18. KAPITEL


Unter ihm schloß sich das Tor. Nachdenklich blickte Volker auf die kleine Schar der Überlebenden, die zu den Normannen hinabstieg. Es waren weniger als zweihundert. Die meisten waren Frauen, Kinder oder alte Männer. Der Anführer der Belagerer hatte ihnen ihr Leben versprochen, wenn sie sich taufen ließen. Sie sollten unter seinen Leibeigenen aufgenommen werden...

Neman hatte den Männern und Frauen zugeredet zu gehen. Schließlich hatte sie es ihnen befohlen. Alle, die in der Festung zurückgeblieben waren, erwartete der Tod. Keine der Priesterinnen hatte ihrem Glauben abschwören wollen. Auch eine Handvoll Krieger, die zu stolz war, um sich zu ergeben, harrte noch aus. Der einzige unter den Männern, den Volker kannte, war Ambiorix, der Vater der Morrigan. Der alte Mann hatte sein weißes Gewand abgelegt und trug wie die anderen Krieger Hosen aus buntem Stoff. Sein Oberkörper war mit blauen Linien und Spiralen bemalt. Ambiorix stützte sich auf einen Speer und blickte zu den braunen Fluten hinab, die die Felder bedeckten.

Volker seufzte. Einen Augenblick lang hatte er das Schicksal der Stadt in Händen gehalten. Es wäre nicht schwer gewesen, die beiden Ritter, die von der Rampe gesprungen waren, niederzureiten. Doch der Kerl, der sich ihm in den Weg gestellt hatte, trug eine geschnitzte Mitra als Schmuck auf seinem Topfhelm. Waffenrock und Schild des Mannes waren von purpurner Farbe, und als Wappen hatte er ein goldenes Kreuz geführt. Der Ritter mußte ein Bischof gewesen sein. Ein Hirt der Christenheit! Volker hatte gegen ihn nicht das Schwert ziehen können. Er hätte damit alles verraten, was er an dem Tag geschworen hatte, als Gunther ihn zum Ritter geschlagen hatte. Es war seine Aufgabe, gute Christen vor den Schwertern der Heiden zu schützen.

Der Spielmann blickte zu Gunbrid, die bei den Priesterinnen stand. Als Lehnsmann Gunthers hatte er einen Eid abgelegt, jederzeit für die Familie des Königs zu kämpfen. Und dann war da noch Neman. Wenn sie den Normannen in die Hände fiel, würde sie auf einem Scheiterhaufen enden. Wie auch immer er sich entschied, er würde auf jeden Fall gegen eines der Gebote des Rittertums verstoßen.

Aus der Stadt erklang ein Horn. Die Krieger der Normannen begannen, sich zum letzten Sturm zu sammeln. Wahrscheinlich würden die da unten ihn nicht mehr sonderlich freundlich aufnehmen, wenn er jetzt noch durch das Tor kam. Damit war die Entscheidung gefallen. Er drehte sich zu den anderen um. »Wir sollten zum Heiligtum hinaufgehen.

Die Hügelböschung und der Wall sind zu hoch, um dort mit Leitern hinaufzukommen. Hinter dem Tor gibt es einen Hohlweg. Selbst wenn sie die Torflügel zertrümmert haben, werden wir uns dort noch eine Weile gegen die Übermacht halten können.«

Die älteste der Priesterinnen trat ihm entgegen. »Neman hat mir gesagt, wer du bist. Du mußt nicht an unserer Seite sterben, fremder Krieger. Es gibt aus dem Heiligtum einen Fluchtweg. Wenn du dich verbirgst, bis die Sonne untergegangen ist, wirst du entkommen können.«

Volker starrte die Frau ungläubig an. »Wir alle werden entkommen können. Vielleicht schaffen wir es, die Normannen noch bis nach Sonnenuntergang aufzuhalten. Das sind noch höchstens zwei Stunden, und ich habe dort oben eine kleine Überraschung für sie vorbereitet, die sie noch für eine Weile aufhalten wird.«

»Wir Priesterinnen können nicht gehen, denn die Morrigan hat beschlossen zu bleiben.«

»Was soll das heißen? Ich rede mit Neman! Sie wird niemals wollen, daß ihr alle...«

Die alte Priesterin zeigte zur anderen Seite des Platzes. Dort trat Macha aus dem Eingang des Langhauses. Sie trug ein hüftlanges Kettenhemd und war mit zwei Kurzschwertern bewaffnet. Von ihren Schultern wehte ein langer, schwarzer Umhang.



