12. KAPITEL

SONNTAG, 11. JUNI 2006

Der japanische Vater und sein Sohn waren so übertrieben höflich, dass sich Dóra in ihrer Gegenwart wie ein betrunkener Lkw-Fahrer vorkam. Sie gab sich die größte Mühe, sprach bedächtig, bewegte sich langsam und vermied jegliche unnötige Mimik, aber es nützte nicht viel. Matthias hielt sich wesentlich besser, und Dóra hegte den Verdacht, dass ihm seine Erfahrung aus der Bank in Deutschland dabei zugute kam. Daher hielt sie sich bei dem Gespräch zurück und überließ ihm das Feld. Dóra und Matthias hatten in der Hotellobby auf die beiden gewartet, denn sie machten nach Auskunft von Vigdís jeden Morgen einen kurzen Spaziergang. Jetzt saßen sie alle auf Holzstühlen vor dem Hotel und genossen die seltene Sonne.

»Sie kannten sie also nicht?«, fragte Matthias mit leiser, deutlicher Stimme. Er ärgerte sich immer noch ein wenig über Dóra, die ihn wegen der Geschichte mit dem nächtlichen Kinderweinen aufgezogen und ihm gesagt hatte, er müsse das wohl geträumt haben.

Der Sohn übersetzte seinem Vater die Frage ins Japanische. Dann drehte er sich wieder zu ihnen. »Nein, leider nicht. Wir wissen nicht, wer gemeint ist.«

»Sie war Architektin und hat für den Hotelbesitzer gearbeitet. Eine junge Frau, dunkelhaarig«, fügte Matthias hinzu.

Der ältere Mann legte dem Sohn seine schlanke Hand auf die Schulter und sagte etwas Unverständliches. Der Sohn lauschte konzentriert und nickte dann. Er blickte von seinem Vater zu Matthias. »Es kann sein, dass mein Vater die beschriebene Frau gesehen hat. Sie hat sich hier auf dem Gelände mit einem Mann im Rollstuhl und einer jungen Frau unterhalten. Mein Vater sagt, sie hat eine Zeichnung in der Hand gehabt und darauf etwas notiert. Ist das möglich?«

Matthias warf Dóra einen Blick zu und machte ein fragendes Gesicht. »Hatte Birna etwas mit einem Rollstuhl zu tun?«

»Nicht, dass ich wüsste.«

Matthias bat den Sohn, seinen Vater zu fragen, ob er wüsste, um welche Leute es sich gehandelt habe.

Wieder gab es einen Wortwechsel zwischen Vater und Sohn, den der Sohn anschließend für Matthias und Dóra übersetzte. »Nein, mein Vater kannte die Leute nicht, hatte die Frau aber schon einmal hier im Hotel und die jungen Leute in der Gegend gesehen.« Er neigte den Kopf ein wenig, bevor er weiterredete. »Mein Vater sagt, er hätte das junge Paar bemerkt, weil das Mädchen so liebenswürdig mit dem behinderten Mann umgegangen sei. Aber sonst weiß er nichts über die Leute, und auch nicht über die Architektin. Ich selbst habe die Frau nicht gesehen, darum kann ich leider nicht helfen.«

Matthias und Dóra wechselten einen Blick. Da es keinen Grund gab, die Männer weiter zu behelligen, machten sie Anstalten, aufzustehen. »Herr Takahashi, wir bedanken uns recht herzlich«, sagte Matthias und verneigte sich leicht. Dóra tat es ihm gleich. »Wir wünschen Ihnen noch einen angenehmen Aufenthalt.«

»Vielen Dank«, sagte der Sohn und erhob sich. Er half seinem geschwächten Vater auf die Beine. »Es ist schön hier. Mein Vater war krank, aber die frische Luft tut ihm gut.«

»Ich hoffe, es geht ihm bald besser«, warf Dóra ein und lächelte dem alten Mann zu. Er lächelte zurück, und sie verabschiedeten sich noch einmal. Als sie wieder im Haus waren, sagte Dóra zu Matthias: »Das war ja leider nicht sehr aufschlussreich.«

Matthias zuckte mit den Schultern. »Du hast doch wohl nicht erwartet, dass sie wissen, wer der Mörder ist?« Er runzelte die Stirn. »Aber irgendwie kommt es mir komisch vor, dass der Sohn angeblich keine Ahnung hat, wer Birna war, obwohl sein Vater sie gesehen hat. Weißt du noch, was Vigdís über die beiden gesagt hat? Der Sohn würde seinem Vater auf Schritt und Tritt folgen. Wo war er denn dann, als der Vater Birna und das junge Paar beobachtet hat?«

»Vielleicht hat der Vater sie durchs Fenster gesehen«, meinte Dóra. »Der Sohn hätte uns bestimmt gesagt, wenn er sich an sie erinnern würde. Warum sollte er das verheimlichen?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete Matthias nachdenklich.

