Seit dem Pfingstfest waren zwei Wochen vergangen, als der Bischof und seine Reiter das kleine Dorf bei der niedergebrannten Burg des Barons von Marans erreichten. Die Bauern und Fischer waren aufgeregt herbeigelaufen gekommen, als sich die gewaltige Reiterkolonne über den Knüppeldamm näherte. Jehan gab Befehl, vor der rußgeschwärzten Ruine das Heerlager aufzuschlagen. Um schneller in die Sümpfe vorzurücken, hatte er sein Heer zweigeteilt. Die Reiter und ein Troß aus berittenen Knechten und Packpferden waren auf dem Landweg vorgerückt, während sich die Fußsoldaten in Saintes eingeschifft hatten, um die Charente hinabzusegeln und dann vom Meer her in das Sumpfland vorzustoßen.
Schon vor dem Pfingsttag hatte der Bischof etliche Späher ausgeschickt, um die Stärke der feindlichen Truppen auszukundschaften. Die meisten von ihnen waren nicht zurückgekehrt. Einer jedoch hatte berichtet, eines Nachts eine große Versammlung von Kriegern mit Fackeln beobachtet zu haben.
Seitdem der Bischof diese Nachricht bekommen hatte, war er deutlich besserer Laune. Nun bestand Gewißheit, daß sie nicht nur gegen eine etwas größere Räuberbande ins Feld zogen. Was auch immer in den Nebeln der Sümpfe verborgen lag, es mußte eine lohnende Beute sein, wenn es von so vielen Kämpfern verteidigt wurde. Für ihn schien es nicht den geringsten Zweifel daran zu geben, daß der Feldzug ein Erfolg sein würde und er damit auf Dauer das Recht auf den Titel eines Herzogs erlangte. Mit den Ländereien, die er dazugewinnen würde, wäre er nach dem König der zweitmächtigste Mann in Aquitanien.
Golo konnte diese Euphorie nicht teilen. Mit jedem Schritt, der ihn tiefer in die Marschen brachte, waren Erinnerungen an seinen toten Herrn verbunden. Wohl tausendmal hatte er jene Nacht verflucht, die der Spielmann in der Kemenate der sächsischen Prinzessin verbracht hatte und die der Ausgang ihrer tragischen Reise geworden war. Jeden Abend schloß er seinen toten Herren in seine Gebete mit ein, und er hoffte aufrichtig, daß er für seine Art, mit den Weibern umzugehen, Vergebung gefunden hatte.
Die Sumpflandschaft hatte sich in den letzten Monaten sehr verändert. Überall wogte mannshohes Schilf im Wind und versperrte die Sicht. Der Knüppeldamm erschien ihm wie ein Hohlweg, und wann immer er an den Trophäenbaum und die bewaldete Halbinsel inmitten des Moors dachte, beschlich ihn ein ungutes Gefühl. Es würde nicht so einfach werden, die Feen zu besiegen, wie sich der Bischof das vorstellte. Sie waren keine Krieger aus Fleisch und Blut. Mit Schrecken dachte Golo an den Tag, an dem Volker und Gwalchmai gestorben waren. Manchmal verfolgte ihn das gräßliche Geheul, das über den Sümpfen erklungen war, in seinen Träumen. Die beiden Ritter waren gute Kämpfer gewesen, doch hatten sie es nicht vermocht, den Streiter der Morrigan zu töten. Was geschah, wenn die Feen nicht durch Waffen verletzt werden konnten, die von Menschenhand geschmiedet waren? Die Bauern hatten erzählt, die Morrigan sei eine mächtige Zauberin. Vielleicht ließ sie das ganze Heer in Schlaf versinken, so daß die Feen ihnen nur noch die Kehlen durchschneiden mußten.
Golo schüttelte sich. Er sollte sich nicht von solch finsteren Gedanken mitreißen lassen. Man mochte über den Bischof denken, wie man wollte, eins war jedenfalls gewiß: Er war ein mächtiger Kirchenmann! Er würde seine Männer mit der Kraft seines Glaubens beschützen!
