14. KAPITEL


Krachend fuhr die Axt tief ins helle Holz des riesigen Baums. Zwei Knechte hatten die Eiche so vorbereitet, daß nur noch wenige Axthiebe nötig waren, um den Baum stürzen zu lassen. Rauschend fing sich der Wind im Wipfel der Eiche. Der Baum begann sich zu neigen. Mit einem raschen Schritt zur Seite brachte sich der Bischof in Sicherheit.

Dann stürzte der Baumriese und tauchte in den Schlamm des Sumpfes. Triumphierend riß Jehan die Axt über den Kopf. »So wie hier werde ich den Aberglauben der Heiden überall ausrotten, wo ich ihn antreffe. Unser Freund, Golo von Zeilichtheim, hat mir erklärt, daß es üblich ist, die Königin des Nachtvolks zu fordern, indem man in das Horn bläst, das in dem Schrein vor der Eiche lag. Nun, was mich angeht, ich brenne darauf, diesen Götzendienern, die den Baron von Marans ermordet haben, den Schädel einzuschlagen! Aber wie steht es mit euch? Habt ihr den Mut, mir zu folgen und den Dienern der Hölle ins Gesicht zu spucken, wenn sie aus den Sümpfen gekrochen kommen?«

Berengar von Broceliande, der Anführer der Ritter aus Armorika, trat vor die Front der Krieger und riß sein Schwert hoch. »Ich folge dir, Jehan. Selbst wenn du den Leibhaftigen persönlich an seinem Bart packen willst, werde ich an deiner Seite stehen und im Glauben an Gott mein Schwert führen, so wie es sich für einen christlichen Ritter geziemt. Wer mit mir ziehen will, der möge vortreten!«

Die Ritter aus Armorika waren die ersten, die der Aufforderung ihres Anführers folgten. Wie alle anderen beeilte sich auch Golo, nicht hinter der Gefolgschaft Berengars zurückzustehen. Mit blankem Schwert in den Händen stimmte er in das Jubelgeschrei ein, das sich allenthalben im Heerlager erhob.

Der Bischof breitete seine Arme aus. »Ich wußte, daß ich auf euren Mut vertrauen kann, meine Freunde. Doch die Schlacht, die es heute zu schlagen gilt, ist nicht wie die Kämpfe, die ihr kennt. Wir werden gegen Zauberer antreten und vielleicht sogar gegen Männer, die von Teufeln besessen sind. Nicht die Kraft unserer Schwerter wird dieses Gefecht entscheiden, sondern unser fester Glaube an Gott, denn keine höllische Macht ist stark genug und kein Zauber so niederträchtig, daß wahrer Glaube nicht zu triumphieren vermag. Die Frevler haben ihr Versteck irgendwo hier in den Sümpfen, keine zwanzig Meilen von der Via Turonensis, der großen Pilgerstraße, entfernt, die zum Grab des heiligen Jacobus von Compostella führt. So wollen wir unseren Feldzug unter den Schutz dieses Weggefährten Christi, des Apostels Jacobus, stellen und ihm zu Ehren ein gemeinsames Gebet anstimmen, das unseren Glauben stärken wird.«

Der Bischof kniete nieder und berührte mit seiner Stirn die Parierstange seines Schwertes, als sei sie der Querbalken eines Kreuzes. Dann begann er mit lauter Stimme ein altes Jakobspilgerlied zu singen.


»Herrn Sanctiagu, got Sanctiagu

e ultreya e sus eia

Deus aia nos...


Herr Santiago, guter Santiago -

vorwärts, wohlan und aufwärts,

helfe uns Gott...«


Die anderen Ritter folgten seinem Beispiel, und bald hatten sich alle Krieger und Knechte des Heerlagers auf die Knie niedergelassen und sangen voller Inbrunst das Pilgerlied. Zum ersten Mal seit Tagen glaubte auch Golo wieder, daß der Bischof das Nachtvolk besiegen würde. Während das Lied, gesungen von mehr als fünfhundert rauhen Männerkehlen, zum Himmel stieg, vermeinte der frühere Knecht zu spüren, wie ihm seine Seele leichter wurde. Nie zuvor in seinem Leben hatte er sich Gott so nahe gefühlt.

