9. KAPITEL


Ein schweres Fieber hatte Volker gepackt. Unfähig, sich zu bewegen, lag er in der Grabhöhle, und später wußte er nicht mehr zu sagen, was von dem, was sich bis zu seiner Genesung ereignete, wirrer Fiebertraum und was Wirklichkeit war. Einmal hockte ein großer, schwarzer Rabe auf seiner Brust, der gierig nach dem brandigen Fleisch pickte, dann wieder sah er eine Frau in einem Umhang aus Rabenfedern neben sich knien.

Die Gebeine der Toten erhoben sich aus den Grabnischen und tanzten um ihn. Allen fehlte der Schädel, und doch konnten sie zu ihm sprechen und flüsterten ihm, daß er schon bald zu ihnen gehören würde.

Einmal erwachte er und sah, über sich gebeugt, die Frau, die ihm die Decke gebracht hatte. Jetzt hielt sie ein Messer in der Hand. Sie schnitt das schwärende Fleisch aus der Wunde auf seiner Brust und legte ihm dann einen Verband an, der nach Essig und nach Kräutern duftete. Er hatte keine Kraft, sie anzusprechen. Nicht einmal die Augen konnte er bewegen. Es war, als habe ein Zauber sie in den Höhlen festwachsen lassen.

Das faulige Fleisch und die eitergetränkten Verbände legte die Fremde in eine flache Schale aus Ton, und Volker begriff, daß nicht die Toten es waren, von denen der Verwesungsgeruch ausging. Die schöne Heilerin hatte indessen ein Pulver in einen kleinen Becher aus Silber geschüttet und hielt nun ihre Hände darüber.


»O Schattenverschlinger, der aus der Grube hervorgeht,

ich habe kein Unrecht getan und meine Reinheit bewahrt.

O Schreckgesicht, das aus Rasetjau hervorgeht,

ich habe keinen Menschen getötet und meine Reinheit bewahrt.

O Knochenzerbrecher, der du aus den alten Städten hervorgehst,

ich habe keine Nahrung gestohlen und meine Reinheit bewahrt.

O Schlangendrachen, der aus der Schlachtstätte hervorgeht,

ich habe nicht den Mann einer anderen Frau beschlafen und meine

Reinheit bewahrt.

O Große Mutter, die du die Fruchtbarkeit bringst,

ich habe mich allein dir geschenkt und meine Reinheit bewahrt.

O Götter des Himmels, der Erde, des Feuers und der See,

leiht mir Eure Kraft, auf daß ich vermag, meine Reinheit in diesem

Trunk aufgehen zu lassen.

O Götter des Himmels, der Erde, des Feuers und der See,

nehmt das Gift aus der Wunde des Fremden und laßt es in den

grauen Stein fließen, in dem das Böse gefangen ist.«


Die Fee stützte Volkers Kopf und setzte ihm den Becher an die Lippen. Der Spielmann bemühte sich zu schlucken. Süßer Wein füllte seinen Mund und tropfte ihm auf die Brust. Erst als er den Becher bis zur Neige geleert hatte, ließ die Fee sein Haupt wieder zurücksinken. Aus einem kleinen bestickten Beutel an ihrem Gürtel holte sie einen grauen Stein, durch den ein Loch gebohrt war, und schob ihn zwischen die Verbände auf seiner Brust.

Wohlige Wärme durchströmte Volkers Körper, so als habe er einen starken Branntwein getrunken. Er beobachtete, wie die Fee ein kleines Feuer in einer kupfernen Schale entfachte und dann Kräuter in die Flammen warf, deren Duft den Geruch des fauligen Fleisches vertrieb. Langsam wurden ihm die Augenlider schwer. Wie von Ferne erklang leises Harfenspiel, und er konnte die melancholische Stimme einer Frau hören, die ein Lied sang, dessen Worte er nicht verstand. Dennoch war er sich sicher, daß es die Klage um einen Toten sein mußte, und er fragte sich, ob sie wohl für ihn sang.



