7. KAPITEL


Als das seltsame Heulen aus den Sümpfen erklang, war Golo tief unter einen Busch gekrochen. Sollten die beiden Ritter ihren Streit mit den Feen alleine ausfechten! Er hatte damit nichts zu tun, und wenn es nach ihm gegangen wäre, dann hätte er auch niemals diesen verfluchten Wald betreten.

Mit klopfendem Herzen hatte der Knecht auf den Kampflärm gelauscht, und selbst nachdem das Klingen der Schwerter schon lange verstummt war, hatte er es nicht gewagt, sein Versteck zu verlassen. Erst als ganz in der Nähe Lanzenbrecher vorbeitrottete und die wenigen grünen Triebe von den Bäumen zupfte, kroch Golo unter den Büschen hervor. Der Hengst wirkte erfreut, als er ihn sah. Er schnaubte und kam auf ihn zu, um seinen großen Kopf an seiner Brust zu reiben. Der Knecht tätschelte ihm über den Hals. »Jetzt ist der Spuk vorbei, nicht wahr... Willst du mit mir zu der Lichtung kommen?«

Der Schimmel spitzte die Ohren, und Golo war sich sicher, daß der große Hengst ihn genau verstanden hatte. Er griff nach Lanzenbrechers Zügeln und machte sich auf den Weg. Es dauerte eine Weile, bis er den Trophäenbaum wiederfand. Fast schien es ihm, als wolle der Wald ihm jene Wege verbergen, die dorthin führten, wo vor kurzem erst der Zweikampf stattgefunden hatte. Golo hatte das Gefühl, in jedem Busch und jedem Baum die Zauberkraft der Feen zu spüren. Was wohl aus Volker geworden sein mochte? Ob der Ritter sich auch im Gestrüpp versteckt hatte? Wohl kaum...

Ziellos streifte Golo über die Lichtung und betrachtete die Köpfe auf den Pfählen. Manche der Schädel schienen wissend zu grinsen. Schließlich fand der Knecht, wonach er gesucht hatte. Lange starrte er in Gwalchmais blasses Antlitz. »Du dummer Kerl! Du hattest doch alles, was man braucht, um glücklich zu sein... Wenn ich, so wie du, von edler Geburt gewesen wäre, hätte mich das Schicksal bestimmt nicht in diesen verfluchten Wald geführt. Ein hübsches Weib hätte ich mir genommen, einen Haufen Kinder in die Welt gesetzt und vom Zehnten meiner Bauern ein gutes Leben geführt. Und was hast du daraus gemacht? Hast erreicht, daß dein König dich des Landes vertreibt, bist durch die Welt gezogen und schlägst dich für nichts und wieder nichts mit anderen Rittern! Für uns Bauern ist es besser, daß es einen weniger von deiner Sorte gibt!« Verbittert wandte Golo sich ab. Er konnte sie nicht begreifen, diese Herren! War ihnen langweilig, oder was war der Grund, der sie zu diesem rastlosen Leben trieb?

Er griff nach den Zügeln von Lanzenbrecher. Es war gut, den großen Hengst bei sich zu haben. Mit ihm fühlte er sich auf dieser Lichtung der Toten nicht so verloren. So wußte er, daß er nicht das einzige Wesen aus Fleisch und Blut in diesem gottverlassenen Wald war. »Komm, wir werden jetzt deinen Herrn suchen. Wie ich ihn kenne, sitzt er hier irgendwo in einem Busch. Er hat immer Glück. Irgendwie wird er den Feen entwischt sein. Nicht wahr...« Er blickte dem großen Hengst in die Augen, so als müsse Lanzenbrecher ihm bestätigend zuzwinkern. Doch das Pferd tat nichts dergleichen.

»Was mach’ ich hier nur?« brummte Golo mißmutig. »Mit dir reden, als hätte ich einen gottesfürchtigen Christenmenschen vor mir.« Grübelnd blickte sich der Knecht um und fragte sich, wo er wohl seinen Herren finden könnte. Schließlich entschied er sich dafür, am Trophäenbaum vorbei zum Rand des Waldstücks zu gehen und dort zu suchen. Falls auch Volker ihn suchte, würde der Spielmann dort am einfachsten den Spuren folgen können.

Golo war noch nicht weit gegangen, als er auf die breite Schleifspur stieß, die parallel zum Wasser verlief. Er beugte sich nieder, strich durch die dunklen Flecken im Schlamm und begutachtete seine Fingerkuppen. Blut! Da konnte es nicht den geringsten Zweifel geben. Aufmerksam musterte er den zerwühlten Schlamm, doch wußte er nicht mit Sicherheit zu sagen, wer wen verletzt hatte.