Er hatte Bischof Jehan lange für einen machtbesessenen Mann gehalten, doch nun erkannte er das wahre Wesen des Adeligen. Jehan war von Gott auserwählt und hatte die Last einer gewaltigen Aufgabe zu tragen. Es war dem Bischof bestimmt, Aquitanien von den Heiden zu befreien, und vielleicht würde der Kirchenfürst danach die Ritter der Christenheit vereinen. Golo seufzte voller Verzückung. Auch sein eigenes Schicksal war fest mit dem Weg des Bischofs verwoben. Er, ein Unfreier, war zum Ritter aufgestiegen und durfte als einziger Burgunde an diesem großen Werk Anteil haben.

Golos Blick schweifte zu dem Scheiterhaufen, der inmitten der Lichtung vor dem gefällten Trophäenbaum brannte. Dort schwelten die Pfähle, auf denen die Köpfe all der Opfer des Nachtvolkes gesteckt hatten. Die Schädel waren in einem Gemeinschaftsgrab beigesetzt worden, und der Bischof hatte einige Handwerker, die dem Troß angehörten, damit beauftragt, dort ein großes Steinkreuz zu errichten.

Inzwischen war das Pilgerlied verklungen. Jehan de Thenac hatte sich erhoben und nahm einem der Männer, die in seiner Nähe standen, einen Wurfspieß ab. Dann hob er die Waffe hoch über den Kopf. »Hundert Jahre und länger haben die Heiden diese schöne Lichtung für ihre gottlosen Rituale genutzt. Diese Zeit ist nun für immer vorbei!« Er rammte den Speer mit aller Kraft vor sich in den Boden. »Dies soll der letzte Spieß sein, auf den hier ein Haupt gesteckt wird. Er ist dem Kopf der Zauberin vorbehalten, welche die Heiden Morrigan nennen. Und noch bevor der Sommer vorüber ist, werde ich diesen Eichenschaft mit ihrem Haupte krönen. Nun reicht mir das Horn, das wir in dem Schrein gefunden haben.«

Jehan winkte einem seiner Waffenknechte, und der Mann brachte das mit goldenen Bändern geschmückte Signalhorn. Ohne zu zögern, setzte er das Instrument an die Lippen. Golo hatte ihn vor der unseligen Wirkung dieses Horns gewarnt, und so waren alle Pferde aus dem Troß von der Lichtung fortgeführt worden.

Obwohl der ehemalige Knecht den gräßlichen Mißton schon kannte, ließ ihn auch diesmal der Ruf des Signalhorns erschauern. Gespannt wartete er, ob auch diesmal ein Unwetter vom Meer aufziehen würde. Doch der Himmel blieb klar. Nur weit im Moor konnte man eine blasse Nebelwand erkennen. Wohl jeder auf der Lichtung blickte gespannt nach Westen, und manche der Ritter hatten ein Gebet auf den Lippen. Wie lange würde es wohl dauern, bis die Heerscharen der Morrigan in ihren Booten das Ufer erreichten? Mit dem Hornstoß war die dunkle Göttin herausgefordert. Von nun an würde es kein Zurück mehr geben.

Vielleicht war der Bischof zu leichtfertig gewesen. Nur ein Drittel seines Heeres war bereits versammelt. Die anderen Männer würden auf den flachen Schiffen der Nordmänner durch die Marschen kommen. Doch bislang hatten sie von ihnen noch keine Nachricht erhalten.



Ein leichter Ostwind trieb den Dampf, der aus den heißen Quellen aufstieg, über die große Insel und hüllte Galis in dichten Nebel. Seit Tagen hatte Volker Neman nicht mehr gesehen. Nur die kriegerische Macha hatte das Heiligtum über der Burg verlassen, um mit ihm und den Anführern unter den Kriegern der Stadt zu sprechen. Am Morgen war ein Späher mit beunruhigenden Nachrichten aus den Sümpfen gekommen. Angeblich marschierte ein großes Heer über die Knüppeldämme, und es schien, als sei das Ziel dieser Ritter die verborgene Stadt.

Volker blickte zu dem Heiligtum. Es lag auf dem nördlichsten Ausläufer des Hügels. Der Kamm hatte dort einen leichten Höcker, und auf dessen Spitze lag der ummauerte Kultplatz. Wenn man nicht den schmalen Weg nahm, der dort hinaufführte, mußte man ein paar Schritt die Böschung erklimmen und dann die Mauer aus groben, unbehauenen Steinen hinaufklettern. Ein letztes Mal musterte der Spielmann den Platz inmitten der Festungsanlage, doch im Nebel war niemand zu sehen. Dann schlich er zur Böschung. Er hatte nun lange genug auf Neman gewartet. Er würde herausfinden, wo die Priesterin steckte. Vielleicht hatte Macha sie beseitigt, um an Einfluß zu gewinnen. Die Rabenpriesterin brannte gewiß darauf, gegen die Ritter dort draußen auf dem Knüppeldämmen in die Schlacht zu ziehen.