»Außerdem ist es komisch, wie lange die beiden miteinander geredet haben, wenn man bedenkt, wie kurz die Antworten waren, die der Sohn übersetzt hat. Ich fand es auch seltsam, dass sie nicht gefragt haben, warum wir uns überhaupt für Birna interessieren.«

»Hat das nicht mit der japanischen Höflichkeit zu tun? Vielleicht ist Neugier dort ein Verbrechen.« Dóra war hungrig und schaute auf die Uhr an der gegenüberliegenden Wand. »Komm, lass uns was essen, bevor das Frühstücksbüfett abgeräumt wird.«

Matthias blickte erst irritiert zu Dóra und dann auf seine Armbanduhr. »Der Speisesaal wird doch nicht schon um acht Uhr geschlossen, oder?«

»Na komm schon«, entgegnete Dóra und trat ungeduldig von einem Fuß auf den anderen, »ich sterbe, wenn ich nicht sofort einen Kaffee bekomme. Außerdem sind bestimmt ein paar andere Gäste da, mit denen wir uns unterhalten können.« Sie waren in aller Herrgottsfrühe aufgestanden, um so viele Hotelgäste wie möglich abzufangen, bevor die sich zu ihren Tagesaktivitäten begaben.

»Ich möchte nicht für deinen Tod verantwortlich sein«, sagte Matthias und folgte ihr. »Auch wenn du mir die Sache mit dem Weinen nicht glaubst.«

»Uuhuuhuu«, jaulte Dóra mit gespielt tiefer Stimme. »Ausgesetzte Kinder — uhuu.« Sie lachte schallend über Matthias’ säuerliches Gesicht. »Stell dich doch nicht so an! Ein Kaffee wird uns aufmuntern.«

Im Speisesaal waren nur drei Tische besetzt. An einem saß ein älteres Paar, das Dóra noch nicht gesehen hatte, am zweiten Magnús Baldvinsson, der alternde Politiker, und am dritten ein tief in Gedanken versunkener junger Mann. Er war braungebrannt und schien kräftig zu sein, obwohl die jugendliche Kleidung seine Figur kaschierte. Dóra beschloss sofort, sich auf den jungen Mann zu konzentrieren. Sie stieß Matthias mit dem Ellbogen an und sagte leise und unauffällig: »Das ist bestimmt der Kajakfahrer, þröstur Laufeyjarson, den Jónas mit Birnas Tod in Verbindung gebracht hat. Siehst du, wie schlecht gelaunt er ist? Komm, wir setzen uns an den Nebentisch.« Sie gingen zum Büfett, und Dóra belud aufs Geratewohl ihren Teller. Matthias ließ sich Zeit, während er das Angebot begutachtete, indem er am Büfett entlangschlenderte. Wieder stieß sie ihn mit dem Ellbogen an. »Beeil dich. Er darf nicht gehen, bevor wir uns gesetzt haben.« Matthias schaute sie enttäuscht an, griff dann wahllos nach einem Joghurt und ging mit ihr zu dem Tisch neben dem Kajakfahrer. Dóra lächelte dem Mann zu, als sie sich setzte. »Guten Morgen, tolles Wetter heute!«

Der Mann schaute nicht auf und schien sich nicht angesprochen zu fühlen. Er gähnte und trank einen Schluck Orangensaft. Dóra versuchte es noch einmal. »Entschuldigung«, sagte sie laut, damit kein Zweifel daran aufkam, dass ihr Tischnachbar gemeint war, »weißt du, ob es hier einen Bootsverleih gibt? Wir möchten eventuell ein Boot mieten. Oder ein Kajak.«

Der Mann schluckte, schaute Dóra verwirrt an und antwortete auf Englisch: »Äh, meinen Sie mich? Ich spreche leider kein Isländisch.«

»Oh.« Dóra war leicht irritiert. Offensichtlich handelte es sich nicht um þröstur Laufeyjarson. Sie lächelte entschuldigend. »Verzeihung, ich habe Sie mit jemandem verwechselt.« Sie versuchte, ein anderes Thema anzuschneiden, damit ihr der Mann nicht durch die Lappen ging. »Sind Sie neu angekommen?«

Er schüttelte den Kopf. »Nein, ich bin schon länger hier. Allerdings mit Unterbrechungen, bin herumgereist.«

Dóra versuchte, Interesse für seine Reisen vorzutäuschen und gleichzeitig natürlich zu wirken. »Wo waren Sie denn? Hier gibt es ja so viel zu sehen!«

Der junge Mann schien nicht unglücklich über die Gesellschaft zu sein. Er drehte sich ein wenig auf seinem Stuhl, sodass er Dóra und Matthias besser sehen konnte. »Überwiegend in den Westfjorden. Ich arbeite für ein Reisemagazin. Es geht um sehenswerte Reiseziele und so.«

»Bestimmt ein interessanter Job — oder auch nicht«, sagte Dóra und trank den ersten Schluck Kaffee. Sie erinnerte sich nicht an den Namen des Mannes, aber es musste der Fotograf sein, den Jónas auf der Gästeliste gekannt hatte.

