PROLOG


Was für eine Nacht! Es schien, als wolle der Winter gar kein Ende mehr nehmen. Der Schnee war zwar schon vor zwei Wochen geschmolzen, doch dann kehrte die Kälte noch einmal zurück. Der junge Knecht blickte zu dem erleuchteten Turmfenster. Die Welt war ungerecht! Warum lag sein Herr jetzt dort oben in einem warmen Bett, und er mußte hier unten zwischen den Büschen des Kräutergartens kauern, um das Tor zur Festhalle zu beobachten? Das Jahr hatte ohnehin schlecht angefangen. Am Neujahrstag waren diese Sachsen angekommen. Wie ein Rotte Wildsäue hatten sie ausgesehen mit ihren dicken Pelzen, und dann dieser protzige Schmuck. Sogar die Krieger trugen goldene Ketten und Armreife. Barbaren! Golo schüttelte den Kopf. Er hatte nicht verstehen können, warum König Gunther ihnen Einlaß gewährte. Dieses Pack! Allesamt gebärdeten sie sich, als seien sie Fürsten und Könige. Sogar die Pferdeknechte der Sachsen hielten sich für was Besseres!

Golo rieb sich die klammgefrorenen Finger. Sein Herr ging da ganz anders mit diesen Barbaren um. Er wußte, wie man sie treffen konnte! Einen Bastard würde er diesem hochnäsigen Fürsten Horsa unterschieben!

Von der Festhalle erklang lautes Lärmen. Die große Tür öffnete sich, und ein breiter Streifen goldenen Lichts fiel auf den Hof. Sie kamen früher zurück, als er erwartet hätte. Verfluchte Sachsen! Golo formte seine Hände zu einer hohlen Kugel und blies durch den schmalen Spalt, der zwischen den beiden Daumen blieb. Ein leises und ziemlich unechtes Schuhu erklang. Golo fluchte leise. Sie hatten vereinbart, daß er seinen Herren mit dem Ruf eines Käuzchens warnte, wenn die Gesandten zurückkamen. Und jetzt das! Er versuchte es noch einmal, doch der zweite Käuzchenruf klang noch kläglicher.

Golo blickte zu dem erleuchteten Turmfenster. Nichts! Sein Mund war jetzt so trocken, als hätte man ihm eine Handvoll Mehl zu essen gegeben. Er mußte irgend etwas unternehmen! Sie durften seinen Herren nicht dort oben erwischen! Nicht auszudenken, wenn Horsa, der Leiter der sächsischen Gesandtschaft...

Golo formte seine Hände zu einem Trichter und stieß ein schauriges Geheul aus. Er hatte schon lange keinen Wolf mehr gehört, doch war er mit sich zufrieden. Im Geiste malte er sich eine graue Bestie mit fingerlangen Fängen und blutunterlaufenen Augen aus. Das war nicht irgendein Wolf, den er da nachahmte. So heulte ein Leitwolf oder vielleicht gar Fenris, der Götterwolf, von dem die Heiden manchmal sprachen. Noch einmal stieß der Knecht ein langes, klagendes Heulen aus. Wahrscheinlich würde den Sachsen gerade das Blut in den Adern gefrieren, und sie riefen ihre ewig betrunkenen Götter um Schutz an.



»Euer Haar leuchtet wie das Licht der Sommersonne und kündet von der reichen Ernte der Liebe, die Eure wohlgeformten Schenkel versprechen.«

Amalasfrida lächelte und strich ihm mit einer ihrer goldenen Locken durchs Gesicht. »Ein freches Mundwerk habt Ihr, Herr Volker. Und doch ist es erbaulich, Euch zu lauschen. Ihr versteht es, schönere Worte für mich zu finden als jeder andere Mann, den ich kenne. Die Barden, die unsere Höfe besuchen, singen nur vom Krieg und von den Alten Göttern...«

