9. KAPITEL


Das Lager, von dem der Eber gesprochen hatte, entpuppte sich als ein regelrechtes Wehrdorf. Es lag auf der Kuppe eines langen, steil ansteigenden Bergrückens, dessen Rückseite eine fast senkrechte, merkwürdig zerklüftete Felswand bildete. Hier und dort waren Höhlungen zu sehen, ganz so, als würden auch dort Menschen hausen.

Das Dorf war mit einer drei Schritt hohen hölzernen Palisade umgeben. Den Hang unterhalb der Wehranlage hatte man größtenteils von Büschen und Bäumen gesäubert, so daß die Verteidiger über ein freies Schußfeld verfügten. Nur hier und dort ragten ein paar Felsfinger zwischen dem Gras empor. Ein gewundener Weg führte den Berghang empor. Auf einzelnen Parzellen des Hanges weideten Kühe und scheckige Hausschweine. Auf anderen hingegen wuchs das Gras fast hüfthoch, so als habe man den ganzen Sommer über kein Vieh dorthin getrieben.

Noch bevor sie die Bergkuppe erreichten, öffnete sich das schmale Tor im Wall, und eine Schar von Frauen und Kindern kam herausgeeilt. Die lockere Marschordnung der Räuber um den Eber löste sich nun vollends auf. Einige Männer eilten den Hang hinauf. Volker sah, wie der Leichenfledderer, der noch am vorigen Tag den Anführer der Franken verstümmelt hatte, nun einen kleinen Jungen umarmte und auf seine Schultern hob. Die kaltblütigen Mörder, die der Eber um sich geschart hatte, führten sich plötzlich wie ganz normale Familienväter auf. Männer, die einem Reisenden schon für ein schlichtes Kupferarmband die Kehle durchgeschnitten hätten! Überall ertönte ausgelassenes Lachen.

Auf dem Wall lungerten einige Männer mit Bögen herum, die ihren Kameraden lässig zuwinkten. Der Spielmann versuchte abzuschätzen, wie viele Krieger der Eber hier oben versammelt haben mochte. Vielleicht würde dieser Berg eines Tages zu Burgund gehören, wenn es noch einmal Krieg mit den Franken gab und die Ritter König Gunthers erneut den Rhein hinaufzogen, um die Grenzen des Reiches nach Norden auszudehnen. Hagen würde niemals ein solches Räubernest innerhalb der Grenzen Burgunds dulden. Mit Sicherheit würde man eine Schar Ritter und Waffenknechte ausschicken, um das Übel des Bandenunwesens von der Wurzel her auszurotten.

Volkers Blicke glitten über die Befestigungen. Man müßte wohl mindestens hundert Streiter aufbieten, um das Bergdorf einzunehmen. Vielleicht auch mehr, wenn die Verteidiger entschlossen genug waren...

Hinter der Umwallung lagen zwei Dutzend einfacher Lehmhäuser mit Dächern aus Holzschindeln oder Stroh. Dazu kamen einige kleine Lagerhäuser, die aus schweren Balken gezimmert worden waren, und eine lange Halle, die offenbar das Festhaus des Dorfes war. Das auffälligste Bauwerk jedoch war ein steinerner Turm, der dicht am Steilhang lag. Ursprünglich halb verfallen, hatte man ihn nun notdürftig wieder aufgebaut. Eine schmale Treppe führte an seiner Außenwand bis zum ersten Geschoß, wo eine kleine Tür als Eingang diente. Das halbverfallene zweite Geschoß war mit Brettern und Balken wieder instand gesetzt worden, und auf dem flachen Dach des Wehrbaus standen zwei Bogenschützen, die von dort einen guten Ausblick auf das umliegende Bergland hatten.

»Das ist meine Burg«, erklärte der Eber, der neben Volker ins Dorf marschiert war. Niemand war gekommen, um den Anführer der Räuber in die Arme zu schließen. Offenbar gab es weder Kinder noch eine Frau, die auf ihn warteten. Den wenigen Männern, die ihn im Vorbeigehen grüßten, nickte er unwirsch zu.