An der Böschung sah er sich erneut um. Für einen Moment glaubte er, ein verdächtiges Geräusch im Nebel gehört zu haben. Ganz so wie eine Ledersohle, die über einen vorstehenden Stein des Pflasters geschrammt war. Doch jetzt war alles still. Vielleicht war es nur ein Mann, der den Platz überquert hatte, um einen der Wachtposten am Tor abzulösen. Volker wartete noch einen Augenblick, dann begann er die steile, grasbewachsene Böschung hinaufzuklettern. Durch den Nebel war das Gras naß und rutschig geworden. Es schien dem Spielmann eine Ewigkeit zu dauern, bis er endlich den Fuß der Mauer erreichte. Oben aus dem Heiligtum erklangen Trommelschlag und Flötenspiel. Irgend etwas ging dort vor sich. Doch das war nur gut so! Die Priesterinnen waren jetzt abgelenkt, und er hatte es leichter einzudringen. Wachen brauchte er nicht zu befürchten. Dort oben wurden während der Zeremonien, welche die Morrigan abhielt, keine Männer geduldet.

Die Mauer zu erklettern war kaum schwerer, als die Böschung hinaufzukommen. Man hatte keinen Mörtel benutzt, sondern die Steine einfach nur aufeinandergeschichtet. Hier und dort ragten die Enden von Balken aus dem Mauerwerk und boten gute Griffe. Schließlich erreichte der Spielmann die Brüstung und versteckte sich auf dem Wehrgang. Sein Schwert hatte er in seinem Gemach zurückgelassen. Die Scheide wäre nur klappernd gegen das Mauerwerk geschlagen und hätte ihn verraten. Als einzige Waffe trug er einen schmalen Dolch bei sich.

Geduckt schlich er an der Brüstung entlang, bis er eine Rampe erreichte, die zum Innenhof hinabführte. Die Musik klang mittlerweile lauter und bedrohlicher. Wartend verharrte der Spielmann an der Rampe. Der Nebel war so dicht, daß man keine zehn Schritt weit sehen konnte. Die doppelt mannshohen Steine, die dort unten standen, erschienen nur noch als verschwommene, graue Schemen. Es schien sich etwas zwischen ihnen zu bewegen.

Volker wartete noch einen Augenblick, bis er meinte, daß niemand in seine Richtung kam. Dann ging er die Rampe hinunter und lief über den Hof bis hin zum Steinkreis. Mit klopfendem Herzen preßte er sich gegen den kalten Fels und spähte um die Ecke. Innerhalb des Steinkreises waren Feuerbecken aufgestellt worden, und der Duft schwelender Kräuter zog mit dem Nebel. Die flachen Metallbecken ruhten auf hüfthohen, dreibeinigen Ständern. Hinter jeder Feuerstelle war eine Priesterin plaziert, die in unregelmäßigen Abständen Räucherwerk auf die glühenden Kohlen warf. Die Frauen trugen lange, dunkle Gewänder und weite graue Umhänge, die sie fast mit Rauch und Nebel verschmelzen ließen.

Wenn er sehen wollte, was im inneren Steinkreis vor sich ging, würde er sich weiter nach vorne wagen müssen. Zögernd nagte der Ritter an seiner Unterlippe. Er war hierher gekommen, um Neman zu sehen. Angeblich würde sie während des Rituals tanzen. Wenn er jetzt wieder zurückging, hätte er genausogut unten in der Festung bleiben können! Der Nebel würde ihn schon schützen. Noch einmal spähte er um die Ecke des Felsblocks, und als er sicher war, daß keine der Priesterinnen in seine Richtung blickte, eilte er mit einigen schnellen Schritten zum inneren Steinkreis.