Der ehemalige Knecht hielt sich ganz in der Nähe des Bischofs. Jehan traute ihm nicht. Stets waren ein paar seiner Söldner an Golos Seite. Dabei hatte er den Gedanken an eine Flucht längst aufgegeben. Der Bischof war sein Gönner. Er hatte ihn in den Ritterstand erhoben, und wer weiß, mit welchen Ehren der Kirchenfürst ihn noch überschütten würde, wenn es tatsächlich gelang, das Königreich der Feen zu erobern.
Jehan ritt auf einem schwarzen Hengst durch das Lager und wies die Knechte an, wo welche Zelte aufzuschlagen waren. Er trug einen prächtigen roten Umhang und das goldbestickte Bischofsgewand. Dazu ein langes Kettenhemd. Er hatte für sich einen ganz besonderen Topfhelm fertigen lassen, auf dem eine holzgeschnitzte Mitra thronte. Ständig war ein Diener in seiner Nähe, der den Helm auf einem Kissen vor sich her trug, und der Bischof erschien in seinem Aufzug wie ein Mann, der stets bereit war, in die Schlacht zu ziehen. Unter den Söldnern und Rittern war er sehr beliebt. Jeden Abend war er der letzte, der sich zur Ruhe legte, und morgens war er stets als erster wieder auf den Beinen. Es schien ganz so, als könne ihn nichts erschöpfen, und er hatte eine Aura, die außer Golo wohl niemanden im Heerzug daran zweifeln ließ, daß der Krieg gegen das Nachtvolk kurz und erfolgreich sein würde.
Jehan hatte seinen Dienern den Befehl gegeben, sein prächtiges Zelt direkt unter der Ruine des Bergfrieds aufschlagen zu lassen. Dann sprang er aus dem Sattel und trat in die zerstörte Burg. Prüfend blickte er sich um und gab dann Golo einen Wink, an seine Seite zu eilen.
»Wo waren die Köpfe des Barons und seiner Krieger aufgepflanzt?«
Der ehemalige Knecht wies auf die Weiden, die dicht beim Wasser standen. »Dort drüben, Herr. Wir haben sie hier nahe bei dem Festungsturm beerdigt.«
Der Bischof strich sich nachdenklich über sein kantiges Kinn und blickte auf das Moor hinaus. »Es soll der Heidenbrut genauso ergehen wie dem armen Baron Rollo. Jeden, den wir zu packen bekommen, werde ich enthaupten lassen. Wir werden alle paar Schritt entlang des Knüppeldamms einen Pfahl mit einem Kopf darauf aufstellen, damit die abergläubischen Bauern hier in der Gegend endlich lernen, daß nichts und niemand gegen die Ritter der Christenheit bestehen kann!«
Das Poltern eines Steins ließ Golo zu den Ruinen blicken. Hinter einer zerborstenen Mauer trat Jean, der Dorfälteste, hervor. Er trug einen schmutzigen Kittel und hielt einen alten Strohhut in der Hand. Mit gesenktem Haupt trat er vor den Bischof.
»Herr, ohne Euch belauschen zu wollen, wurde ich Zeuge Eurer Worte. Ihr dürft das nicht tun. Zieht Euch zurück, bevor Ihr den Zorn der alten Götter auf Euch ladet. Schon einmal hat die Morrigan ein ganzes Heer vernichtet, das gekommen war, um Ihr Volk zu versklaven. Nicht einer der Krieger kehrte aus den Sümpfen zurück.« Jean hob den Kopf und deutete auf Golo. »Hütet Euch vor diesem Mann! Er hat schon seinem letzten Herren das Verderben gebracht. Mag er jetzt auch die Gewandung eines Ritters tragen, so erkenne ich ihn dennoch wieder. Damals war er wie ein Knecht gewandet.«