»Du hast hier ja fast eine kleine Armee versammelt.«

»Sind verdammt viele Mäuler zu stopfen, und die Vorratshäuser sind nicht einmal halb voll. War ein Fehler, meinen Männern zu erlauben, ihre Weiber mitzuschleppen.«

Volker blickte zu einer Gruppe halbwüchsiger Jungen, die sich mit einem schlacksigen Krieger balgten, der zu den Heimkehrern gehörte. Das kleine Dorf war voller Leben. Überall standen Frauen und junge Mädchen in den Türen. Auf den schlammigen Gassen liefen gackernde Hühner und buntgescheckte Ziegen. Doch dort, wo der Eber vorbeiging, verstummte das Lachen.

»Ihr beide werdet Quartier in meiner Burg beziehen, bis ich einen guten Preis für deinen Kopf erzielt habe, Spielmann.«

»Du bist ein Ausbund an Charme, Eber. Deine Leute wirken so richtig begeistert, wenn sie dich wiedersehen.«

»Ich wüßte nicht, daß wir Freunde sind, Ritter. Warum sollte ich mir also die Mühe machen, freundlich zu dir zu sein?« entgegnete der Räuber ruppig. »Und was meine Leute angeht... Ich sorge dafür, daß getan wird, was notwendig ist. Damit macht man sich nicht immer beliebt.«

»Und als nächstes ist es notwendig, hundert Goldstücke Kopfgeld für die Schatzkammer in deiner Burg zu besorgen, während der Winter näherrückt und deine Vorratshäuser nicht gefüllt sind.«

»Was geht dich das an!« grollte der Krieger. »Für das Gold kann man Rinder und Getreide kaufen...«

»Wenn du den Handel vor Einbruch des Winters abschließt... Sollten die Pässe aber schon verschneit sein, wirst du keine Waren mehr hier hinaufbekommen. Was glaubst du, wann du dann die Rationen für die Frauen und Kinder und all die anderen, die du nicht als Krieger gebrauchen kannst, strenger einteilen mußt? Schon im Januar? Oder wird es bis Februar reichen?« Volker zeigte zu einer Frau mit einem Neugeborenen auf dem Arm, die am Wegesrand stand. »Glaubst du, der Kleine wird den nächsten Frühling erleben? Was wird sein Vater von dir denken, wenn er ein Loch in den vereisten Boden schlagen muß, um seinen Sohn zu begraben. Du hast schon recht... Es sind verdammt viele Mäuler zu stopfen.«

Der Eber fuhr herum und packte Volker am Waffenrock. »Ich kann dir auch gleich jetzt den Kopf abschneiden und ihn in Salz einlegen lassen. Oder ich reiß dir nur Zunge heraus, dann muß ich mir dein dummes Geschwätz nicht weiter anhören. Tu doch nicht so, als würde dir das Wohl meiner Männer am Herzen liegen. Für einen wie dich sind wir doch allesamt nur Strauchdiebe, die man am besten an der nächsten Eiche aufknüpfen sollte.«

Volker lächelte dünn. »Das trifft mein Bild von dir ganz gut. Trotzdem habe ich dir einen Handel vorzuschlagen.«

Der Eber ließ ihn wieder los und lachte lauthals. »Du willst mir ein Angebot machen? Ich glaube, du verkennst die Lage, in der du bist!«

»Und wenn ich wüßte, wie man deine Lagerhäuser bis unter die Dachsparren füllen könnte? Der Preis dafür wäre allerdings, daß du mir sicheres Geleit bis vor die Tore von Treveris gewährst.«

»Wird das einer deiner Tricks, Ritter, oder wie willst du ein solches Wunder vollbringen.«

Volker blickte den Räuber herausfordernd an. »Das wird kein Wunder. Ich brauche allerdings einen Mann, der außerordentlichen Mut hat. Hast du Mut, Eber?«