»Dabei verdient es eine so schöne Frau, wie Ihr es seid, unablässig besungen zu werden.« Er beugte sich herab und küßte ihre Brüste. »Weiß wie Milch ist Eure Haut, und seht nur die kleinen Knospen, wie sie sich mir begierig entgegenrecken, so wie sich die Knospen des Rosenbusches zur Frühlingssonne strecken...«

Amalasfrida zog ihn zu sich hinab und küßte ihn. Ihre Hände tasteten über seinen Rücken, glitten tiefer... Was für ein Weib! Die Sachsen mochten ungewaschene Barbaren sein, doch die Frau des Herzogs vermochte jeden Mann die Kälte der letzten Winterabende vergessen zu lassen. Manchmal war sie leidenschaftlich und dabei so wild wie ein gereizter Eber, doch schon im nächsten Augenblick konnte sie wieder zahm und zärtlich sein. Nach seiner ersten Nacht mit ihr hatte sich Volker gefühlt, als habe er eine Schlacht geschlagen, und er wußte nicht zu sagen, ob er gewonnen oder verloren hatte. Sein Rücken war mit langen, blutigen Striemen überzogen, und überall auf seinem Leib hatten ihre leidenschaftlichen Küsse Spuren hinterlassen. Aber was bedeutete das schon im Vergleich zu einer Liebesnacht in ihren Armen!

»Habt Ihr das gehört?«

Volker blinzelte verschlafen. »Wovon sprecht Ihr, Liebste?«

»Da war ein Heulen, so als streiche ein halb verhungerter, alter Wolf um die Mauern der Burg.«

»Ein Wolf? So nah bei der Stadt hat sich im ganzen Winter noch kein Wolf blicken lassen. Vielleicht war es einer der Jagdhunde und...« Jetzt hörte auch der Spielmann das klägliche Geheul.

Amalasfrida richtete sich auf ihrem Lager auf. »Klingt irgendwie merkwürdig. Es scheint recht nahe zu sein. Fast, als wäre der Wolf schon innerhalb der Burgmauern.«

Volker schluckte. Sollte das etwa... Er warf die schwere Wolldecke zur Seite und griff nach seinen Beinkleidern.

»Was habt Ihr, Herr Volker?«

»Ich muß hinunter, nach dem Rechten sehen. Manchmal streift Königin Ute noch zu später Stunde durch den Kräutergarten. Wenn wirklich ein Wolf innerhalb der Mauern herumläuft, ist sie vielleicht in Gefahr...«

»Ein Weib, das sich von einem Wolf reißen läßt, hat nicht den Titel Königin verdient!« Sie lächelte. »Ich habe selbst einmal einen erlegt... mit einer Saufeder.«

Volker streifte seine Tunika über, griff nach dem Gürtel und nach seinem roten Wollumhang. »Nun, unsere Königin spaziert nur selten durch ihren Kräutergarten...« Mit einem Schritt war er beim Fenster und spähte in die Finsternis. Zwischen den Büschen war niemand zu sehen. Ein Geräusch ertönte an der Tür. Volker drückte das Licht der Kerze aus.

Eine riesige Gestalt beugte sich unter dem niedrigen Türsturz. »Ich sehne mich nach deinen Krallen, meine kleine Wildkatze, und... Bei Wotan! Wer steht da am Fenster?«

Volker machte einen Satz in die Tiefe. Er haßte es, wenn ein kultivierter Abend ein solches Ende nahm. Barbarenpack! Federnd landete er auf dem hartgefrorenen Boden und fluchte. Er hatte seine Stiefel oben vergessen! Geduckt rannte der Spielmann zwischen den Büschen hindurch in Richtung der Stallungen.



Golo hatte sich auf dem Heuboden über den Pferdeställen verkrochen. Hier fühlte er sich dem Sommer näher. Es duftete nach Erntedankfest und Pferdemist. In eine alte Decke gewickelt, hatte er sich ein Nest gebaut wie die Vögel in den Bäumen. Es war sicher schön, ein Vogel zu sein. Frei durch die Lüfte zu ziehen und keinen Herren zu haben, der einen dauernd mit allem möglichen Unsinn drangsalierte. Golo wußte nicht, wohin die Vögel im Herbst flogen, aber er war sich sicher, daß sie einen besseren Platz gefunden hatten als das verschneite Worms.