»Schweig!« Der Bischof hatte den alten Fischer bei seinem Kittel gepackt. »Du warnst mich vor einem meiner Edlen und vor einer heidnischen Göttin! Bist du noch bei Sinnen, Mann? Ich bin der Bischof von Saintes! Gott selbst hat mich hierher geführt, damit ich das Heidentum in diesem Königreich vernichte! Es ist meine heilige Pflicht, dafür zu sorgen, daß solche Tölpel wie du endlich begreifen, daß die Götzen der Vergangenheit nicht vor Christus bestehen können.«
»Die Götter, von denen Ihr sprecht, Herr, sind so alt wie dieses Land. Sie haben die Römer, die Goten und die Franken kommen und vergehen sehen. Sie werden auch dann noch über die Sümpfe gebieten, wenn ihr Normannen nur noch eine ferne Erinnerung seid.«
»Das ist Ketzerei, du Lump!« Jehan wandte sich zu den beiden Waffenknechten, die ihn stets begleiteten. »Packt den Kerl! Wollen wir doch mal sehen, ob ihn seine alten Götter vor dem Zorn eines Kirchenfürsten bewahren können!«
Die zwei Krieger taten, wie ihnen geheißen. Der alte Fischer leistete keinen Widerstand. »Laßt das Heer zusammenrufen und bringt die Bauern aus dem Dorf herbei! Ich will an diesem Heiden ein Exempel statuieren.«
Golo trat dem Bischof in den Weg. »Laßt ihn, Herr! Er ist doch nur ein verwirrter Alter. Er weiß nicht, was er redet.«
»Ich denke, daß du diese Sache zu leicht nimmst! Hast du nicht gehört, wie er mir gedroht hat? Ich kann seine Frechheiten nicht hinnehmen! Außerdem kennt er dich und weiß, wer du bist«, fügte er leiser hinzu. »Auch das ist ein Grund, warum er sterben muß. Es wäre nicht gut, wenn er durch das Lager liefe und jedem erzählen würde, daß du erst vor wenigen Wochen noch ein ungewaschener Pferdeknecht gewesen bist.«
Golo zuckte mit den Schultern. »Wer würde ihm schon glauben? Alle in diesem Lager haben gesehen, wie Ihr mich in Saintes zum Ritter geschlagen habt.«
Jehan lächelte abfällig. »Du bist naiv, mein junger Freund. Unter den Adligen gibt es jede Menge Neider, die keine Gelegenheit auslassen werden, meinen Namen zu beschmutzen. Zum Dreikönigsfest war ich nur ein Bischof und ein Graf, dessen Ländereien weit verstreut lagen. Jetzt bin ich ein Herzog, und wenn der Feldzug zu Ende ist, werde ich mehr Land als selbst der König besitzen. Glaubst du, das freut sie? Was denkst du, warum ich so viele Söldner angeworben habe? Ihnen kann ich eher trauen als der aquitanischen Ritterschaft. Jeder von diesen feinen Herren hofft darauf, daß ich in den Kämpfen fallen werde. Deshalb habe ich lieber meine Söldner um mich, wenn ich in die Schlacht ziehe. Sie haben nur so lange einen gefüllten Geldbeutel, wie ich lebe. Bei ihnen brauche ich nicht zu fürchten, daß mich in der Schlacht womöglich ein Dolchstoß in den Rücken trifft.«
Golo blickte zu den prächtigen Zelten des Heerlagers hinab. Die meisten der Ritter mochte er nicht sonderlich. Sie waren eingebildet und überheblich. Aber waren es wirklich Mörder? Ein Hornsignal erklang, und er konnte beobachten, wie sich eine Gruppe Bewaffneter auf den Weg zum Dorf machte.
Es dauerte nicht lange, bis sich das Heer vor den Ruinen der Burg versammelt hatte. Ein wenig abseits und umgeben von Berengars Rittern aus Armorika standen die Bauern und Fischer. Von einer der Zinnen der Burgmauer hing ein Seil herab, dessen Ende zu einer Schlinge geknüpft war. Der alte Jean stand auf einem Faß. Er war völlig ruhig. Zuversichtlich blickte er zum Moor, so als erwarte er, daß die Göttin selbst erscheinen werde, um ihn zu retten.