Der gedrungene Räuber spuckte dem Burgunden vor die Füße. »Auf dieses Spiel laß ich mich nicht ein. Mut, Ehre, Tapferkeit, das ist was für Ritter. Hier draußen kommt es auf andere Dinge an, um zu überleben.«

»Zum Beispiel darauf, daß deine Leute genug zu essen haben, um gut über den Winter zu kommen?«

»Rede nicht um den heißen Brei herum!« Die beiden hatten inzwischen die schmale Stiege zum Turm erreicht. Der Eber wandte sich zu den wenigen Männern um, die ihm bis hierher gefolgt waren. »Geht und trinkt auf unseren erfolgreichen Jagdzug. Ich muß mit dem Ritter was besprechen. Nehmt seinen Freund mit, und paßt mir auf, daß er nicht versucht, sich davonzumachen.«

»Vielleicht sollten wir ihm einfach die Beine brechen?« grölte einer der Krieger. Die anderen Männer lachten.

»Gute Idee, Gunbold. Wir werden morgen darüber entscheiden.« Der Eber winkte Volker, ihm zu folgen.

Das erste Geschoß des Turmes bestand aus einer einzigen großen dunklen Kammer. In einer Ecke war ein Lager aus Stroh aufgeschüttet. Mitten im Raum stand ein grob gezimmerter Tisch, und einige leere Fässer dienten als Stühle.

Neugierig sah Volker sich um. Durch ein paar schmale Schießscharten fiel Licht in den Raum. Richtige Fenster gab es nicht. Eine Leiter führte ins nächste Geschoß, und ein Loch im Boden zum Erdgeschoß. Volker rümpfte die Nase. Es stank wie in einer Bärenhöhle. Auf dem Tisch stand eine Schüssel mit vergammeltem Essen, daneben lag ein umgestürzter Bierkrug.

»Hübsch hast du es hier.«

»Spar dir deinen Spott, und bete lieber, daß mir dein Plan gefällt, sonst werde ich dir wirklich die Zunge herausreißen. Dein weibisches Gewäsch werde ich mir nicht mehr länger anhören.«

Volker nahm sich eines der Fässer, setzte sich und begann zu erzählen. Als er fertig war, blickte er den Eber herausfordernd an. »Und? Hast du den Mut dazu?«

Der Räuber schüttelte langsam den Kopf. »Du mußt mich wohl für vollkommen verrückt halten!«

Volker grinste. »Stimmt.«



Golo blickte erst zu dem mächtigen, von zwei Türmen flankierten Tor von Castra Corona und dann wieder zu Volker und zum Eber. Die beiden mußten verrückt geworden sein!

»Bist du sicher, daß du das wirklich riskieren willst? Man kann eine so schwer befestigte Stadt nicht mit dreißig Kriegern erobern.«

»Wer spricht denn von Eroberung? Wir werden hier nicht länger bleiben als notwendig. Bisher war mir Fortuna stets wohlgesonnen, so wird es auch heute sein.« Volker winkte den anderen und gab das Zeichen zum Aufbruch.

Golo mochte es nicht, wenn der Spielmann den Namen heidnischer Gottheiten in den Mund nahm, und sei es auch nur zum Spaß. Er murmelte leise ein Bußgebet und bat Gott, nachsichtig mit dem leichtfertigen Burgunden zu sein. Volker hatte sich sehr verändert in den letzten Tagen, und das nicht nur äußerlich. Für seinen verrückten Plan hatte er seine langen, blonden Locken geopfert. Sein Haar war jetzt kurz geschoren, ungewaschen und strähnig. Auch rasiert hatte er sich nicht mehr, so daß seine Wangen mit langen, goldfarbenen Stoppeln gesprenkelt waren. Kettenhemd und Schwert hatte der Ritter im Räuberlager zurückgelassen. Er trug statt dessen Kleidung aus grober Wolle und weichem Leder, ganz so wie die anderen Strauchdiebe, die der Eber um sich versammelt hatte, und er roch auch so. Doch das Schlimmste war die Tatsache, daß Golo langsam den Eindruck bekam, daß Volker das Leben unter den Räubern gefiel. Jeden Abend saß er mit ihnen in der Festhalle beisammen, sang derbe Sauf- und Hurenlieder und trank bis zum Morgengrauen Met und gestohlenen Wein. Die meisten der Halunken hatten ihn schon als einen der ihren akzeptiert. Golo schüttelte den Kopf. Ihn, einen Adeligen und Ritter, der zu den engsten Vertrauten des Königs von Burgund gehörte!