Von dort konnte er die Musikantinnen beobachten. Sie standen auf den Innenseiten der Felsblöcke und spielten für eine Frau, die in wirbelnden Kreisen über den Platz in der Mitte des Heiligtums tanzte. Es war Neman! Sie trug ein weißes Gewand und drehte sich so schnell, daß ihr weit geschnittener Rock wie ein Wagenrad von ihren Hüften abstand. Das rotblonde Haar leuchtete wie eine Flamme um ihr blasses Gesicht. Sie schien in Trance zu sein. Ihre Augen blickten starr ins Leere. Schweiß rann ihr über die Stirn. Zweimal kam sie so dicht an Volkers Versteck vorbei, daß er sie mit ausgestrecktem Arm hätte greifen können.

Plötzlich verstummten alle Instrumente, und Neman blieb wie versteinert stehen. Ganz leise erklang in der Ferne ein Horn. Die Ritter... Sie mußten zum Trophäenbaum gezogen sein! Die Tänzerin stieß einen wimmernden Laut aus und ging in die Knie. Zwei Priesterinnen eilten zu ihr und legten einen weiten, schwarzen Umhang über ihre Schultern. Dann traten sie hastig zurück.

Neman schien von Krämpfen geschüttelt zu sein. Zunächst hörte man noch ein Schluchzen. Sie zog den Mantel enger um ihre Schultern. Mit einem wütenden Schrei erhob sie sich und breitete den Umhang aus, als sei er ein schwarzes Flügelpaar. »Sie haben mich gefordert! Ich werde ihre Köpfe holen, und meine Raben werden ihnen das faulige Fleisch von den Rippen picken!« Die Hohepriesterin blickte in Volkers Richtung, und der Spielmann trat erschrocken einen Schritt zurück. Neman hatte sich verändert. Ihr Gesicht wirkte noch blasser und hatte einen grausamen Zug angenommen. Ihre Augen funkelten und schienen tiefer in den Schädel gesunken zu sein. Auch wirkte ihr Gesicht jetzt länger... Was war das für ein böser Zauber? Blut tropfte von ihren Lippen auf ihr weißes Gewand. Macha sah der Tänzerin Neman zwar noch ähnlich, und doch stand dort ein anderer Mensch in dem Steinkreis. Selbst ihre Stimme war dunkler geworden.

»Ruft die Krieger zusammen und bringt mir meine Waffen! Wir wollen den Tod in das Heerlager der Eindringlinge tragen.«

Volker duckte sich und schlich zum äußeren Steinkreis zurück. Er mußte von hier verschwinden! Die Priesterinnen würden nach ihm suchen. Auch er gehörte jetzt zum Rat, und vielleicht würde seine Stimme in der Versammlung der Krieger sogar den Ausschlag geben. Wenn die Kunde der Boten tatsächlich stimmte und ein ganzes Heer am Rand der Sümpfe aufmarschiert war, dann wäre es Wahnsinn, die Festung zu verlassen und anzugreifen. Gegen Hunderte ausgebildeter und bestens bewaffneter Ritter könnten die wilden Krieger aus den Sümpfen niemals bestehen. Sie würden von den Normannen niedergemäht wie der Sommerroggen vom Schnitter.

Hastig eilte er die Rampe hinauf. Hinter ihm hallten Schritte durch den Nebel. Ohne sich umzublicken, lief er zur Brüstung der Mauer und kletterte über sie hinweg. Seine Füße tasteten über die Wand und suchten nach einem Halt. Endlich fühlte er eine Fuge zwischen den Bruchsteinen, die breit genug war, um seinen Fuß halb hineinzuschieben. Er ließ die Brüstung los und tastete nach einem neuen Griff an der Wand. Den linken Fuß setzte er auf einen der Holzbalken, die aus der Mauer ragten. So arbeitete er sich langsam tiefer. Der Abstieg kam ihm wie eine Ewigkeit vor, und er hoffte inständig, daß sich niemand über die Brüstung beugen würde, um an der Mauer hinabzublicken.

Der Wind hatte gedreht und kam jetzt vom Meer. Schon wurden die Nebelschwaden, zwischen denen die Stadt des Nachtvolks verborgen lag, lichter. Er mußte schneller vorankommen. Nicht mehr lange, und man könnte ihn vom Hof der Burg aus sehen. Die grasbewachsene Hügelflanke lag nur noch zwei Schritt tiefer. Entschlossen stieß er sich von der Wand ab, landete federnd auf dem Rasen und rollte sich überschlagend die Böschung hinab, bis die steinerne Rückwand eines Lagerhauses seinen Sturz bremste. Benommen versuchte er, wieder auf die Beine zu kommen, als neben ihm eine Stimme erklang.