Mit langen Schritten folgte Golo der Schleifspur. Hundert Schritte entfernt entdeckte er einen hellen Gegenstand im Schlamm. Einen Umhang oder etwas Ähnliches. Mißtrauisch blickte er zum Waldrand. Konnte das eine Falle sein? Aber hätten Feen so etwas nötig? Ihre Macht wäre doch gewiß groß genug, ihn auch ohne eine List in ihre Gewalt zu bekommen, wenn sie es wirklich wollten. Er ging langsamer, und als er endlich erkennen konnte, was dort am Ufer lag, blieb er wie angewurzelt stehen. Volkers Waffenrock! Er war zerfetzt und mit Blut besudelt...

Sie hatten also auch seinen Herrn erwischt! Er war mithin der einzige, der noch lebte! Golo lief ein eisiger Schauer über den Rücken. Er mußte jetzt einen klaren Kopf behalten! Daß er noch lebte, war ein ungeheurer Zufall. Die beiden Ritter waren wenigstens noch in der Lage gewesen, sich ihrer Haut zu erwehren. Doch er... Er hatte nicht einmal vernünftig gelernt, mit einer Waffe umzugehen. Golo dachte daran, wie Volker und Gwalchmai erst am Vortag miteinander gekämpft hatten. Sie waren zwei erstklassige Schwertkämpfer gewesen, und doch hatten die Feen sie scheinbar ohne Mühe bezwungen. Das war Magie! Böser Zauber! Golo konnte förmlich spüren, wie sich sein Magen zusammenzog. Er mußte fort von hier. Seine einzige Rettung hieß Flucht!

»Komm, Lanzenbrecher, wir haben hier nichts mehr verloren!« Er zerrte an den Zügeln, doch der Hengst rührte sich nicht vom Fleck. Golo verdrehte wütend die Augen, dann hob er den blutigen Waffenrock auf und hielt ihn dem großen Schimmel unter die Nüstern. »Sieh dir das an! Das ist alles, was von unserem Herrn noch geblieben ist. Ein Stück blutbesudelter Stoff. Wir können nichts mehr für ihn tun! Jetzt gilt es, unser eigenes Fell zu retten. Und wenn du unbedingt hierbleiben willst, dann sollst du eben in den Fleischkesseln der Feen landen.«

Wieder zerrte Golo an den Zügeln, und diesmal fügte sich der Hengst. Der Knecht legte den zerfetzten Waffenrock über den Sattel des Schlachtrosses und machte sich auf den Weg in den Wald. Er hatte Volker im Grunde nie sonderlich leiden können, und doch hätte er nicht gedacht, daß ihre gemeinsamen Abenteuer ein solches Ende nehmen würden. Bisher hatte er immer gedacht, sein Herr sei unter einem Glücksstern geboren und würde aus jedem Schlamassel, den er sich einbrockte, auch wieder herausfinden. Daran, daß er eines Tages vielleicht einmal allein in der Fremde stehen könnte, hatte Golo noch nie gedacht. Sicher würde er auch ohne Volker den Weg zurück nach Burgund finden, doch es würde ein langer und einsamer Ritt werden.

Golo erinnerte sich an die vielen Abende, an denen er seinem Herren beim Lautenspiel gelauscht hatte. Wenn Volker es darauf anlegte, konnte er wirklich nett sein. Manches Mal hatten sie gemeinsam gelacht und... Das war vergangen! Oft genug hatte er für den feinen Ritter auch die Drecksarbeit erledigen müssen. Er sollte besser die guten Seiten an seiner jetzigen Lage sehen, statt der Vergangenheit nachzutrauern. Wenn es ihm gelang, auch die anderen Tiere noch aufzutreiben, wäre er stolzer Besitzer von vier Pferden! Das hieß, er wäre ein reicher Mann! Niemand könnte ihm sein Anrecht streitig machen, schließlich waren die wirklichen Besitzer tot. Obwohl... Nach Burgund zurückzukehren wäre wahrscheinlich nicht klug. Volkers Vater würde gewiß viele Fragen über das Ende seines Sohnes stellen, und zu guter Letzt würde er die Pferde als Eigentum seiner Familie zurückfordern.