Der Hohlweg, der hinter dem Tor zum Heiligtum durch die Hügelflanke schnitt, war so schmal, daß drei Kämpfer ihn leicht verteidigen konnten. Sie waren zu sechst. In der Mitte der vordersten Reihe stand Macha, rechts von ihr der weißhaarige Ambiorix und zu ihrer Linken Volker. Die letzten drei Krieger, die noch eine Waffe führen konnten, bildeten hinter ihnen eine zweite Reihe.

Volker blickte zu dem jungen Mann, der auf dem Wall oberhalb des Tores stand. Zu seinen Füßen lag ein rundes Tongefäß mit einer halb zerrissenen Manschette aus geflochtenem Stroh. Das Geschoß war auf eines der Schilfdächer geprallt und nicht zerbrochen. Heute sollten die Normannen lernen, was es hieß, wenn flüssiges Feuer vom Himmel fiel! Der junge Mann hielt eine Fackel bereit, um das Geschoß in Brand zu setzen, sobald die Angreifer unter ihm durch das Tor brachen.

Die schweren Eichenpforten erbebten unter den Stößen eines Rammbocks, den die Belagerer aus einem halb verkohlten Giebelbalken gefertigt hatten. Schon begann das Holz zu splittern. Volker leckte sich nervös über die Lippen und umklammerte sein Schwert fester. Es war noch eine Stunde bis Sonnenuntergang.

Plötzlich zersplitterte das Tor. Die Bohlen und Querhölzer fielen in den Torweg. »Tod den Heiden!« erscholl der Schlachtruf der Normannen, als sie über die Trümmer hinwegsetzten und den Hohlweg stürmten.

Volker blickte zu dem Krieger bei dem Tongefäß und erbleichte. Den Mann hatte ein Speer in die Brust getroffen. Kopfüber fiel er von der Mauer zwischen die Angreifer. Jetzt war alles vorbei!

Volker hob sein Schwert. Mit dem Mut der Verzweiflung hieb er auf die anstürmende Übermacht ein. So oft er einen Gegner niederstreckte, füllte sich augenblicklich wieder die Lücke in den Reihen der Angreifer. Schließlich zerschmetterte ein Axthieb seinen Schild. Der Spielmann warf die beiden nutzlosen Hälften zur Seite und packte sein Schwert nun mit beiden Händen.

Macha an seiner Seite kämpfte, als habe sie den Teufel im Leib. Noch nie zuvor hatte er jemanden mit zwei Schwertern gleichzeitig fechten sehen. Wie Hagelschlag prasselten ihre Hiebe auf die Angreifer. Ihre Klingen durchschnitten Kettenhemden, Schilde und Helme, als seien sie nur dünnes Pergament. Sie war wahrlich eine Kriegsgöttin. Ein Dutzend Männer mußten schon unter ihren Klingen gefallen sein, als sie ein Speer in den Oberschenkel traf. Ihr Bein knickte zur Seite, und eine Schwertklinge durchbrach ihre Deckung und bohrte sich tief in ihre Brust. Sofort sprang einer der Krieger aus der zweiten Reihe vor, um die Lücke zu schließen, doch sein Geschick reichte bei weitem nicht an das Machas heran. Er führte nur ein paar Hiebe, bis ihm ein Streitkolben den Schädel zerschmetterte.

Aus den Augenwinkeln sah Volker eine weiß gewandete Gestalt auf der Mauer. Es war Gunbrid! Sie trug in der Rechten eine Fackel. Mit einem Tritt schickte sie das runde Tongefäß die Mauer hinab. Klirrend zerbrach es zwischen den Angreifern. Für einen Herzschlag lang verstummte der Schlachtlärm. Ein Normanne schleuderte seine Axt nach der Burgundin, doch die Waffe verfehlte sie. »Für Macha!« rief die Priesterin und schleuderte die Fackel in das zerborstene Tor. Fauchend schlugen die Flammen bis zur Mauerkrone hinauf. Die Hitze nahm Volker den Atem. Erschrocken wich er zurück.

Schreiend versuchten die Normannen, durch das Tor zu entkommen. Einige von ihnen starben binnen eines Herzschlags in der Gluthitze, andere wanden sich schreiend am Boden und erlitten Qualen wie im Fegefeuer, bevor sie starben. Nur drei Krieger entkamen unverletzt der Flammenhölle. Sie warfen ihre Waffen zu Boden und baten um Gnade, doch Ambiorix und die beiden verbliebenen Kämpfer stachen sie ungerührt nieder.