»Ich beschuldige Jean, den Fischer, der Ketzerei und der Götzenverehrung. Er hat den Namen des Königs und meine Ritterschaft beleidigt und weigerte sich, im Namen des Herren um Vergebung zu verbitten. Seine Reden beweisen, daß er ein Freund der Aufrührer in den Sümpfen ist. Da er keine Reue zeigt und sich weigert, den alten Göttern abzuschwören, verurteile ich ihn kraft der mir durch den König verliehenen Gerichtsgewalt in den Sumpflanden zum Tode durch den Strang. Wenn du noch etwas zu sagen hast, Jean, so sprich jetzt. Ich biete dir noch ein letztes Mal an, den alten Göttern abzuschwören. Bist du gefügig, so schenke ich dir dein Leben.«
Jean blickte zu den Dörflern und sprach so laut und deutlich, als sei er ein Mann in den besten Jahren und kein zahnloser Greis. »Ich habe keine Kinder und keine Enkel. Der Tod hat keine Schrecken für mich. Meine einzige Enkeltochter ist der Morrigan gefolgt. Sie ist die Herrin der Sümpfe. Vergeßt das nie, meine Freunde! Sie bestimmt über unser aller Wohlergehen, denn sie ist ewig, so wie die Sümpfe. Den Namen Jehan de Thenac wird bald schon niemand mehr kennen, denn er und die Seinen sind dem Untergang geweiht. Sie haben den Zorn der Göttin herausgefordert, und noch bevor der Sommer vorüber ist, werden die Raben der Morrigan ihnen ihr fauliges Fleisch von den Knochen picken.«
»Fahr zur Hölle, Ketzer!« Der Bischof schwang sich aus dem Sattel und trat das Faß zur Seite, auf dem der Alte stand. Mit einem Ruck straffte sich das Seil.
Golo, der nur wenige Schritt entfernt stand, konnte das trockene Knacken hören, mit dem das Genick des Fischers brach. Mit weit aufgerissenen Augen starrte der Tote über ihre Köpfe hinweg zum Sumpf. Das Seil pendelte leicht hin und her. Es war völlig still, als plötzlich in der Ruine des Bergfrieds ein schrilles Krächzen erklang. Ein großer Rabe flog auf und kreiste über ihren Köpfen.
»Tötet das Mistvieh!« brüllte der Bischof ärgerlich, doch keiner seiner Söldner hob seine Waffe. Golo schlug hastig ein Kreuzzeichen, und aus den Augenwinkeln konnte er sehen, wie es viele der Ritter und Söldner ihm gleichtaten.
Jehan war zu einem seiner Männer getreten und riß ihm den Bogen aus den Händen. Wütend zog er die Sehne der Waffe bis weit hinter sein Ohr zurück und schickte dem Raben einen Pfeil hinterher. Doch das Geschoß verfehlte sein Ziel. Noch einmal zog der schwarze Vogel einen Kreis über dem Heer und krächzte schrill, so als wolle er sie herausfordern. Dann flog er nach Westen, dorthin, wo der Wald mit dem Trophäenbaum lag.
Volker lehnte an der Brüstung der innersten Umwallung und blickte auf die Stadt hinab, die sich inmitten des Nebels verbarg. Zunächst hatte er geglaubt, er sei tatsächlich in eine andere Welt gelangt, jenes Reich der Feen, von dem die Troubadoure berichteten, so fremd und andersartig erschien ihm hier alles. Doch nachdem er jetzt schon zwei Wochen unter dem Nachtvolk gelebt hatte, wußte er, daß auch sie nur ganz gewöhnliche Sterbliche waren. Jedenfalls die meisten von ihnen...
Die Stadt lag auf einem langgezogenen Hügel und war durch vier Mauerringe untergliedert. Die erste Schutzmauer, vor der ein tiefer, mit zugespitzten Pfählen gespickter Graben verlief, wand sich auf halber Höhe um den Hügel und beschirmte das Viertel der Bauern und Fischer. Ihre Häuser aus Holz und Lehm standen auf Terrassen, die künstlich angelegt worden waren. Die Dächer der einfachen Behausungen waren mit dem gelben Schilf der Sümpfe gedeckt. In den meisten dieser Häuser gab es nicht einmal eine gemauerte Feuerstelle. Der Boden bestand aus festgestampfter Erde. Die runden Häuser hatten nur einen einzigen Raum, in dessen Mitte oft eine Feuergrube lag, deren Rauch durch eine Öffnung im Dach abzog.
Die zweite Wallanlage umgab das abgeflachte Plateau, das die Hügelkrone bildete. Hier hatten die Handwerker ihre Häuser. Sie waren solider gebaut, aus Holz und Stein. Manche hatten sogar ein zweites Geschoß. Die Dächer waren aus Holzschindeln oder aus Sumpfgras.
Am hinteren Ende des Plateaus gab es eine Erhebung, auf der eine Art Burg lag. Einige auserwählte Krieger sowie die Priesterinnen und Priester lebten dort. Die Häuser in der Festung sahen sehr fremdartig aus. Es waren große, steinerne Kegel. Manche der Priesterinnen lebten auch in Höhlen, die in die Erde gegraben waren.
