viel länger tot als Eiríkur.«
Dóra nickte nachdenklich. Ihr fiel keine logische Erklärung ein. »Und welche Nadeln meinst du? Hatte sich der Mann eine Spritze gesetzt?« Vielleicht war das der Grund für þórólfurs merkwürdige Fragen nach Akupunktur und Nähsets.
Bergur sah sie scharf an, offenbar nicht sehr erfreut, die Geschichte noch einmal aufrollen zu müssen. Er schluckte hörbar, bevor er wieder das Wort ergriff. »Die Leiche hatte Nadeln in den Fußsohlen.« Er zögerte, fügte dann aber hinzu: »Genau wie bei Birna.« Er schüttelte sich. »Wer auch immer ihnen die in die Füße gesteckt hat, muss völlig gefühlskalt sein.«
»Nadeln?«, fragte Dóra fassungslos. »Stecknadeln?«
»Ja«, sagte Bergur und presste wieder die Lippen zusammen. »Ich möchte lieber nicht darüber reden. Es ist nicht so leicht, das alles detailliert zu wiederholen.«
Dóra beließ es dabei, zumal sie so verblüfft war, dass sie keine Ahnung hatte, was sie als Nächstes fragen sollte. Was brachte einen Mörder dazu, seinen Opfern Stecknadeln in die Fußsohlen zu stechen? Waren Birna und Eiríkur gefoltert worden, um ihnen Informationen zu entlocken? Dóra überlegte nicht weiter, sondern wandte sich einem anderen Thema zu. »Darf ich fragen, ob du erklären konntest, wo du warst, als Birna und Eiríkur ermordet wurden?«
»Jein«, antwortete Bergur. »Ich konnte erklären, wo ich war, aber wie meistens war ich alleine, daher kann niemand außer meiner Frau es bezeugen.« Er schaute Dóra an, als wolle er sie beschwören, seine Worte nicht anzuzweifeln. Dóra kam gar nicht auf die Idee, denn sie hielt ihn für vernünftiger als Jónas, der sich ein Alibi ausgedacht hatte, das sich mühelos widerlegen ließ. »Sie würde die Polizei nie anlügen«, fügte er verdrossen hinzu, als handele es sich dabei um einen großen Nachteil.
»Eine Frage noch«, beeilte sich Dóra zu sagen. »Was bedeutet RER?«
Bergur packte den Griff der Boxentür und öffnete sie erneut. »Ich habe keine Ahnung.« Er zeigte auf die hintere Boxenwand. »Eiríkur hat es in die Wand geritzt, bevor er starb.«
Dóra ging in die Box, und Matthias folgte ihr. Sie erklärte ihm, was Bergur gesagt hatte, und sie beugten sich beide über die Stelle. Matthias nahm sein Handy und machte ein Foto. »RER«, sagte Dóra, als sie hinter ihm wieder die Box verließ. »Was könnte das bedeuten?«
Bergur zuckte mit den Schultern. »Wie gesagt — ich habe keine Ahnung, was es bedeuten soll.« Er schloss die Boxentür. »Ich muss wieder rein. Reicht euch das?«
Ein leises Knarren ertönte, und die Tür des Pferdestalls ging auf. Zögernd trat eine Frau in Bergurs Alter ein. Dóra erschrak bei ihrem Anblick. Sie war nicht hässlich oder entstellt, aber etwas an ihrer Haltung und Kleidung machte sie furchtbar abstoßend. Ihr Haar wirkte tot und farblos und war mit einem Band zusammengebunden, das schon bessere Tage gesehen hatte. Ihre kurzen Wimpern trugen nicht einen Hauch von Wimperntusche. Es wäre schwierig, diese Frau fünf Minuten nachdem man sie gesehen hatte, zu beschreiben, und das schien ihr bewusst zu sein; offenbar wäre sie am liebsten im Boden versunken. Dóra versuchte, ihr aufmunternd zuzulächeln. Die Frau stand unsicher im Türrahmen, räusperte sich und sagte dann mit leiser Stimme zu Bergur: »Kommst du rein?« Dóra und Matthias ignorierte sie.
»Ja«, antwortete Bergur. In seiner Stimme lag nicht eine Spur von Wärme. »Geh rein. Ich komme.«
»Also dann«, sagte Dóra fröhlich. »Wir beeilen uns besser.« Sie drehte sich zu Bergur. »Vielen Dank. Es war gut, den Tatort sehen zu können.« Ihr Blick wanderte von Bergur zu der Frau, die Rósa sein musste. »Dein Mann war so freundlich, uns die Box zu zeigen, in der die Leiche gefunden wurde. Ich bin Anwältin und durch meinen Mandanten in den Fall verwickelt.«
Rósa nickte gleichgültig. »Hallo. Rósa.« Sie reichte Dóra nicht die Hand, als sie sich vorstellte. Ihre Augen verweilten für den Bruchteil einer Sekunde auf Dóra, dann drehte sie sich sofort zu ihrem Mann. »Kommst du dann jetzt?«, wiederholte sie. Bergur antwortete nicht.