Müde ließ Volker sein Schwert sinken. Ein letztes Mal hatten sie gesiegt. Es würde mindestens eine Stunde dauern, bis die Flammen verloschen und die Normannen noch einmal angreifen konnten.

Die Priesterinnen hatten Macha zu den stehenden Steinen in der Mitte des Heiligtums getragen. Volker ging zu ihnen hinauf und beobachtete, wie sie den tiefen Schnitt am Bein abbanden und versuchten, die Brustwunde zu versorgen. Noch immer steckte das Schwert des Normannen im Leib der Rabengöttin.

»Wir können es nicht herausziehen«, erklärte die alte Priesterin Volker. »Wenn wir es tun, lebt sie nur noch wenige Atemzüge lang. Lassen wir es jedoch stecken, wird sie einen oder zwei Tage lang schreckliche Schmerzen leiden und dann sterben. Das einzige, was wir noch tun können, ist, sie nach Tire Narrt Beo, auf die Insel der Lebenden, zu bringen. Heute nacht wird der Vollmond hoch am Himmel stehen. Dann heben sich die Nebel, und der Weg dorthin wird für ein paar Stunden offenstehen.«

»Wo liegt diese Insel? Ist es sehr weit bis dorthin?«

Die Alte schüttelte den Kopf. »Weit ist es nicht, Spielmann, und doch ist die Insel unerreichbar für dich. Nur Priesterinnen können den Weg finden, und selbst wir können die Gestade von Tire Nam Beo nur betreten, wenn das alte Volk es wünscht. Wir werden den Durchgang nehmen, den unsere Vorfahren durch den Hügel getrieben haben. Sie wußten, daß einmal der Tag kommen würde, an dem wir dem Sumpf das Land zurückgeben müßten, das wir ihm abgetrotzt hatten. Am Ende des Tunnels gibt es eine Höhle, in der einige flache Boote liegen. Wir müssen eine verborgene Felspforte aufstoßen und werden dann an der Westseite des Hügels dicht über dem Wasser hervorkommen. Die Nacht und der Nebel schützen uns vor den Normannen, jedenfalls solange hier oben noch gekämpft wird.«

Volker nickte. »Ich habe verstanden. Nimm die Morrigan und bring sie in Sicherheit. Solange auch nur ein Funken Leben in meinem Leib ist, werde ich den Hohlweg verteidigen.«

»Du bist es würdig, unser König zu sein, Sänger.«

»Läßt du mich einen Moment mit ihr allein?« Der Spielmann blickte zur Hohenpriesterin. Die Flammen im Hohlweg warfen flackernde Schatten auf ihr Gesicht. Die Alte gab den Frauen einen Wink, sich zurückzuziehen, dann trat auch sie in den Kreis der stehenden Steine.

Volker kniete nieder und strich der Priesterin sanft eine blutverschmierte Haarsträhne aus dem Gesicht. »Auf Wiedersehen, meine schöne Harfnerin«, flüsterte er leise. »Wohin deine Priesterinnen dich auch bringen mögen, ich werde dir eines Tages folgen.«

Die bleichen Lider der Göttin zitterten. Dann schlug sie die Augen auf, und Volker wußte, daß es Neman war, die nun vor ihm lag. »Ich habe mein Volk verraten, weil ich dich liebte. Schon seit dem ersten Augenblick in der Grabhöhle... Ich hätte dich nicht hierher bringen dürfen. Du bist nur mit mir gekommen... weil du fliehen wolltest...«

Der Spielmann schluckte. »Ja, so war es. Ich habe dich über meine Herkunft belogen und...« Er griff nach ihrer Hand und drückte sie sanft. »Meine Gefühle zu dir haben sich geändert. Ich bin hiergeblieben und habe an der Seite deines Volkes gekämpft, weil ich dich liebte. Bei dem, was gestern nacht zwischen uns war, gab es keine Lüge mehr.«

Nemans Lippen bebten, als wolle sie noch etwas antworten, doch sie hatte keine Kraft mehr, um zu sprechen. Ihre Züge entspannten sich, und sie sah plötzlich viel jünger aus, so als wären die Jahre wie welkes Laub von ihr gefallen. Die kleinen Falten um ihre Augen waren verschwunden und auch die Grübchen in ihren Mundwinkeln.

Die alte Priesterin kehrte zurück. »Es ist Zeit für uns zu gehen, mein König.« Sie beugte sich zur Morrigan herab und zuckte erschrocken zusammen. Langsam strich sie der Hohepriesterin mit ihrer Hand über die Stirn. Dann schüttelte sie den Kopf.