»Wißt Ihr nun, was Euch keine Ruhe ließ?«

Volker kniff die Augen zusammen, um die grellen Lichtpunkte zu vertreiben, die vor ihm durch die Luft zu tanzen schienen. Neben ihm stand ein Mann mit schulterlangem, weißen Haar und einem kurz geschorenen Vollbart. Er trug ein weißes Gewand und einen roten Umhang, der an der Schulter von einer goldenen Schlangenfibel zusammengehalten wurde. Der Spielmann hatte ihn schon mehrmals in der Burg gesehen. Er gehörte zu einer kleinen Gruppe von Priestern, die den Dienerinnen der Macha untergeordnet zu sein schienen.

Fieberhaft überlegte Volker, wie er dem Alten erklären konnte, was er an der Mauer gemacht hatte, ohne dabei preiszugeben, daß er heimlich in das Heiligtum eingedrungen war.

»Ich... ich war an der Mauer und hörte von oben seltsame Geräusche. Wie das Schnauben eines Tieres. Ich dachte, die Priesterinnen seien vielleicht...«

Der Priester schnitt ihm mit einer ärgerlichen Geste das Wort ab. »Ich glaube nicht, daß du der Sänger bist, von dem unsere Legenden kunden, und die Art, wie du sprichst, deutet darauf hin, daß du aus einem der Königreiche aus dem Osten kommst. Glaube nicht, daß ich nicht wüßte, was in der Welt geschieht. Ich habe mit den neuen Dienern gesprochen, und manchmal verlasse ich auch die Sümpfe... Ich weiß, mit welchem Feuereifer die Diener des neuen Gottes die alten Heiligtümer zerstören. Oft haben sie sogar die Frechheit, ihre Kirchen auf den Ruinen der alten Tempel zu errichten, obwohl sie gar nicht mehr wissen, warum diese Orte ausgesucht worden sind und welche Kräfte der Kundige dort zu wecken vermag. Doch lassen wir das... Ich möchte von dir wissen, was du gesehen hast!«

Der Spielmann hatte den Eindruck, daß der Alte genau wußte, was sich oben im Heiligtum ereignet hatte. Wahrscheinlich wollte der Priester ihn auf die Probe stellen, um zu sehen, ob er ihn belügen würde. Oder täuschte er sich in dem Kerl? Volker musterte den Alten, doch nichts deutete darauf hin, was der Priester dachte. Ruhig erwiderte er den Blick des Spielmanns. Nun gut, er würde ihm erzählen, was er gesehen hatte!

Als Volker seine Geschichte beendet hatte, schüttelte der Alte den Kopf. »Es war kein Zauber, den du beobachtet hast. Es ist das wahre Wesen der Morrigan. Sie benötigt keine Magie, um zu Macha zu werden. Sie trägt die Rabengöttin in sich.«

Der Spielmann seufzte. Der Alte hatte seine Sinne nicht recht beisammen. Vielleicht hätte er ihn doch belügen sollen. »Ich rede nicht von der Morrigan. Neman hat getanzt. Sie ist durch böse Magie verzaubert worden. Ich glaube, es war der Mantel Machas, der sie behext hat. Sie verwandelte sich erst, als ihr der Mantel mit den Rabenfedern gebracht wurde.«

Der Priester lächelte dünn. »Ich weiß. Du mußt es mir nicht noch einmal erzählen. Neman ist die Morrigan. Morrigan ist nicht nur ein Name. Es ist der Titel, den die Hohepriesterin führt. So wie die Christen dort draußen ihren obersten Priester Papst nennen. Die Morrigan vereint die drei Göttinnen in sich. Sie ist Macha, Babd und Neman. Man kann auch anders herum sagen, die drei Göttinnen seien in Wirklichkeit eins, die Morrigan.«

Volker starrte den Alten an. Seine Worte waren ihm ein Rätsel. »Woher weißt du das? Ist es dir nicht genauso wie allen anderen Männern verboten, den Ritualen der Priesterinnen beizuwohnen? Und wie kann eine Frau in drei zerfallen? Ich möchte dich nicht beleidigen, alter Mann, doch ich kann in deinen Worten keinen Sinn entdecken. Macha will den Kriegsrat zusammenrufen. Ich muß jetzt gehen.«