Der junge Mann lachte. »Ja, es kann ziemlich anstrengend sein. Ich bin Fotograf, und meine Tage sind manchmal sehr lang und hart.«

Dóra reichte ihm die Hand. »Wie unhöflich von mir. Ich heiße Dóra.« Sie nickte in Richtung Matthias. »Und das ist Matthias aus Deutschland.«

Der junge Mann reckte sich zum Grüßen über den Tisch. »Hallo. Ich heiße Robin. Robin Kohman. Aus den USA.«

Dóra machte ein überzeugend fragendes Gesicht. »Warten Sie, kann es sein, dass ich Sie mal mit Birna gesehen habe?«

Robin zuckte die Achseln. »Birna?«

»Ja, Birna, die Architektin, die hier …« Sie schaute ihn erwartungsvoll an.

»Ach, die Architektin! Birna«, sagte Robin gut gelaunt. Er sprach den Namen völlig anders aus als Dóra. »Doch, die kenne ich, ich habe nur den Namen nicht richtig verstanden. Mir ist die Aussprache noch nicht so geläufig. Ihre Worte klingen alle gleich.« Robin nahm den letzten Schluck Saft und tupfte sich mit der Serviette die Mundwinkel ab. »Ja, ich habe sie flüchtig kennengelernt. Habe ein paar Fotos für sie gemacht, und sie hat mir Orte hier in der Umgebung gezeigt, die als Fotomotive in Frage kommen.«

»Wissen Sie noch, wann Sie sie zuletzt gesehen haben?«, fragte Matthias. Er hatte seinen Joghurtbecher immer noch nicht geöffnet.

Robin überlegte kurz. »Nein, das muss ein paar Tage her sein. Ist was passiert?«

»Nein, ich glaube nicht«, log Dóra. »Wir wollten uns nur mit ihr treffen.« Aus dem Augenwinkel sah sie, dass Magnús Baldvinsson aufstand und hinausging.

»Falls Sie sie sehen, sagen Sie ihr doch bitte, dass ich ihre Fotos noch habe.« Robin erhob sich.

»Sollte dieser unwahrscheinliche Fall eintreten, dann tun wir das«, entgegnete Matthias mit einem zweideutigen Lächeln. Als Robin sich verabschiedet hatte, hob er den Joghurtbecher hoch und wedelte damit vor Dóras Gesicht herum. »Darf ich mir jetzt was Vernünftiges zu essen holen?«


Magnús Baldvinsson spazierte über das Hotelgelände und versuchte, mit seinem Handy Empfang zu bekommen. In seinem Zimmer gab es keinen, und er wollte nicht im Flur oder im Speisesaal, wo schwacher Empfang war, in Anwesenheit anderer telefonieren. Zweimal wäre er fast gestolpert. Es war schwierig, gleichzeitig auf das Display und auf den steinigen Untergrund zu achten. Als das Handy Empfang anzeigte, atmete er auf und tippte eilig die Nummer von zu Hause ein. Er stand auf dem Parkplatz und malte sich aus, dass die Gäste bald nach draußen strömen würden. Ungeduldig lauschte er dem Klingeln. Endlich wurde abgenommen.

»Fríða! Hab ich dich geweckt?«

»Magnús? Wie spät ist es eigentlich?« Magnús’ Frau gähnte ausgiebig.

»Ungefähr acht Uhr«, antwortete er angespannt.

»Ist was passiert?«, fragte Fríða besorgt. Ihre Stimme klang jetzt nicht mehr schläfrig.

»Nein, nichts Besorgniserregendes. Ich wollte dir nur sagen, dass ich noch ein bisschen länger bleibe.« Magnús sah die Hoteltür aufgehen. Ein junger Mann im Trainingsanzug kam heraus. Als er sich vom Parkplatz wegbewegte und auf den Strand zusteuerte, atmete Magnús erleichtert auf. »Hier sind Leute, die sich nach Birna erkundigen.«

»Erkundigen? Wonach erkundigen sie sich denn? Haben sie mit dir gesprochen?« Die Angst in ihrer Stimme war fast greifbar. Fríða hätte immer weitergefragt, wenn Magnús ihr nicht ins Wort gefallen wäre.