Dóra versuchte, die heikle Situation mit einer abschließenden Frage zu überspielen, die Matthias glücklicherweise nicht verstand. »Ich habe einen jungen Mann im Rollstuhl beim Hotel gesehen. Ich glaube, er stammt aus der Gegend. Wisst ihr vielleicht, wie er verunglückt ist?« Bergur und Rósa starrten sie regungslos an. »Ihr wisst schon, der mit den schlimmen Brandwunden«, fügte sie erklärend hinzu. Mehr musste sie nicht sagen, denn die Schimpfworte, die Rósa ausspuckte, ließen keinen Zweifel daran, dass sie wusste, um wen es sich handelte. Dóra war wie vor den Kopf gestoßen und beobachtete wortlos, wie Bergur seine Frau am Arm packte und mit sich hinauszog.
Matthias legte Dóra die Hand auf die Schulter. »Ich kann dir mit Worten gar nicht sagen, wie gerne ich diesen schlecht riechenden Ort verlassen möchte. Trotzdem muss ich gestehen, dass ich noch lieber wüsste, was du um Himmels willen zu der armen Frau gesagt hast!«
Magnús Baldvinsson lächelte still in sich hinein. Auch wenn er alt und müde war, gab es Momente, in denen er seine gebrechliche Hülle vergaß und sich so fühlte wie in jungen Jahren. Jetzt war einer dieser Momente. Er wählte seine eigene Nummer und wartete beschwingt darauf, dass seine Frau abhob. Er nahm einen großen Schluck von dem Cognac, den er an der Bar gekauft hatte, und genoss das Gefühl, wie die goldene Flüssigkeit seine Mundhöhle erwärmte, bevor er sie hinunterschluckte. »Hallo Fríða«, sagte er. »Es ist vorbei.«
»Was?«, hörte er seine Frau sagen. »Kommst du nach Hause? Was ist passiert?«
»Die Polizei hat einen Mann wegen des Mordes an Birna festgenommen«, antwortete Magnús und schwenkte das Glas vor seinen Augen hin und her. »Du kannst Baldvin sagen, er soll mich abholen, wenn es ihm passt.«
»Er ist im Ostland und bereitet den Parteitag vor. Wenn ich mich recht erinnere, kommt er heute Abend erst spät nach Hause«, antwortete seine Frau mit ängstlicher Stimme. »Soll ich jemand anderen bitten, dich abzuholen?«
»Nein, nein«, antwortete Magnús unbekümmert. Zu seiner Freude über die nachlassende Anspannung und Beklemmung der vergangenen Tage gesellte sich der altbekannte Stolz auf seinen Enkel. »Ich würde gerne mit ihm fahren. Möchte hören, was er vom Parteitag zu berichten hat.«
»Seit er dich nach Snæfellsnes gebracht hat, fragt er ständig, ob es Neuigkeiten von dir gibt«, erklärte seine Frau.
Sie verabschiedeten sich, und Magnús legte auf. Er ließ seine Hand einen Moment auf dem Hörer ruhen und zog sie dann weg. Er wusste nicht, ob es die alte Pranke war, die ihn wieder in die Gegenwart riss, oder der Alkohol, aber er fühlte sich wieder wie ein alter Mann. Verwundert spürte er, wie ihm eine Träne über die raue Wange lief; er sah sie auf sein Hosenbein tropfen. Als er den Fleck anstarrte, wurde er von Schuldgefühlen und Übelkeit gepackt. Kristín.