Auf dem höchsten Punkt des Hügels, noch einmal von einer eigenen Mauer umgeben, lag schließlich das Heiligtum der Morrigan. Die Bewohner von Galis benutzten den Namen anders als die abergläubischen Bauern am Rand der Sümpfe. Für das Nachtvolk war Morrigan die Bezeichnung der Hohepriesterin, die den drei Göttinnen Macha, Babd und Neman diente. Eine solche Priesterin hatte er bislang aber noch nicht zu sehen bekommen. Überhaupt war der Tempelbezirk sehr eigenartig gestaltet. Es gab dort mehrere steinerne Tore, die völlig vereinzelt standen, ohne daß sie von Mauern umgeben waren. In die Pfeiler, welche die Abschlußsteine stützten, waren Nischen geschlagen, in denen Schädel lagen. Es waren die Köpfe der großen Helden des Nachtvolks und besonders ruhmreicher Gegner. Hinter den Toren lagen zwei Kreise aus aufrechtstehenden Steinen. Welche Bedeutung sie hatten, konnte Volker noch nicht erfahren. Einmal hatten sich dort nachts die Priesterinnen der Morrigan versammelt, doch ihm war es verboten gewesen, das Heiligtum zu betreten.
Vor drei Tagen war er in einer Vollmondnacht mit Neman vermählt worden. Es war eine heidnische Zeremonie, die für einen guten Christen natürlich nicht bindend war. Der Vollmond hatte hoch am Himmel gestanden, als die Priesterinnen ihn geholt hatten und hinauf zu dem Heiligtum brachten. Außer ihm war kein einziger Mann bei dieser Zeremonie zugegen gewesen. Anschließend hatte es in der tiefer gelegenen Burg ein großes Festessen gegeben, doch als Volker Neman in sein Gemach tragen wollte, hatte sie sich ihm verweigert. Sie hatte entschieden darauf bestanden, daß sie bestimmen würde, wann sie beide sich vereinten.
Volker hatte den Rest der Hochzeitsnacht damit verbracht, einen möglichst großen Teil der Vorräte an Met zu vernichten, und schließlich war er es, der in seine Kammer getragen werden mußte. Wo hatte man so etwas schon gehört! Daß die Braut das Recht hatte, sich in der Nacht ihrer Vermählung zu verweigern!
Etwas Gutes hatte dieses Fest jedoch, überlegte Volker. Seitdem war er von den Kriegern der Stadt akzeptiert. Er durfte sich frei bewegen und überall hingehen, außer in das Heiligtum oberhalb der Burg. Die Stadt des Nachtvolks lag in einem von hohen Deichen geschützten Gebiet inmitten der Sümpfe. Die heißen Quellen rings herum verbargen die Siedlung hinter Nebelwänden. Nördlich der Stadt erhob sich ein dichter, uralter Wald, der nach ein paar Meilen auch wieder in Sumpf überging. Dort sollte es angeblich noch eine zweite, kleinere Insel geben.
Seit zwei Tagen schon beobachtete Volker verstohlen die Priesterinnen. Bisher hatte er noch keine Gelegenheit gefunden, allein mit Gunbrid zu sprechen. Er fragte sich, womit man der Baronin gedroht haben mochte, damit sie sich dem Kult der Götzendienerinnen anschloß. Aber was immer es auch gewesen sein mochte, er würde sie hier herausholen. Vor einer Stunde war sie durch das nördliche Tor gegangen, um im Wald Kräuter zu sammeln. Man hatte ihr keine Bewachung mitgegeben, so als vertrauten die anderen Priesterinnen ihr, daß sie zurückkommen würde. Volker hatte sich auch nach Sklaven umgesehen, doch schien es, als seien die Bewohner, die man aus Marans entführt hatte, nicht als Sklaven, sondern als Diener und Knechte unter dem Nachtvolk aufgenommen worden. Sie wurden gut behandelt und erhielten reichlich zu essen.
Der Spielmann hatte mit einem der entführten Männer reden können. Das Gespräch hatte ergeben, daß die Entführten es als Ehre betrachteten, den Feen zu dienen. Auch hatte der junge Mann deutlich durchblicken lassen, daß es ihm hier besser ging als in der Leibeigenschaft eines normannischen Adligen. Sie dazu zu bewegen, sich gegen ihre neuen Herren aufzulehnen, war vollkommen aussichtslos.