Golo blieb stehen und blickte den großen Hengst an. Allein für das Silber, das ihm Lanzenbrecher einbringen würde, könnte er sich schon ein kleines Bauernhaus und genügend Land dazu kaufen. »Wir werden sicher einen neuen Herrn für dich finden, nicht wahr, mein Alter. Ein Schlachtroß wie dich findet man schließlich nicht alle Tage!«

Lanzenbrecher schnaubte. Ob ihn der Hengst verstanden hatte? »Bei einem neuen Herrn wirst du es gut haben. Dort kannst du gewiß den halben Sommer mit ein paar hübschen Stuten auf der Weide verbringen. Es ist doch eine Schande, ein Pferd wie dich in den Sumpf zu schleppen. Du bist für Schlachtfelder geschaffen und für prächtige Turnierplätze. Wer, außer einem Narren, konnte auf die Idee kommen, dich hier in diese Schlammlöcher zu zerren?«

Golo hatte den Eindruck, daß ihn das große Pferd mißbilligend musterte.



Volker fühlte sich mit jedem Atemzug schwächer. Eine eisige Kälte kroch aus seinen Füßen die Beine hinauf. Längst hatte er aufgegeben, den Nachen mit der Stange durch das Moor zu staken. Er ließ sich mit der schwachen Strömung treiben und betete. Die Wunde in seiner Brust blutete nicht mehr, doch hatte er nicht den Mut und die Kraft, einen Versuch zu unternehmen, die Pfeilspitze aus seinem Fleisch zu reißen. Er wußte, daß sie ihn langsam töten würde, wenn er nichts unternahm, und doch... Er wollte ein wenig schlafen, danach würde er stärker sein.

Matt hob er den Kopf und blickte zum Bug. Am Horizont erstreckte sich eine hohe, weiße Mauer. War das der Palast der Morrigan? Irgend etwas stimmte mit der Mauer nicht... Ein unangenehmes Prickeln lief durch seine Waden. Die Kälte fraß sich die Oberschenkel hinauf. Ihm klapperten die Zähne. Eine innere Stimme warnte ihn einzuschlafen. Er fürchtete, daß er nicht mehr erwachen würde. Volker biß sich auf die Lippen. Lange würde er diesen Kampf nicht führen können. Immer wieder fielen ihm die Augen zu.

Stetig glitt er der weißen Wand entgegen. Sie füllte jetzt fast den ganzen Horizont. Einen Moment lang hatte er die groteske Vorstellung, daß nicht sein Boot, sondern die Mauer sich bewegte, daß sie über das Wasser hinweg auf ihn zuglitt, um ihn zu verschlingen. War dies das Ende? Sah so der Tod aus? Wahnvorstellungen... Hatte er sich geirrt? Gab es wirklich Feen und griffen sie nun mit all ihrer Zaubermacht nach seiner Seele? Leise murmelte er ein Vaterunser. Das war ein Kampf, der nicht mit Waffen entschieden würde. Wieder und wieder flüsterte Volker das Gebet...

Etwas Warmes, Feuchtes streifte seine Wange. Erschrocken schlug er die Augen auf. Er war eingeschlafen! Um ihn herum trieben dichte, weiße Nebelschwaden. Sie waren warm. Die Kälte war aus seinen Beinen gewichen. Volker hob die Hand und streckte sie über den Rand des flachen Nachens. Auch das Wasser war warm. Wohin mochte er getrieben sein, oder war er vielleicht... Er blickte an sich hinab. Noch immer ragte der abgebrochene Pfeilschaft aus seiner Brust. Sein Kettenhemd war von Blut und Schmutz verkrustet. Nein, so würde er nicht ins Himmelreich auffahren. Daß er nach seinem Tod irgendwo anders hingelangen konnte, war völlig unmöglich. Er war stets ein treuer und aufrechter Diener Gottes gewesen! Also mußte er noch leben.

Sein Boot glitt noch immer mit einer sanften Strömung. Ganz in der Nähe ertönte ein beunruhigendes Plätschern, so als würde sich etwas Großes durchs Wasser bewegen. Ein Drache vielleicht... Ängstlich griff er nach seinem Schwert. Seine Arme waren so kraftlos, daß er kaum die Waffe zu heben vermochte.

Ein Ruck ging durch das Boot. Es hörte auf, sich weiter zu bewegen. In seiner Vorstellung sah Volker, wie ein riesiger Drache den kleinen Nachen ergriffen hatte. Das geifernde Maul herabgebeugt, wartete die Bestie darauf, ihre Beute zu verschlingen. Aber so leicht würde er nicht zum Opfer eines Ungeheuers, dachte der Spielmann grimmig. Vorsichtig zog er den Dolch aus seinem Gürtel, holte aus und schleuderte ihn mit aller Kraft in den Nebel, dorthin, wo er den Kopf des Drachen vermutete. Einen Herzschlag lang war es still. Dann hörte er ein scharfes Klirren, so als sei der Stahl der Waffe auf Stein getroffen.