»Wir sollten einmal über Käuzchenrufe reden, mein Freund!«

Golo lugte über den Rand seines Heunestes hinweg. Wie hatte Volker ihn hier oben finden können? »Ich, ähm... Ich habe noch zugesehen, wie Ihr ihnen glücklich entkommen seid, Herr. Hattet Ihr einen schönen Abend bei der Dame?«

»Wenn ich es nicht besser wüßte, würde ich denken, du willst mich foppen, Kerl! Mach Platz! Ich kriech’ bei dir unter. Die Sachsen rennen immer noch wie aufgescheuchte Hühner durch den Burghof und suchen nach einem Flüchtling ohne Schuhe.«

»Ohne Schuhe?« Golos Blick fiel auf Volkers nackte Füße. »Das muß ja gräßlich kalt sein.«

Statt zu antworten, bedachte der Spielmann ihn mit einem bösen Blick. »Warum hast du nicht das vereinbarte Signal gegeben? Wolltest du mitansehen, wie sich dein Herr auf einem Sachsenschwert macht? Hab’ ich dich vielleicht nicht immer gut behandelt? Welcher Diener bekommt von seinem Herren schon einmal ein ganzes Huhn geschenkt und...«

»Ich möchte nicht widersprechen, aber das mit dem Huhn war auf dem letzten Osterfest. Es ist schon fast ein Jahr her und...«

»Unterbrich mich nicht!« Volker packte ihn beim Wams. Für einen Spielmann war er recht stark, und wenn er nicht gerade mit Damen zu tun hatte, konnte er obendrein noch recht rüpelhafte Manieren an den Tag legen. Er sah zwar gut aus mit seinem langen, blonden Haar und den blauen Augen, doch wenn er schlechte Laune hatte, dann konnte man ihn eher für einen Halsabschneider als für einen Dichter halten, dem die Damen zu Füßen liegen. Golo hatte ohnehin nie begriffen, was man an den verdrehten Wortspielen finden konnte, mit denen sein Herr die Herzen aller Weiber eroberte.

»Warum hast du mich da oben ins Messer laufen lassen?« grollte Volker finster. »Was sollte dieses klägliche Wolfsgeheul?«

»Ich... Mir war plötzlich der Mund so trocken, als ich diese Sachsen gesehen hab’, und ich... ich konnte einfach keinen Käuzchenschrei nachmachen. Ich wußte nicht...« Volker stieß ihn ins Heu und hob drohend die Fäuste.

»Ich will die Wahrheit! Das gibt es doch gar nicht, daß du keine Vogelstimmen nachahmen kannst. Willst du mir etwa erzählen, du wärst nicht als kleiner Junge mit deinen Freunden in den Wald gelaufen, um dort allerlei Schabernack zu treiben? So etwas lernt man doch nebenbei, genauso wie reiten und...«

»Erinnert Ihr Euch noch an den Tag, an dem ich zum ersten Mal auf Eurem Pferd gesessen habe, Herr?«

Volker grinste breit und setzte sich neben ihm ins Heu. »Natürlich! War ein toller Spaß zuzusehen, wie Lanzenbrecher dich in den Schlamm geworfen hat.«

»Hmm... stimmt. Mein Hintern erinnert sich noch heute an diesen tollen Spaß. Ich bin damals im Schlamm gelandet, weil ich noch nie auf einem Pferd gesessen hatte. Vielleicht erinnert Ihr Euch noch, Herr, ich bin der Sohn eines armen Bauern! Im ganzen Dorf hat es kein Pferd gegeben. Ich habe nie reiten gelernt, bis Ihr es mir beigebracht habt. Und ich bin auch nicht mit Freunden durch den Wald getollt. Ich habe Gänse gehütet, Pilze und Reisig gesucht, meinem Vater bei der Ernte oder beim Pflügen geholfen und...«