Volker verließ seinen Platz auf der Mauer und ging zum Tor der Festung hinab. Es war jetzt genug Zeit verstrichen, seit Gunbrid in den Wald gegangen war. Niemand würde argwöhnen, daß er unterwegs war, um sie zu suchen, wenn er jetzt die Stadt verließ. Sollten die dummen Sumpfbauern hier glücklich werden! Bei Gunbrid standen die Dinge anders. Sie war eine Adlige, die Nichte des Königs Gunther. Sie würde bei Hofe allen nur erdenklichen Luxus genießen können. Gunbrid hier herauszuholen wäre eine edle und ritterliche Tat. Sicherlich hatte sie schon jede Hoffnung auf Rettung fahren lassen.
Der Spielmann war schon eine ganze Weile durch den Wald gestreift, als er schließlich das helle Kleid der Priesterin durch die Bäume schimmern sah. Gunbrid saß inmitten einer Lichtung auf einem Felsblock. Vor ihr lagen Kräuter ausgebreitet, die sie mit bunten Wollfäden zu kleinen Büscheln zusammenschnürte.
Der Spielmann hatte die Lichtung kaum betreten, als Gunbrid von ihrer Arbeit aufsah und ihn anlächelte. »Ich habe mich schon gefragt, wie lange es noch dauern würde, bis Ihr kommt, Volker von Alzey.«
»Ihr wußtet, daß ich komme?« Der Recke blieb verdutzt stehen. Dann lachte er. »Ihr habt mich vortrefflich getäuscht, Frau Gunbrid.«
»Es gehört schon mehr dazu, als sich mit blauen Linien zu bemalen und sich das Haar zu zerzausen, um die Schönheit jenes Mannes zu verbergen, in den wohl die Hälfte aller jungen Mädchen am Hof meines Onkels verliebt war. Ich habe Euch schon bei der Zeremonie der heiligen Hochzeit erkannt, Herr Volker, obwohl ich gestehen muß, daß ich zunächst meinen Augen nicht trauen mochte. Erst als Ihr ein Lied zum Klang der Laute gesungen habt, war ich mir ganz sicher, daß wirklich Ihr es wart.«
»Eure Worte schmeicheln mir, edle Dame, bin ich doch nur ein einfacher Rittersmann, wohingegen Ihr von königlichem Geblüt seid.«
Das Lächeln auf Gunbrids Antlitz erstarb. »Es ist nicht das Blut, das einen Menschen ausmacht. Allein seine Taten sind das Maß, nach dem man urteilen soll. Freilich sollte man dort auch noch nach dem Hörensagen und dem selbst Erlebten unterscheiden. Würde ich mich nach dem Ruf richten, den Ihr genießt, Herr Volker, dann wäre es meiner Reputation wohl kaum zuträglich, mich mit Euch allein auf einer einsamen Waldlichtung zu treffen.«
Der Spielmann räusperte sich verlegen. »Nun, wie Ihr schon sagt, die Leute reden viel... Doch werde ich allen Gerüchten energisch entgegentreten, die besagen mögen, daß ich mich Euch auf unserer Reise zurück nach Worms in unziemlicher Weise genähert haben könnte. Es ist mir nichts mehr als Euer Wohlergehen am Herze gelegen und...«
»Wenn Ihr die Wahrheit sprecht, Herr Volker, dann vergeßt Eure Reisepläne.«
»Was?« Der Ritter war inzwischen an Gunbrids Seite getreten und starrte die Edeldame verständnislos an. »Wie meint Ihr das?«