Der Spielmann wollte gehen, doch der Alte griff nach seinem Arm. Für einen Mann mit weißem Haar hatte er noch erstaunlich viel Kraft. »Bleib! Niemand geht, bevor Ambiorix seine Rede beendet hat. Ich bin der Barde von Tirfo Thuinn. Ich kenne die Geschichte meines Volkes vom Anbeginn der Zeiten bis zum heutigen Tag, und es ist meine Aufgabe, sie lebendig zu erhalten. Fast alle Geheimnisse dieses Landes sind in meiner Erinnerung lebendig. Zwanzig Sommer hat mein Lehrer mich unterrichtet, bis ich jede dieser Geschichten auswendig dahersagen konnte, ohne auch nur ein Wort der Überlieferung zu vergessen oder zu verändern. Du gehörst nicht zu uns, deshalb kann ich dir dein schlechtes Benehmen dieses Mal noch nachsehen. Doch merke dir, wenn der Barde spricht, schweigt selbst die Morrigan. Sogar wenn sie anderer Meinung ist, wartet sie, bis er seine Rede beendet hat, um ihm dann zu widersprechen.«

»Dann sag, was du mir zu sagen hast!« Volker hatte Mühe, seinen Zorn zu unterdrücken. Es gab nun Wichtigeres zu tun, als diesem verrückten Kerl zuzuhören! Wenn er nicht an der Versammlung des Kriegsrates teilnahm, würde Macha bestimmen, was geschehen würde, und er konnte sich nicht vorstellen, daß die Rabengöttin wußte, wie man einem Ritterheer zu begegnen hatte.

»Ich sehe dir an, daß du mir nicht glaubst, daß die Morrigan die drei Göttinnen in sich vereint. Dabei trägst auch du zwei einander widerstrebende Seelen in deiner Brust. Du bist ebensosehr ein Sänger wie ein Krieger.«

»Ich sehe nicht, was du mir damit sagen willst«, entgegnete Volker gereizt. »Es ist kein Widerspruch in dem, was ich bin. Beides ist ein Teil von mir, so wie eine Münze zwei verschiedene Seiten hat und trotzdem eins ist. Außerdem verändere ich nicht mein Gesicht, wenn man mir einen schwarzen Mantel über meine Schultern legt.«

»Du magst mir erzählen, daß du eins mit dir bist, Sänger, doch im Grunde weißt auch du, daß dies nicht stimmt. Bist du nie im Zweifel mit dir? Fragst du dich niemals, welches der bessere Weg ist? Wenn du das Haus eines Adligen besuchst, weißt du, daß man dort sowohl den Barden als auch den Krieger empfangen wird. Doch man wird sie unterschiedlich behandeln. Liebt der Herr des Hauses Lieder und Geschichten, so wird der Barde der König des Abends sein, wohingegen man den Krieger nur höflich aufnimmt, weil es die Gesetze der Gastfreundschaft verlangen. Doch was ist, wenn der fremde Herr Musik nicht zu schätzen weiß? Dann wird der Barde am Herdfeuer beim Gesinde sitzen, wohingegen man einem Krieger vielleicht Respekt gezollt hätte und den Ehrenplatz an der rechten Seite des Hausherren eingeräumt hätte. Du mußt dich also entscheiden, wer du sein willst, wenn du in ein fremdes Haus kommst. Als Krieger wirst du dich vollkommen anders benehmen, ja, du wirst sogar anders sprechen als ein Barde. Auf gewisse Weise haftet dir jedoch ein Makel an. So sehr du dich auch in die Rolle des Barden begibst, wirst du doch immer wissen, daß du auch als Krieger hättest kommen können. Umgekehrt ist es natürlich genauso. Die Morrigan ist anders. Sie ist das Gefäß der drei Göttinnen. Wenn Macha in sie einfährt, dann ist sie nur noch Macha. Sie hat dann die Erinnerung an alles andere verloren, und deshalb verändern sich sogar ihre Gesichtszüge und ihr Stimme. Das gleiche gilt für Babd und Neman. Nur in den Augenblicken, in denen sich die Morrigan keiner der drei Göttinnen hingegeben hat, ist sie unvollkommen, denn dann kennt auch sie den Zweifel. Dann vermag sie sich zu erinnern, wer Gwen war...«

Volker seufzte. Wenn der Alte tatsächlich ein Barde war, dann hatte er einen verdammt üblen Lehrmeister gehabt. Seine Art, Geschichten zu erzählen, war ebenso verwirrend wie langatmig. »Wer zum Henker ist Gwen?«