»Mir kommen die Tränen, Golo.« Volker kratzte sich am Kinn. Eine Zeitlang saßen sie einander schweigend gegenüber. Golo überlegte, ob er vielleicht etwas Falsches gesagt hatte. Dieses Schweigen beunruhigte ihn. Es wäre besser, wenn Volker fluchte und tobte. Schlechtgelaunte Adlige und Kirchenmänner, das war etwas, was er von Kindesbeinen an kannte. Aber ein Ritter, der einfach nur dasaß und einen anstarrte... Das war unheimlich. Ob der Spielmann wohl darüber nachdachte, ihn anzuklagen? Golo schluckte. Das war Unsinn! Volker konnte es nicht riskieren, über diese Angelegenheit öffentlich zu reden. Wenn ruchbar wurde, wer das Lager mit der Sachsenfürstin geteilt hatte, dann...

»Vielleicht habe ich dir Unrecht getan. Ich werde bei Gelegenheit darüber nachdenken. Auf jeden Fall werde ich dich den Ruf des Käuzchens lehren. Du bist als Knecht für mich völlig unbrauchbar, wenn du nicht einmal solche einfachen Kleinigkeiten erledigen kannst. Ich meine, es wird noch öfter geschehen, daß ich einer Dame meine Aufwartung mache, und möglicherweise wird es auch wieder vorkommen, daß du darauf achten mußt, wann der betreffende Ehemann zurückkehrt. Und noch etwas! Falls du es wieder mal vermasseln solltest... Versuche bitte nicht, einen Wolf nachzuahmen! Das war das jämmerlichste Wolfsgeheul, das ich jemals gehört habe. Ich hab’ schon drei Tage alte Hundewelpen gesehen, die bedrohlicher knurren konnten, als du das Geheul eines Wolfes nachmachst.«

»Aber ich...«

»Man widerspricht seinem Herren nicht, Knecht! Und man fällt ihm auch nicht ins Wort. Im übrigen denke ich, daß ich davon absehen werde, dir das Fell zu gerben. Ich hätte eben mit deiner Dummheit rechnen müssen. Das war mein Fehler.«

Golo blickte zu Boden. So kannte er sie, die Adligen! Es war besser, darauf nicht zu antworten. Bis heute abend hatte er sich gefreut, in Volker einen Herren zu haben, für den er nicht allzuviel tun mußte... Manchmal hatte der Dienst bei ihm sogar Spaß gemacht. Es war im letzten Winter gewesen, als Volker in Golos Heimatdorf geritten kam, das zum Lehen der Herren von Alzey gehörte. Er hatte sich die jungen Männer angesehen und schließlich ihn ausgewählt, mit auf die Königsburg nach Worms zu kommen. Er sollte sein Diener und Waffenknecht werden. Er bekam eine Stute und täglich eine Stunde Unterricht im Schwertkampf. Davon abgesehen mußte er sich um die Pferde kümmern und dafür Sorge tragen, daß die Kleider seines Herren immer in einem guten Zustand waren. Verglichen mit der harten Feldarbeit im Dorf war das eine Kleinigkeit. Das einzige, was Golo beunruhigte, war die Tatsache, daß es Volker offensichtlich unmöglich war zu akzeptieren, daß schöne Frauen gelegentlich bereits verheiratet waren. Wenn es um Weiber ging, kannte der Spielmann keine Scham. Ein paar Tage war es erst her, daß Volker ihm voller Stolz erzählt hatte, daß es ihm sogar schon einmal gelungen sei, eine Äbtissin zu verführen. Mochte der liebe Herrgott seiner Seele gnädig sein!