Volker schluckte. Sein Dolch mußte den Kopf des Ungeheuers verfehlt haben. Oder... Er atmete tief durch. Ein stechender Schmerz zuckte durch seine linke Seite, als sich sein Brustkorb hob und senkte. Hatte er sich den Drachen vielleicht nur eingebildet? Er war entkräftet und erschöpft. Spielten seine Sinne ihm einen Streich?

Womöglich war sein Boot an ein fremdes Ufer gespült worden, das der Nebel vor seinen Blicken verborgen hielt? Neue Hoffnung keimte in ihm auf. Der Spielmann kroch zum Bug des Nachens, beugte sich über die Bordwand und tastete mit seinem Schwert nach festem Grund. Er mußte sich nicht tief hinunterbeugen, um mit der Klinge auf Widerstand zu stoßen. Das Wasser war hier weniger als eine Elle tief. Er war dem Sumpf ein zweites Mal entkommen! Hier an Land konnte er sich einen Lagerplatz suchen und ein Feuer machen! Er würde ein paar Tage hierbleiben, und wenn seine Kräfte zurückgekehrt waren, dann würde er sich erneut an die Verfolgung der Feen machen.

Vorsichtig ließ er sich über den Rand des Bootes gleiten. Seine Beine hatten kaum die Kraft, ihn zu tragen, und er mußte sein Schwert als Stütze nutzen. Wie ein alter Bettler kam er das Ufer hinauf. Der Boden war steinig. Nur hier und dort wuchsen einige Büschel welken Grases. Der Nebel schien noch dichter zu sein als im Sumpf. Kaum konnte man die Hand vor Augen sehen.

Humpelnd kämpfte Volker sich voran. Das Ufer stieg sanft an. Ein eigenartiger Stein schälte sich vor ihm aus dem Dunst. Der Felsblock war vielleicht einen Schritt breit, dafür aber fast so hoch wie zwei Männer. Verschlungene Spiralenmuster waren tief in seine verwitterte Oberfläche eingekerbt. War dies ein Grenzstein, der den Übergang zur Feenwelt markierte?

Volker schluckte. Er mußte sich gegen solch dummen Aberglauben verschließen! Wahrscheinlich war dieser Stein nichts weiter als ein Relikt aus den Zeiten der Heiden.

Es begann wieder zu regnen. Er sollte sich schleunigst nach einem Unterschlupf umsehen! Wenn die Kälte in seine Knochen zurückkehrte, wäre er verloren. Humpelnd plagte er sich weiter den flachen Hügel hinauf. Der felsige Untergrund wich weichem Torfboden. Er traf auf einen Weg, der in die sanften Hügelflanken einschnitt. Der Pfad war so schmal, daß dort kaum zwei Männer aneinander vorbeigekommen wären.

Je weiter er vorwärtsging, desto höher stiegen rechts und links die Hügelflanken. Fast schien es, als habe ein Riese mit einem Schwerthieb den Weg mitten zum Herzen des Hügels getrieben. Schließlich stand der Spielmann vor einem niedrigen Höhleneingang, der mit mächtigen, grauen Steinen eingefaßt war. Auch hier fanden sich wieder verschlungene Muster, so wie auf dem Grenzstein.

Der Regen wurde heftiger. Wenn er der Nässe entkommen wollte, blieb ihm keine Wahl. Vorsichtig betrat er die dunkle Höhle. Seine Glieder schienen wie aus Blei gegossen. Schleppend tastete er sich an der Wand der Höhle entlang. Die Finsternis hier war vollkommen.

Der Spielmann wußte nicht, wie lange er dem Pfad tiefer ins Innere des Hügels gefolgt war, als er strauchelte. Er hatte keine Kraft mehr, sich zu erheben, und die Kälte kehrte zurück. Seine Füße fühlten sich wie zwei Eisklötze an. Ein dumpfes Pochen breitete sich von der Wunde in seiner Brust aus. Er mußte ein Feuer entzünden! Seine Hände glitten über den Boden. Er bekam einen dünnen, von Wind und Wasser glattpolierten Stock zu fassen. Sein Messer... Er brauchte es, um Funken aus dem Feuerstein zu schlagen, den er in einem Lederbeutel an seinem Gürtel trug. Es lag irgendwo draußen vor der Höhle!

Jetzt half nur noch zu beten. Er wußte, daß er die Höhle nicht mehr verlassen konnte. Nun lag es bei Gott, ob er weiterleben oder hier in einem Erdloch am Ende der Welt sterben würde.


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