»Ich möchte diesen Ort nicht verlassen. Sicher hat man mich gegen meinen Willen hierher gebracht. In jener Nacht, als mein Gatte, Baron Rollo, getötet wurde, verfluchte ich die Feen und hätte sie alle getötet, hätte Gott mir die Macht dazu verliehen. Mit der Zeit jedoch lernte ich verstehen. Ihr müßt wissen, Herr Volker, daß Rollo ein grausamer Mann war und nicht Liebe uns zusammenführte, sondern der Wille meines Onkels Gunther, der nach einem festeren Bund mit den Normannen Aquitaniens suchte. So wurde ich zum Pfand seiner Politik. Auch Rollo hat mich nicht wirklich begehrt. Er nahm meinen Körper, und als er begann, meiner überdrüssig zu werden, gab er sich nicht einmal mehr die Mühe, seine Gespielinnen, die er als Mägde in unseren Haushalt aufnahm, vor mir zu verbergen. Er war rachsüchtig und grausam. Rollo machte große Pläne. Er wollte den Sumpf entwässern und die heiligen Haine des Nachtvolks zerstören. Die Morrigan ließ ihm eine Warnung zukommen, daß er sich auf einen gefährlichen Weg begeben habe. Doch Rollo lachte darüber. Drei Nächte später kamen sie. Ich weiß nicht, wie sie in die Burg gelangten. Geschrei weckte mich in der Nacht des Überfalls. Sie hatten es geschafft, das Tor zu öffnen. Aus dem Hof ertönte Schwerterklirren. Dann brach das Feuer aus. Sie schienen überall zu sein. Ein Mann kam und zerrte mich aus meinem Schlafgemach. Vor der Burg hatten sie das Gesinde zusammengetrieben. Es regnete, und trotzdem griffen die Flammen immer gieriger nach dem Gebälk des kleinen Palas und des Bergfrieds. Jemand gab mir einen Umhang. Wir wurden zum Ufer gebracht, wo etliche Boote lagen. Als wir schon eine Weile unterwegs waren, nötigte man mich, etwas aus einem alten Holzbecher zu trinken. Auch die Männer und Frauen des Gesindes mußten von diesem Trank kosten. Bald danach übermannte mich die Müdigkeit. Als ich wieder zu mir kam, war ich in dieser verwunschenen Stadt. Eine Frau fragte mich freundlich nach meinen Begabungen, und als ich erklärte, daß ich ein wenig in der Kräuterkunde bewandert sei, brachte man mich zu den Priesterinnen.«
Gunbrid griff nach einem der Kräuterbündel vor ihr und hielt es Volker hin. »Seht Ihr dies? Man nennt es Eisenkraut. Als Sud wirkt es gegen Fieber, und wenn man es im Rachen gurgelt, so reißt es den eitrigen Schorf von Wunden. Im Heiligtum wurde ich nach der heilenden Wirkung verschiedener Kräuter befragt, und man war offenbar sehr zufrieden mit meinen Antworten. Man bot mir an, mich unter die Priesterinnen aufzunehmen, wenn dies mein Wunsch sei. Damals war ich noch verbittert und voller Trauer. Man begegnete mir sehr freundlich und zurückhaltend. Die Priesterinnen der Morrigan ließen mir Zeit mit meinem Kummer. Auch zu den Männern und Frauen meines Gesindes war man sehr freundlich. Ein jeder wurde nach seinen Fähigkeiten gefragt und dann entsprechend seinen Begabungen eingesetzt. Nicht einen Tag lang gab man uns das Gefühl, Sklaven oder Gefangene zu sein. Ich glaube, die Krieger des Nachtvolkes haben uns nur deshalb mitgenommen, weil wir sie gesehen hatten. Wir sollten den Dorfbewohnern nicht erzählen können, daß die Feenritter der Sümpfe nur ganz normale Menschen sind. Einige von ihnen sind beim Kampf in der Burg sogar getötet worden. Wer immer ihnen mit einer Waffe in der Hand entgegentrat, den haben die Feenritter niedergemacht. Doch sie haben kein unschuldiges Blut vergossen.