»Was brütest du vor dich hin? Freust du dich nicht, daß ich dich nicht bestrafen werde?«

»Selbstverständlich, Herr!« Golo nickte pflichtbewußt. »Sagt, wie habt Ihr mich eigentlich so schnell gefunden? Ihr könnt doch nicht gesehen haben, wie ich auf den Heuboden gestiegen bin.«

Der Spielmann lachte leise. »Ein guter Herr weiß stets, wo sich seine Knechte und Dienstmägde herumtreiben. Ein Stallbursche hat mir verraten, daß du dich gelegentlich hier oben verkriechst. Übrigens habe ich gerade beschlossen, daß es doch nicht weise ist, dich völlig ungestraft davonkommen zu lassen. Immerhin hat mich deine Dummheit heute abend ein Paar fast neue Reitstiefel gekostet.«

Golo zuckte innerlich zusammen. »Aber Ihr sagtet doch...«

»Ich hab’s mir anders überlegt. Gib mir deine Schuhe!«

»Meine Schuhe?«

»Glotz mich nicht an wie eine Kuh und tu endlich, was ich dir befehle. Ich habe nicht vor, die Nacht hier in einem Heuhaufen zu verbringen. Im Sommer und mit einem hübschen Mädchen im Arm mag das seinen Reiz haben, aber im Moment ist es entschieden zu ungemütlich in einem Stall. Im Burghof laufen wahrscheinlich immer noch ein paar aufgebrachte Sachsen herum und suchen nach einem Mann, der in dieser Eiseskälte barfuß unterwegs ist. Wahrscheinlich helfen ihnen mittlerweile sogar schon die Wachen König Gunthers. Deine Schuhe sind zwar meinem Stand nicht ganz angemessen, aber in der Dunkelheit wird das schon keinem auffallen.«

Golo löste die Lederriemen seiner Bundschuhe. Diese Sache hatte doch einen Haken! »Wie soll ich denn zu meinem Schlafplatz in der Küche gelangen, wenn Ihr jetzt...«

Der Spielmann grinste. »Es ist sicher keine gute Idee, in den nächsten Stunden barfuß über den Burghof zu spazieren. Du weißt ja, diese Barbaren... Aber hier ist es ja auch ganz gemütlich. Du hast eine Decke und das warme Heu. Ich finde, für einen Knecht ist das eine ganz gute Unterkunft.« Volker war in die Bundschuhe geschlüpft und verneigte sich mit großer Geste. »Du entschuldigst mich jetzt. Ich brauche meinen Schlaf. So wie die Dinge stehen, wird morgen bei Hof einiger Aufruhr herrschen...«



Volker war überrascht vom Geschick, mit dem die Barbaren die Ereignisse der vorangegangenen Nacht verschleierten. Überall bei Hof war die Rede von einem tollkühnen Dieb, der an der Mauer des Turms hinaufgeklettert sein mußte, um den Schmuck der Prinzessin Amalasfrida zu stehlen. Damit wurde die Angelegenheit nun wiederum im höchsten Grade peinlich für König Gunther, der, so wie es schien, nicht einmal innerhalb der Mauern seiner Burg das Zepter in der Hand hielt. Beinahe wäre es schon am frühen Morgen zu einem Duell zwischen Gernot und einem der Sachsen gekommen, weil die Gesandten keine Gelegenheit ausließen, von der Schwäche des Königs zu tönen, und in ihrer Impertinenz forderten, daß der Schuldige bis zum Mittag des kommenden Tages gefunden und zur Rechenschaft gezogen werden sollte.

Mit schlechtem Gewissen hörte Volker dem Gerede zu und begann darüber nachzudenken, ob er sich nicht stellen sollte, um den Ruf seines Königs zu retten. Amalasfrida und Horsa waren zum Mittagsmahl gemeinsam an der königlichen Tafel erschienen, und nichts deutete darauf hin, daß sich die beiden im Streit befanden. Zum ersten Mal fragte sich der Spielmann, ob es wirklich nur seine schönen Worte waren, denen die Prinzessin verfallen war. Sie hatte recht schnell seinem Werben nachgegeben... War er es am Ende, der zum Opfer einer Intrige geworden war? Suchten die Sachsen einen Anlaß, um den Krieg mit Burgund fortzuführen? Und hatte er ihnen diesen Anlaß nun geliefert?