Dóra massierte ihre Schläfen. »Ich weiß nicht, ob uns das weiterbringt, aber der Vers auf Grímur þórólfssons Grabstein ist aus der Hávamál«, erklärte sie und lehnte sich in ihrem Stuhl vor dem Computer zurück. Stolz schaute sie zu Matthias, wobei sie merkte, dass er gar nicht wusste, worüber sie sprach. »Die Hávamál, des Hohen Lied, ist ein altes, Odin in den Mund gelegtes Sittengedicht. Vieles davon klingt noch heute sehr vernünftig.« Dóra kannte Matthias’ desinteressierten Gesichtsausdruck aus ihrer eigenen Schulzeit, als sie zum ersten Mal ernsthaft mit der Hávamál konfrontiert worden war. »Wie dem auch sei«, fuhr sie fort, »hier steht, dass der Vers beschreibt, wie unwohl man sich fühlt, wenn man von anderen abhängig ist.«
»Was uns nicht wirklich viel sagt«, entgegnete Matthias. »Das weiß doch jedes Kind.«
»Ich finde, es sagt eine ganze Menge«, erwiderte Dóra. »Der Vers wurde doch bestimmt nicht grundlos in Grímurs Grabstein eingraviert. Jedenfalls ist er nicht einfach aus der Luft gegriffen.« Sie widmete sich wieder dem Internet und versuchte, den Vers auf dem Stein hinter dem Hotel zu finden, was nicht einfach war. Dóra entdeckte lediglich einen Hinweis auf eine Stelle in den Volksmärchen von Jón Árnason, in der es um ausgesetzte Kinder ging. Trotz mehrmaliger Versuche gelang es ihr nicht, den vollständigen Text der Märchensammlung im Internet zu finden. »Dieser Vers hat mit ausgesetzten Kindern zu tun«, sagte Dóra und beschrieb, was sie gefunden hatte. »Hier steht: Wenn man ungetaufte Kinder aussetzte, wurden sie zu Wiedergängern. Ihr Heulen, das Wiedergängerheulen, ist zu hören, wenn der Wind über ihre Ruhestatt bläst, also über den Ort, an dem sie zurückgelassen wurden. Dann steht hier noch, dass Wiedergänger sich fortbewegen, indem sie sich auf ein Knie stützen und sich mit der Hand vorwärtsziehen.« Sie blickte vom Bildschirm zu Matthias. »Hast du so was durchs Fenster gesehen?« Matthias warf ihr einen vernichtenden Blick zu. Dóra drehte sich wieder zum Monitor und starrte darauf. »Wenn du das nächste Mal einen Wiedergänger siehst, musst du aufpassen, dass er sich nicht dreimal im Kreis um dich herumbewegt, sonst verlierst du den Verstand. Versuch lieber, den Wiedergänger zu verscheuchen, denn dann weicht er zurück und findet am Ende seine Mutter.« Sie schaute erneut zu Matthias und grinste breit.
»Du bist wirklich sehr lustig«, sagte er sauer. »Das war kein Witz mit dem Geräusch, ich hab es wirklich gehört!«
»Ich müsste in der Märchensammlung nachsehen.« Dóra gähnte. »Aber das kann warten.«
»Sehe ich auch so, das eilt nicht«, meinte Matthias. »Mein Gefühl sagt mir, dass dich das nicht zu dem Mörder führen wird.«
»Man weiß nie, mein Lieber«, entgegnete Dóra und startete eine letzte Suche, diesmal nach »Tuberkulose«. Sie überflog die wenigen Seiten, die sie zu dem Thema fand. »Was für ein Pech«, sagte sie. »Ein Antibiotikum gegen Tuberkulosebakterien kam 1946 auf den Markt. Ein Jahr nach Guðnýs Tod.« Sie las noch etwas weiter, schloss dann die Suchmaschine und stand auf. »Ich kann verstehen, warum Guðný und ihr Vater Bjarni nicht in ein Sanatorium wollten. Nach dem, was ich gelesen habe, waren die Versuche, Tuberkulose in den Griff zu bekommen und die Leute zu behandeln, alles andere als angenehm. Künstlich ausgelöstes Kollabieren eines Lungenflügels, Entfernung von Rippen und so weiter, was aber nicht half und den Patienten in den meisten Fällen zum Krüppel machte.«
Matthias tippte ihr sanft auf die Schulter. »Das ist ja alles wahnsinnig interessant, aber ich glaube, du solltest dich mal umdrehen und gucken, wer gerade reingekommen ist.«
Dóra schaute zum Foyer, wandte ihren Blick aber sofort wieder ab. »Was will die denn hier? Glaubst du, sie hat mich gesehen?«
»Ob sie dich zusammenschlagen will?«, flüsterte Matthias ihr ins Ohr. »Aber ich glaube, du bist ihr überlegen.«
Dóra reagierte nicht darauf, sondern schaute sich verstohlen um. Sie beobachtete, wie Jökull, Kellner und Rasenmäher, auf die Bäuerin von Tunga zuging, die unschlüssig vor der verlassenen Rezeption stand. Er trug Anorak und feste Schuhe und umarmte Rósa herzlich, bevor sie zusammen hinausgingen. Beide schienen Matthias und Dóra nicht weiter zu beachten. »Was zum Teufel haben die denn miteinander zu tun?«