Sie erreichten Martinopolis an einem strahlenden Nachmittag. An einer kleinen, steinernen Brücke über die Cisse legte die kleine Gruppe eine letzte Rast ein, bevor der Bischof und sein Gefolge in die Stadt einritten. Von dort konnte man weit über das Land sehen. Der Fluß erschien wie ein breites, silbernes Band, an dem sich zahllose Seen aufreihten. Die Felder entlang des Wassers waren von zartem Grün, durchsetzt mit bunten Tupfen. Der Frühling hatte hier schon Einzug gehalten. Mächtig erhoben sich die Wälle der Stadt über den Fluß. Viele Bollwerke und Schanzen verstärkten die dicken Festungsmauern. Dahinter streckten sich die kantigen Türme der Kirchen zum Himmel, überragt von der mächtigen Kathedrale Saint-Gatien.

Sie waren durch das Portal des Kreuzes in die Stadt eingeritten, vorbei an der Abtei Marmoutier und der alten, aus groben Felsblöcken gemauerten Siebenschläfer-Kapelle. Durch die engen Gassen der Weber und Tuchhändler führte sie ihr Weg zur Burg, die nahe dem Ufer der Loire lag. Die Banner des Königs und seiner bedeutendsten Herzöge wehten von den Zinnen. Golo war überrascht, wie schnell man den Bischof in die Festhalle durchließ. Jehan war nicht nur der geistliche Herr von Saintes, sondern auch der Graf von Niort. Einst war er nur der dritte von vier Brüdern, und damit es keine Streitigkeiten um die Erbfolge gab, hatte man ihn und seinen jüngeren Bruder in Klöster gesteckt, während die beiden älteren Brüder auf die Herrschaft vorbereitet wurden. Jehan war ein geistlicher Fürst geworden, so wie es seiner edlen Geburt anstand, doch hatte er sich stets mehr zu den Turnierplätzen der Adelssitze als zu den Bibliotheken der Klöster hingezogen gefühlt. Seine beiden älteren Brüder waren gestorben, bevor sie einen Nachkommen zeugen konnten, und daher hatte er den Grafentitel angenommen, ohne deshalb auf seine Bischofswürde verzichten zu müssen. So war er zu einem der mächtigsten Männer Aquitaniens geworden.

Jehan trug ein prächtiges Gewand aus Gold und Purpur, dazu den breitkrempigen Bischofshut, als er vor seinen König trat. Wie stets hatte er ein Schwert umgegürtet, und statt leinener Unterkleider, so wie sie einem Geistlichen anstanden, hatte er ein Kettenhemd angelegt. Das Lärmen in der großen Festhalle verstummte fast augenblicklich, als er eintrat und mit festem Schritt auf die erhöhte Tafel des Königs zuhielt. Dicht hinter ihm folgte Golo, der den Schild Volkers und dessen blutbesudelten Waffenrock auf den Armen trug. Der Knecht war in die Gewänder seines Herren gekleidet und so prächtig herausgeputzt, als sei er selbst ein Mann von Stand. Vier Krieger in roten Waffenröcken bildeten ihre Eskorte.

»Mein König, man verhöhnt Euch«, rief Jehan mit donnernder Stimme. Alle Blicke richteten sich auf den Bischof. Es war jetzt so still, daß man das Knistern der Holzscheite in dem großen Kamin am Ende des Saales hören konnte. »In den Sümpfen bei Marans haben sich Rebellen gegen Eure Herrschaft empört. Sie haben die Burg des jungen Barons Rollo niedergebrannt und ihn zusammen mit all seinen Bewaffneten hingerichtet. Sie schänden die Kirchen entlang des Sumpfes und zwingen die Bauern dazu, wie in alten Zeiten zu Bäumen und Waldgeistern zu beten. Wer sich ihnen widersetzt, dem schlagen sie den Kopf ab und spießen ihn zu Ehren der blutrünstigen Heidengöttin Morrigan auf einen Pfahl. Inmitten der Sümpfe herrscht ein Weib, das sich den Titel einer Königin gegeben hat, und die Bauern dort bringen ihr mehr Ehrfurcht entgegen als Euch, mein Herr.«