Er mußte die Ehre seines Königs reinwaschen! Er konnte nicht einfach tatenlos bei diesem Intrigenspiel der Barbaren zusehen. Gerade wollte er sich erheben und in die Mitte des Saales treten, als Hagen hinter seinen Stuhl trat.

»Folgt mir auf den Hof, Herr Volker!« Die Worte waren nur geflüstert, doch in einem Tonfall, der Volker kalte Schauer über den Rücken laufen ließ. Der große, hagere Mann hatte immer etwas Unheimliches, und die meisten bei Hof mieden ihn. Doch sie beide hatten bislang stets ein gutes Verhältnis zueinander gehabt. Hagen hatte ihn im Schwertkampf unterrichtet und ihm oft mit weisem Rat zur Seite gestanden. Das Wort des dunklen Kriegers galt ihm mehr als selbst das seines leiblichen Vaters. In gewisser Weise sah er in dem Tronjer seinen Mentor. Auch wenn das düstere, melancholische Wesen des Recken seinem eigenen Charakter völlig zuwiderlief.

Einen Augenblick lang blickte der Spielmann Hagen unschlüssig nach. Wie stets trug er seinen langen schwarzen Umhang, einen schwarzen Waffenrock und darunter sein geschwärztes Kettenhemd. Auch hatte er sein Schwert umgegürtet, und er sah aus wie ein Mann, der in den Krieg ziehen wollte.

Ungeduldig drehte sich Hagen nach ihm um. Offensichtlich war es klüger, den Tronjer nicht warten zu lassen. Er stand jetzt in einer Nische des großen Festsaals, wo er vor den Blicken der meisten Gäste verborgen blieb. Vor allem die Sachsen am Kopf der Tafel konnten ihn dort nicht sehen. Volker erhob sich und entschuldigte sich mit ein paar höflichen Floskeln bei den Damen, die an seiner Seite saßen. Dann verließ er gemessenen Schrittes den Saal, so als würde er einem tiefen, inneren Drang folgen, um sich von den Zinnen der Burgmauer herab zu erleichtern.

Vor dem Festsaal erwartete ihn Hagen bereits. »Wenn es nach mir ginge, würde ich diese sächsischen Bastarde von unseren Wachen noch in dieser Stunde hinrichten lassen und ihre Köpfe auf Lanzen gespießt vor dem Burgtor aufstellen. Es ist mir unerträglich zuzusehen, wie sie unseren König demütigen. Wie steht Ihr dazu, Herr Volker?«

»Wenn Ihr mein Schwert fordert, stehe ich Euch jederzeit zur Verfügung.«

Hagen lächelte schief. Er hatte die Doppeldeutigkeit der Worte verstanden. »Wir haben zuwenig Männer unter Waffen, um uns auf einen Krieg mit den Sachsen einlassen zu können. Horsa weiß das genau, und deshalb demütigt er unseren König. Was Euch angeht, Herr Volker, denke ich, daß wohl niemandem geholfen ist, wenn Ihr bereit seid, Euer Leben in einem Duell mit mir zu verschenken. Ich schätze Eure Kunst und den leichten Ton, mit dem Ihr diesen Hof selbst in den dunkelsten Stunden zu bezaubern wißt. Euren Lebenswandel jedoch werde ich niemals begreifen. Warum bei den Göttern mußtet Ihr mit der Sächsin buhlen? Seid Ihr nicht mehr bei Sinnen?«

Der Spielmann schluckte. »Ich... Ich glaube, ich war verliebt.«

Hagen schüttelte den Kopf. »Wenn ich Euch das glauben könnte, mein Freund, dann stünden wir jetzt nicht hier. Wißt Ihr, Ihr seid entschieden zu oft verliebt...«

»Woher wißt Ihr eigentlich, daß ich in der letzten Nacht in der Turmkammer war? Nicht, daß ich es leugnen wollte, doch...«