»Ist sie...« Volker brachte das Wort nicht über seine Lippen.

»Nein.« Die Stimme der Alten klang wie das Krächzen eines Raben. »Die Göttinnen haben sie verlassen. Sie ist jetzt nur noch Gwen.«

»Werdet ihr sie trotzdem mit euch nehmen und versuchen, sie zu heilen?«

»Du würdest sonst nicht kämpfen, nicht wahr, Sänger?«

Volker lächelte kalt.

»Du willst dein Leben gegen das ihre tauschen? Schade, daß du ein Christ bist. Unsere Götter hätten Gefallen an dir gefunden. Ich schwöre bei meinem Herzen, daß ich Gwen nach Tire Nam Beo bringen werde, um dort ihr Leben zu retten.«



Die Flammen im Torweg waren fast verloschen. Außer Volker und Ambiorix waren nur noch zwei Krieger zurückgeblieben, um den Zugang zum Heiligtum zu verteidigen.

Gelassen blickte der Spielmann zu den Kriegern, die sich hinter dem Tor zu einem neuen Angriff formierten. In einer Stunde würde er tot sein, doch wenigstens starb er mit der Gewißheit, daß die Priesterinnen entkommen waren.

»Ich bin mir jetzt sicher, daß Neman sich nicht geirrt hat«, sagte Ambiorix halblaut.

Volker sah den alten Mann verwundert an. »Was meinst du damit?«

»Ich glaube jetzt, daß du wirklich der Sänger bist, den uns unsere Ahnen verheißen haben. Der Krieger und Barde, der aus den Gebeinen unserer toten Helden auferstanden ist.«

Dieser alte Narr. Er wußte doch, daß dies nur eine Geschichte war, und als Barde mußte er auch wissen, wie solche Geschichten entstanden. Trotzdem lächelte Volker. »Danke, mein Freund. Du willst es mir ersparen, als ein Lügner zu sterben, nicht wahr?«

Ambiorix schüttelte energisch den Kopf. »Ich sehe hier keinen Lügner. Neben mir steht nur ein Krieger und Barde! Mit einem Lügner an meiner Seite würde ich nicht in meine letzte Schlacht ziehen und...« Vor dem Tor ertönte ein Hornsignal. Ein einzelner Krieger trat in den Hohlweg.

»Mein Herr, Jehan de Thenac, Herzog der Sumpflande und Bischof von Saintes, ist von eurem Mut beeindruckt. Er bietet euch einen ehrenvollen Abzug, wenn ihr euch jetzt ergebt. Ihr seid nur noch zu viert, und es gibt für euch keine Hoffnung mehr auf einen Sieg.«

»Richte deinem Herren aus, daß es uns unsere Ehre verbietet, vor einem wie ihm die Waffen zu strecken«, höhnte Ambiorix. »Außerdem glaube ich nicht, daß er über genug Krieger gebietet, um diesen Hohlweg zu erobern.«

Wortlos zog sich der Unterhändler zurück und machte einer Schar Speerträger Platz, die durch das Tor drängten.

Diesmal stand Volker in der Mitte des Hohlwegs. Er kannte den Namen des Mannes nicht, der zu seiner Rechten kämpfte, doch es war ein tapferer Krieger. Zweimal wichen ihre Gegner zurück, bis ihn schließlich beim dritten Angriff ein Speer in den Unterleib traf. Mit einem wilden Schrei auf den Lippen stürzte er sich in den Wall von Speerspitzen und gab so seinem Kameraden Gelegenheit, die Lücke, die durch seinen Tod entstand, zu schließen.

Volker blutete bereits aus vielen Wunden, als sich die Speerträger zurückzogen und einer Gruppe normannischer Ritter den Weg freigaben. Ambiorix hob seinen Schild und begann ein altes Schlachtlied zu singen. In vorderster Linie der Ritter stand ein Krieger, dessen Wappenschild ein goldenes Kreuz auf purpurnem Grund zeigte.

Der Spielmann fluchte leise. Er hatte kaum noch die Kraft, sein Schwert zu heben. Er hätte den Bischof heute morgen töten sollen, als er Gelegenheit dazu gehabt hatte.

Etwas Schweres traf Volker am Kopf. Als er zu Boden ging, sah er, wie ein Ritter Ambiorix ein Schwert in den Bauch rammte, dann versank die Welt in ein Chaos aus Schreien, Waffengeklirr und einer einsamen Stimme, die ein altes Lied sang.


»Liebe ist wie ein Dunst, der vom Wind verzehrt wird.

Hüte sich ein jeder vor diesem Wind...«


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