Es vergingen einige Wochen, bis Zorn und Angst von mir abließen. Gewiß sind sie keine Christenmenschen, doch obwohl ich nun zu ihren Priesterinnen gehöre, gestatten sie mir weiterhin, zu meinem Gott zu beten. An manchen Abenden kommen sogar einige meiner alten Dienstmägde und zwei Stallburschen zu mir, um mit mir, so gut dies ohne Priester geht, die heilige Messe zu feiern. Dies, Herr Volker, sind die Gründe, warum ich die Stadt Galis und das kleine Reich des Nachtvolkes nicht mehr verlassen möchte. Ich habe hier meinen Seelenfrieden gefunden. Man hat mir eine Aufgabe gegeben und begegnet mir als Heilerin mit großer Achtung. Ich lerne von einigen der alten Priesterinnen, und auch sie nehmen Wissen von mir an.«
»Aber Ihr seid von edler Geburt! Wie könnt Ihr unter diesen Barbaren leben? Habt Ihr nicht Angst um die Reinheit Eurer Seele? Und was ist mit den Männern? Wer soll Euch schützen, wenn es eine dieser Sumpfkreaturen nach Eurem Leib gelüstet?« Volker war außer sich. Insgeheim glaubte er, daß man Gunbrid ein Gift gegeben haben mußte, das ihren Verstand verwirrte. Vielleicht war sie auch in jener Nacht der Schrecken, als die Burg des Barons Rollo niedergebrannt wurde, wahnsinnig geworden?
Gunbrid neigte den Kopf und lächelte schelmisch. »Sagt, wenn ich mich irre, Herr Volker, aber ist es nicht so, daß Ihr durch die Zeremonie der heiligen Hochzeit mit Neman zu so etwas wie dem König dieser Barbaren geworden seid? Was also sollte ich befürchten?«
Der Spielmann machte eine ärgerliche Geste, als wolle er ihre Worte mit der Hand beiseite wischen. »Das war der einzige Weg für mich, hierher zu kommen. Sie halten mich für eine Gestalt aus alten Legenden. Doch das tut nichts zur Sache. Was ich will, ist, Euch zu retten und zu meinem Herren und König, Eurem Onkel, Gunther von Burgund, zurückzubringen!«
Gunbrids Gesicht verfinsterte sich. »Und warum wollt Ihr das tun? Ist es Ritterlichkeit? Oder steht hinter Eurem vermeintlichen Edelmut nicht allein die Absicht, in der Gunst meines Onkels zu steigen und den Geschichten um Euren Heldenmut eine weitere hinzuzufügen? Ich sage Euch noch einmal in aller Deutlichkeit, Herr Volker, ich wünsche nicht, diesen Ort zu verlassen. Der Hof von Worms wird mir nur Trauer und Schande einbringen. Egal wie freundlich man mich auch aufnimmt, hinter vorgehaltener Hand wird man mich stets die Frau nennen, die von den Feen geholt worden ist. Man wird mich meiden und mir Hexerei unterstellen, wenn ich mich weiterhin mit der Kräuterkunde beschäftige. Wißt Ihr nicht, wie die Menschen sind, Herr Volker? Was ich tun kann, ist, in meiner Kemenate zu sitzen und zu sticken oder kostbare Tücher zu weben. Eines Tages dann wird mein Onkel kommen und mir verkünden, er habe einen neuen Mann für mich gefunden. Einen zweiten Rollo vielleicht, einen Mann, der mich nicht liebt, sondern nur deshalb heiratet, weil er auf dieses Weise mit dem Königshof von Worms verbunden sein wird. Begreift Ihr nun, warum ich nicht mehr nach Worms zurückkehren kann? Ich werde niemandem verraten, daß Ihr beabsichtigt, die Hohepriesterin zu täuschen, um von hier zu fliehen, doch bitte ich Euch, macht mich nicht zum Opfer falsch verstandener Ritterlichkeit. Wenn Ihr mich von hier fortbringt, dann werdet Ihr mein Leben zerstören, und ich verspreche Euch, noch bevor wir den Hof von Worms erreichten, würde ich einen Weg finden, meinem Leben ein Ende zu bereiten, denn die Schande und die Heuchelei, die mich dort erwarten würden, vermag ich nicht zu ertragen.«
Volker starrte die Edeldame fassungslos an. Mit der einen oder anderen ihrer Befürchtungen würde sie womöglich recht behalten, doch als Nichte des Königs war es ihre Pflicht, nach Worms zurückzukehren. Aber jetzt wäre der falsche Zeitpunkt, ihr dies zu erläutern. Vielleicht hatten die Priesterinnen einen Zauber um sie gewoben, der Gunbrid Angst vor der Welt jenseits des Nebels machte. Es war gewiß das klügste, zunächst auf ihre Wünsche einzugehen.
So verbeugte sich Volker. »Eure Worte sind mir ein Befehl, Herrin. Niemals würde ich gegen Euren Willen handeln oder etwas tun, aus dem Euch Schaden erwachsen könnte.«