»Meine Tochter. Die alte Morrigan hat sie unter den Mädchen der Stadt auserwählt, um ihre Nachfolgerin zu werden. Lange Jahre ist sie von den Priesterinnen auf dieses Amt vorbereitet worden. Sie mußte lernen, sich selbst zu vergessen, um zum Gefäß für die Göttinnen werden zu können. Man hat ihr schwere Prüfungen auferlegt und ihr Zaubertränke gegeben, die sie verändert haben. Das alles diente dazu, die Gwen, die sie einst war, in ihr zu töten. Als Kind habe ich sie einmal auf eine meiner Reisen, die mich auf die andere Seite des Nebels geführt hat, mitgenommen. Wir waren in Niort, und dort haben wir in einer Schenke einen Märchenerzähler getroffen. Die ganze Nacht lang hat die kleine Gwen ihm zugehört. Sie konnte gar nicht genug bekommen von seinen Geschichten über Prinzessinnen, ferne Königreiche, Drachen und Prinzen. Ich habe den Märchenerzähler reichlich entlohnt, als er am nächsten Morgen weitergezogen ist. Nie zuvor und nie wieder danach habe ich meine Tochter so glücklich gesehen...«

Der alte Mann kämpfte mit den Tränen. Seine Lippen bebten, und es schien eine Ewigkeit zu vergehen, bis er sich wieder gefaßt hatte. »Meine Gwen ist jetzt schon viele Jahre tot...«

»Aber sie ist doch die Morrigan. Wenn die Göttinnen nicht in ihr sind, dann muß sie sich doch an dich erinnern und an ihre Kindheit.«

»Nein, Sänger.« Der Priester schniefte leise und preßte die Lippen zusammen. »Damit sie vollkommen sein konnte, hat ihr die alte Hohepriesterin alles genommen. Gwen ist tot... Es ist eine große Ehre, wenn ein Mädchen auserwählt wird, zur Morrigan zu werden. Verstehe mich nicht falsch... Es war schon immer so, daß es eine Hohepriesterin gegeben hat. Aber die alte Morrigan hat ihr Werk an meiner Tochter besonders gründlich verrichtet. Gwen ist nur noch das Gefäß. Wenn keine der Göttinnen in ihr ist, sitzt sie nur reglos in ihrer Kammer und starrt vor sich hin. Wenn ich zu ihr spreche, scheint sie mich nicht zu hören. Die Priesterinnen müssen sie füttern, so als sei sie ein kleines Kind. Sie kann nicht einmal mehr einen Löffel zum Mund führen, meine Gwen...«

Volker schaute betroffen zu Boden. Der Alte tat ihm leid, und doch war jetzt keine Zeit, sich seine Geschichte anzuhören. Der Kriegsrat hatte sich gewiß bereits im Langhaus der Burg versammelt, und sie würden einen Angriffsplan beschließen, ohne ihn gehört zu haben!

»Neman ist die einzige, die meiner Gwen wenigstens ein wenig ähnelt. Sie hat mir von dir erzählt. Sie liebt deine Geschichten, auch wenn ich glaube, daß du sie über deine Herkunft belogen hast.«

»Du weißt also, daß ich nicht der...«

Der Priester lächelte. »Ich weiß, wie Neman dich zu dem Sänger gemacht hat, der sich aus den Gräbern der toten Helden erhebt. Es war ihr Entschluß, daß du es sein solltest. Sie ist eine Göttin. Sie wird wissen, was sie tut. Sie wollte dich hier haben, deshalb hat sie dich aus dem Grab geholt und die heilige Hochzeit mit dir gefeiert. Ich glaube, sie liebt dich. Nicht daß ich begreifen könnte, worauf sich diese Liebe begründet, doch was wissen Menschen schon von Göttern? Weil ich der Barde bin und wissen muß, was wirklich war, wenn ich die Geschichte unseres Volkes weitererzählen will, hat sie mir die Wahrheit gesagt. Macha mag dich nicht. Sie hält dich für einen Betrüger. Nimm dich vor ihr in acht! Vielleicht würde sie dich sogar töten. Babd bist du gleichgültig...« Der Priester lächelte zynisch. »Doch achte darauf, daß Babd niemals eines deiner Gewänder wäscht. Wenn du sie dabei siehst, weißt du, daß der Tag gekommen ist, an dem du sterben wirst. Sei ständig auf der Hut! Wenn du mit einer der Göttinnen zusammen bist, darfst du dich keinen Atemzug lang sicher fühlen. Innerhalb eines Lidschlages könnte Neman den Leib der Morrigan verlassen, und vielleicht tritt Macha an ihre Stelle. Das war es, was du dort oben im Heiligtum beobachtet hast.«