Ein Mann mit aschblondem Haar und kurzgeschorenem Bart erhob sich. Er trug einen schmalen Goldreif über der Stirn. Seine Augen funkelten spöttisch. »Und woher wißt Ihr all dies, Bischof Jehan? Wenn ich mich recht erinnere, liegt Saintes ein gutes Stück von den Sümpfen entfernt. Und warum wendet Ihr Euch an mich? In Gottes Namen habt Ihr meine Erlaubnis, ein paar Rebellen zu jagen, wenn es Euch Freude bereitet, und sie an ihren heiligen Bäumen aufzuknüpfen.«

»Mein Herr, Ihr verkennt die Lage. Das sind nicht nur ein paar mit Knüppeln bewaffnete Leibeigene, die sich dort erhoben haben. Sie haben eine Burg gebrandschatzt, die von mehr als zwanzig erfahrenen Kriegern verteidigt wurde. Aber das ist nicht genug. Erinnert Ihr Euch daran, daß der junge Baron Rollo die Nichte des Burgundenkönigs Gunther geheiratet hatte? Dieses Weib wurde als Sklavin in die Sümpfe verschleppt. Gunther hat bereits einen seiner besten Ritter geschickt, um mit den Rebellen über ihre Freilassung zu verhandeln.«

Golo konnte beobachten, wie sich die Hände des Königs zu Fäusten ballten. »Der Burgunde hat einen Ritter zu den Rebellen geschickt und nicht an meinen Hof! Glaubt er, ich sei nicht mehr Herr in meinem Königreich?«

»Es kommt noch schlimmer, mein König. Jener Edle, Volker von Alzey geheißen, wurde von den Rebellen heimtückisch ermordet. Nur sein Gefährte, Golo von Zeilichtheim, konnte dem feigen Anschlag entgehen. Er focht wie ein Löwe, um seinen sterbenden Herrn aus der Gewalt der Sumpfleute zu befreien. Tretet vor, Golo, und legt dem König die Beweise für das Schicksal Eures Herrn vor.«

Golo wünschte, er hätte niemals sein Dorf verlassen. Mit weichen Knien trat er vor die Tafel des Königs und legte den zerschlagenen Schild und den blutbesudelten Waffenrock Volkers nieder. Der Bischof hatte ihm genau eingeschärft, was er nun zu sagen hatte. Golo begriff zwar nicht, worauf die Intrige Jehans abzielte, doch war ihm klar, daß es ihn seinen Kopf kosten würde, wenn er sich nicht fügte. »Ich fordere Rache für meinen toten Freund und für die Nichte meines Königs, die verschleppt wurde. Mein Herr...« Golo stockte für einen Herzschlag der Atem. Plötzlich hatte er das Gefühl, daß ihm jeder der hohen Herren ansehen mußte, daß er nicht wirklich von Stand war. »Mein Herr...«

»Nun, was ist mit Seinem Herrn?« Die Stimme des Königs war tief und klang machtbewußt. Es war, als wollten ihn die Worte zu Boden drücken. Golo spürte, wie ihm die Knie zitterten.

»Mein Herr, Gunther von Burgund... Er wird entsetzt sein... Ich meine, er ist mit Sicherheit erzürnt... wenn er... wenn ich ihm Kunde vom Schicksal seiner Nichte bringe... und von einem seiner liebsten Ritter.«

»Will Er mir drohen?« König Eurich beugte sich vor, und Golo wäre am liebsten im Boden versunken, um dem Blick des Herrschers zu entkommen. »Was sollte mich daran hindern, Ihn auf immer in den Kerkern dieser Stadt verschwinden zu lassen? Wenn Sein König nicht um das Schicksal der Verlorenen weiß, so wird er mir auch nicht zürnen.«

»Mit Verlaub, Eure Majestät«, mischte sich der Bischof ein. »Jeder weiß um Eure edle und ritterliche Gesinnung. Sicher hättet Ihr die Macht, diesen jungen und in seinen Worten unbedachten Edelmann in den Kerker zu werfen, doch widerspräche das nicht dem Geist, der an Eurem Hofe herrscht? Die Burgunden sind Opfer einer Bande von heidnischen Aufrührern geworden. Wollt Ihr dieses Übel nicht mit Feuer und Schwert ausmerzen und so der Welt beweisen, daß nichts, was Euren Zorn erweckt, von Bestand sein kann?«