Hagen öffnete die kleine, lederne Geldkatze an seinem Gürtel und zog einige scharlachrote Wollfäden heraus. Er hielt sie an den Umhang des Spielmanns. »Die Farbe stimmt, nicht wahr? Es gibt keinen außer Euch, der einen Mantel in dieser prächtigen Farbe besitzt. Die Wollfäden habe ich im Gebüsch unter dem Turmfenster gefunden. Damit steht für mich außer Zweifel, was sich in der letzten Nacht in der Kemenate dieser Sächsin ereignet hat!«

Volker versteifte sich. »Ich bin selbstverständlich bereit, die Verantwortung für meine Taten zu tragen. Ich werde vor den Hof treten und erklären, wie sich die Dinge in Wahrheit zugetragen haben. Und ich...«

»Und dann? Damit wird die Situation doch nicht besser! Gunther wird Euch für den Frevel am Weib eines Gesandten hinrichten lassen oder zumindest auf immer vom Hof verbannen müssen. Ich habe einen anderen Plan. Morgen werde ich verkünden lassen, daß der Dieb gefaßt ist. Auf dem Marktplatz der Stadt werde ich einen Mann hängen lassen. Er wird zwar bis zuletzt behaupten, daß er unschuldig ist, aber das tun sie ja alle...«

»Das ist Unrecht, Herr Hagen! Der Mann ist unschuldig! Ich habe Euch doch gerade erklärt, daß es niemals einen Diebstahl gegeben hat und daß ich bereit bin, für die Konsequenzen dessen, was tatsächlich geschehen ist, einzustehen.«

Der Tronjer lächelte kühl. »Ich möchte Euch nicht verlieren, Freund Volker. Der Kerl, den ich hängen lasse, ist ein Raubmörder. Um ihn ist es nicht schade. Im Gegenteil, durch seinen Tod hat er vermutlich das einzige Mal in seinem Leben Gelegenheit, seinem König einen Dienst zu erweisen. Gunther wird die Sachsen für den Verlust des Schmuckes reichlich entschädigen, und das einzige, was bleibt, ist eine böse Geschichte darüber, daß Gäste des Burgundenreichs nicht einmal in der Königsburg vor Räubern sicher sind. Was Euch aber angeht, Herr Volker, so möchte ich sicher sein, daß es für die restliche Zeit, die die Gesandtschaft bei Hofe weilt, nicht mehr zu weiteren Verwicklungen wie in der letzten Nacht kommt. Ich habe bereits mit dem König gesprochen, und auch wenn er nicht weiß, was sich in der Kemenate Amalasfridas wirklich zugetragen hat, hält er es für eine gute Idee, Euch an den Hof seiner Nichte in Aquitanien zu schicken. Seit ihrer Hochzeit mit dem Baron Rollo von Marans hat man nichts mehr von ihr gehört, und sie wird sicherlich sehr einsam sein. Reist also nach Marans und leistet ihr den Sommer über Gesellschaft. Ich bin sicher, daß sich alle bei Hof freuen werden, wenn wir Euch zum Christfest wiedersehen, Herr Volker.«

»Aber... Das ist fast ein Jahr. Ihr könnt mich doch nicht ein ganzes Jahr lang in die Fremde schicken!«

Hagen runzelte die Stirn. »Ich kann morgen einen Unschuldigen für Eure Taten hängen lassen. Reden wir lieber nicht darüber, was ich sonst noch alles kann. Packt Eure Sachen und macht Euch zur Abreise bereit. Wenn sich morgen abend die Raben auf den Schultern des Gehängten niederlassen, solltet Ihr schon ein gutes Stück des Wegs gekommen sein. Versteht mich nicht falsch! Ich möchte Euch nicht verlieren, doch wenn ich befürchten muß, daß Ihr dem König durch Euer Ungestüm in Herzensangelegenheiten noch weitere Schwierigkeiten bereiten werdet, könnte ich vielleicht gezwungen sein, zu Mitteln zu greifen, die eine Reise nach Aquitanien noch vergleichsweise angenehm erscheinen lassen. Auch wenn wir gute Freunde sind, Herr Volker, gilt meine Treue doch zuallererst dem König!«


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