Der Spielmann konnte dem Alten nicht glauben. Welches Ziel mochte der Priester mit dieser Geschichte verfolgen? Ob er es wagen sollte, ihn offen darauf anzusprechen? Es blieb nicht mehr viel Zeit. Vielleicht war es klüger, auf Intrigen und Spiegelfechterei zu verzichten? »Was willst du von mir, Ambiorix? Warum erzählst du mir das alles?«

»Weil du meine Tochter in deinen Armen halten wirst, wenn Neman sich entschließt, sich dir hinzugeben. Ihr Leib ist das einzige, was von Gwen noch übriggeblieben ist... Sei zärtlich zu ihr...« Der Alte stockte. Für einen Moment lang schien er um seine Fassung zu ringen. Dann sprach er leise, aber sehr eindringlich weiter. »Du gehörst nicht hierher, Sänger. Ich habe dich beobachtet, wie du einer der Frauen, die sie aus der Burg des Normannen mitgebracht haben, in den Wald gefolgt bist. Ist sie der Grund dafür, daß du gekommen bist? Sie heißt Gunbrid, nicht wahr? Ist sie dein Weib?«

Volker schüttelte den Kopf. Ambiorix hatte ihn also tatsächlich durchschaut. »Gunbrid ist die Nichte meines Königs, Gunther von Burgund. Es ist wahr, ich wollte sie in ihre Heimat zurückbringen, aber sie hat beschlossen, bei den Priesterinnen zu bleiben.«

»Gehe zurück zu deinem König, Sänger! Hier ist kein Ort für dich. Glaube mir, Macha wird dich töten. Nutze die nächste Gelegenheit zur Flucht. Du kannst unsere Welt nicht verstehen. Ich sehe dir an, daß du meinen Worten kaum Glauben schenken magst, und doch sind sie wahr.«

Der Spielmann blickte Ambiorix lange in die Augen. Der Alte hielt ihm stand. Was für ein Spiel trieb der Priester? War er wirklich ein Freund? Oder versuchte Ambiorix, ihn zu einem Fehler zu verleiten? Als Volker gehen wollte, hielt der alte Mann ihn noch einmal zurück. »Wundere dich nicht über das, was im Kriegsrat gesprochen werden wird. Wir müssen die Fremden noch draußen im Sumpf angreifen. Wir haben keine andere Wahl!«

»Das ist Irrsinn! Warum sollten wir den Vorteil einer gut befestigten Stellung aufgeben? Wenn Macha diesen Befehl gibt, werden viele Männer aus der Stadt mit ihrem Leben dafür zahlen müssen.«

Der Alte schüttelte ärgerlich den Kopf. »Du begreifst wirklich gar nichts. Wenn sie bis vor unsere Mauern kommen, dann ist unser Geheimnis verloren. Selbst ein Sieg würde uns dann nichts mehr nutzen. Sie dürfen nicht erfahren, wo unsere Stadt liegt. Kommen sie hierher, und nur einem gelingt die Flucht, dann ist die Legende zerstört, daß kein Sterblicher das Reich des Nachtvolks betreten und wieder verlassen kann. Sie würden erkennen, was wir wirklich sind. Menschen, so wie sie. Sie würden wiederkehren, uns ihren Gott bringen und uns unterwerfen. Um unsere Freiheit zu behalten, müssen wir sie angreifen, bevor sie in den Nebel kommen. Ganz gleich, wie groß unsere Aussichten auf einen Erfolg sind!«

Volker musterte Ambiorix mißtrauisch. Er hatte gesagt, kein Sterblicher dürfe diese Stadt betreten und wieder verlassen. Dennoch hatte er ihm zuvor zur Flucht geraten. Es wäre wohl töricht zu glauben, daß er lebend den Rand der Sümpfe erreichen konnte. Vermutlich würden ihm ein paar Bogenschützen folgen, sobald er die Stadt verließ. Doch vielleicht gab es noch einen anderen Weg. Der Spielmann lächelte höflich. »Ich danke dir für deinen Rat und werde ihn beherzigen.«

Der Alte erwiderte sein Lächeln, doch wirkte es maskenhaft und nicht aufrichtig. »Du bist ein Mann meiner Zunft, Sänger. Ich bin verpflichtet, dir zu helfen.«


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