»Ihr versteht es, die Worte wohl zu setzen, Jehan de Thenac. Doch nun sagt mir frei heraus, was Ihr von mir wollt. Ich bin des Wortgeplänkels mit Euch müde, und meinen Gästen wird es sicherlich nicht anders gehen.«

Der Bischof fuhr sich unruhig mit der Zunge über die Lippen. »Nun, Herr, ich werde so offen sprechen, wie Ihr es wünscht. Ich kann es nicht länger ertragen, mitanzusehen, wie Eure Herrschaft in den Sümpfen verhöhnt wird. Die Bauern glauben, daß die Macht der alten Götter wieder erstarkt und daß eine Königin aus alter Zeit zurückgekehrt sei, die sie für die rechtmäßige Herrin Aquitaniens halten. Sie sind überzeugt, daß keiner Eurer Ritter die Streiter dieser Königin bezwingen kann, und sie schlagen den Aufrechten, die Euren Namen nicht verleugnen wollen, die Köpfe ab, um sie nach Heidenbrauch zu Schädelstätten zu tragen. Die Brut des Bösen hat in den Sümpfen Unterschlupf gefunden, und ich schwöre bei Gott, daß ich nicht ruhen werde, bevor dieses Übel ausgerottet ist. Seit Jahren herrscht Frieden in Eurem Reich, doch nun ist es an der Zeit, daß Eure Ritter zu den Waffen greifen, denn was heute nur ein Funke ist, der in den Sümpfen schwelt, mag morgen schon zu einem verzehrenden Feuer werden, das ganz Aquitanien in Flammen setzt. Ich bitte Euch, mein König, gestattet mir, ein Heer auszuheben und die Ritterschaft Eures Reiches zu den Waffen zu rufen, um den Aufruhr zu beenden und den Tod eines der Unseren, des Barons Rollo von Marans, zu rächen.«

Der König runzelte die Stirn. Einen Moment lang schien es, als hätten die Worte des Bischofs ihn verärgert, doch dann spielte ein zynisches Lächeln um die Lippen des Herrschers. »Ihr denkt also, daß es eine Königin in den Sümpfen gibt, die mir mein Anrecht auf diesen Thron abspricht. Nun, mein Freund, ich werde Euch erlauben, den Heerbann auszurufen.« Er wandte sich an die anderen Adligen im Festsaal. »Das Frühjahr hat begonnen. Eine gute Zeit für einen Kriegszug! Versammelt Euch bis zum Pfingstfest in Saintes. Jehan de Thenac, ich ernenne Euch hiermit zu meinem Heerführer. Wenn Ihr ein Königreich in den Sümpfen findet, so mögt Ihr die Baronie Marans und das Sumpfland Euren Ländereien einverleiben. Die Beute der Königsstadt aber soll meinen Edlen und der Krone zufallen. Steckt hinter all dem, was Ihr hier vorgetragen habt, aber nur eine Räuberbande und macht Ihr meinem Namen Schande, indem Ihr mit einer Armee auszieht, um ein paar Halsabschneidern das Handwerk zu legen, so fordere ich Eure Grafschaft als Wiedergutmachung, und Ihr sollt jedem meiner Ritter, der Euch begleitete, hundert Goldstücke zahlen, um ihn zu entschädigen.«

Golo konnte beobachten, wie alle Farbe aus dem Gesicht des Bischofs wich. Doch verzog Jehan keine Miene. Schließlich kniete er nieder und neigte demütig sein Haupt. »Ich unterwerfe mich Euren Forderungen, mein König. Mein Herz und mein Schwert gehören Euch.«

»Jehan von Thenac, Ihr knietet nieder als der Graf von Niort und Bischof von Saintes, erhebt Euch nun als der Herzog der Sumpflande. Dieser Titel sei Euch bis zum Weihnachtsfest gewährt, damit Ihr meine Grafen befehligen könnt, ohne daß Streit um das Kommando bei diesem Feldzug aufkommt. Möge Gott Euch auf Eurem Weg zur Seite stehen.«


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