»Fríða, bleib ganz ruhig.« Er holte tief Luft und versuchte, nicht die Beherrschung zu verlieren. Mit jedem Jahr wurde Fríða nervöser, und es bedurfte keines Mordes, um sie aus der Fassung zu bringen. Wenn er darüber nachdachte, hatte sie sich im Grunde jetzt, wo die Situation wirklich belastend war, unglaublich gut im Griff. »Ich weiß nicht, wieso diese Leute hier herumschnüffeln, und nein, sie haben mich noch nicht angesprochen. Ich rufe nur an, um dir zu sagen, dass ich noch ein paar Tage bleibe. Es würde bestimmt verdächtig wirken, wenn ich so plötzlich abreise. Die Polizei war schon zweimal hier, und ich möchte, dass sie hier mit mir reden.« Er seufzte. »Anscheinend wollen sie mit allen vor Ort sprechen.«

Fríða schwieg einen Moment und sagte dann leise: »Baldvin hat angerufen.«

»Was hat er gesagt?«, fragte Magnús vorsichtig. Wenn sein Enkel erwähnt wurde, konnte er seinen Stolz nie verhehlen, trotz der ganzen Aufregung in der letzten Zeit. Baldvin war ein junger, aussichtsreicher Politiker, genauso wie sein Großvater in jungen Jahren. Und außerdem waren sie sich wie aus dem Gesicht geschnitten. Eine Zeitung hatte sogar ein Foto des jungen Magnús neben einem Interview mit Baldvin abgedruckt, um darauf aufmerksam zu machen, wie ähnlich sie sich sahen. Magnús lächelte in sich hinein. Natürlich würde niemand sie verwechseln; er war ein alter Mann, und Baldvin war jung, rank und schlank.

»Er hat nach dir gefragt. Wann du nach Hause kommen würdest«, antwortete Fríða. »Ich glaube, er will zu dir fahren.«

»Nein!«, rief Magnús erzürnt, »er darf unter keinen Umständen herkommen! Das würde alles nur noch schlimmer machen. Er hätte neulich lieber zu Hause bleiben und nicht versuchen sollen, mir zu helfen.«

»Er meint es doch nur gut«, entgegnete seine Frau. »Vielleicht tut es auch gar nichts zur Sache. Wenn diese Birna mit jemandem gesprochen hätte, würdest du es jetzt bestimmt wissen. Vielleicht ist mit ihr alles gestorben.« Die Frau seufzte. »Sollen wir das nicht einfach hoffen und es gut sein lassen?«

Magnús seufzte. »Wir können nicht sicher sein, Fríða. Ich habe schon zu viel aufs Spiel gesetzt und kann jetzt so kurz vorm Ziel nicht einfach aufhören. Geschweige denn Baldvin. Ich bleibe hier und warte ab. In den nächsten Tagen wird sich alles klären. Ganz bestimmt.«

»Soll ich kommen? Nimmst du deine Medikamente?« Fríða war kurz davor, die Kontrolle zu verlieren.

»Komm nicht! Auf keinen Fall! Und halt um Himmels willen Baldvin davon ab, noch einmal herzukommen.« Magnús holte tief Luft. »Fríða, die Verbindung ist sehr schlecht; du kannst mich hier auf dem Handy nicht anrufen. Aber übers Hoteltelefon auch nicht. Man weiß nie, wer in der Leitung ist. Ich melde mich regelmäßig bei dir.«

Magnús beendete das Telefonat. Er betrachtete den malerischen Küstenstreifen, drehte sich dann um und sah zu den Bergen im Norden. Er wartete darauf, von Glück und Frieden erfüllt zu werden, aber nichts geschah. Plötzlich überkam ihn eine abgrundtiefe Wut. Mit ihren Intrigen und ihrer Boshaftigkeit hatte Birna alles zerstört, was ihm lieb war. Die Heimat. Nun weckte sie nur noch Furcht in seiner Brust. Er war zu alt, um mit dieser Angst umgehen zu können; sein Selbstbewusstsein war wie weggewischt. Es würde schlecht ausgehen. Für ihn und für Baldvin. Seine Wut verflog ein wenig, und stattdessen überfiel ihn Traurigkeit. Vielleicht war Birna die Wurzel allen Übels gewesen, und der Mord an ihr der Anfang vom Ende. Aber im Grunde war er selbst schuld.

Magnús hatte einmal gelesen, dass die Schatten alter Sünden ewig währen und man sich nicht vor ihnen verstecken kann. Daran hätte er denken sollen, damals.

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