Schlechtgelaunt sah der junge Ritter an sich herab. Auch er hatte sich als Räuber maskiert, doch fühlte er sich in den Kleidern unwohl. Er hatte einen hohen Preis gezahlt, um in den Ritterstand aufzusteigen... Und wohin führte ihn all das? Wenn Volkers Plan scheiterte, dann würde man sie schon morgen alle an den Zinnen der Stadt aufknüpfen. Was für ein Ende für zwei Ritter!

Inzwischen hatten sie fast das Stadttor erreicht. Golo blickte zurück zum Waldrand auf der anderen Seite des flachen Tals. Im Dämmerlicht sahen die Bäume wie eine schwarze Mauer aus. Dort im Schatten verborgen warteten die restlichen Spießgesellen des Ebers. Nur zu fünft standen sie vor der Stadt, in der sich ihr Schicksal entscheiden würde. Golo fühlte sich angesichts der mächtigen Mauern und stolzen Türme verloren. Was sie vorhatten, war verrückt! Vollkommen wahnsinnig!

Am Morgen hatte eine Maultierkarawane, eskortiert von der halben Garnison, Castra Corona verlassen. Die Tiere waren mit den Waffen beladen gewesen, die man in der Schmiedestadt in den letzten Monaten hergestellt hatte. Speer- und Pfeilspitzen, Helme, Schildbuckel, Schwerter und Dolche. Ausrüstung für die Armee des Gaugrafen. Deshalb wurde der Zug auch von vierzig schwerbewaffneten Soldaten eskortiert. In diesen kriegerischen Zeiten waren die Waffen aus Castra Corona ihr Gewicht in Silber wert. Die Maultierkarawane würde zunächst nach Icorigium ziehen, um von dort aus über Tolbiacum nach Castra Bonna zu gelangen.

Eine Stimme rief sie von den Zinnen herab an. »He, ihr Gesindel! Macht euch davon! Die Tore sind geschlossen und werden erst zur Morgenstunde wieder geöffnet. Gestalten wie euch will der Statthalter nicht über Nacht vor seinen Mauern lagern sehen!«

»Wenn du nicht öffnest, dann werden wir eben nach Icorigium weiterziehen, Soldat. Ich bin sicher, dort wird man die Männer, die den Eber gefangen haben, freundlicher begrüßen. Man sagt, der Statthalter dort sei ein kluger Mann. Er wird sich gewiß nicht die Gelegenheit entgehen lassen, dem Gaugrafen Ricchar persönlich den Kopf des Räubers zu überreichen.« Es war Volker, der geantwortet hatte. Wie um seine Worte zu unterstreichen, stieß er den Eber, dem die Hände auf den Rücken gefesselt waren, ein Stück nach vorne.

Einige Herzschläge lang herrschte Stille. Dann endlich erklang wieder die Stimme des Frankenkriegers. »Warte, Mann! Warte! Wir werden eine Ausnahme machen.«

Eine Ewigkeit schien zu verstreichen, bis endlich das Scharren des schweren Querbalkens zu hören war und die massigen Flügel des Stadttors aufschwangen. Ein Offizier mit prächtig bestickter Tunika und rotem Roßschweif auf seinem Spangenhelm stand inmitten des von Fackeln erleuchteten Torbogens.

»Wer ist der Mann, der behauptet, den berüchtigten Eber gefangen zu haben?« fragte der Krieger mit befehlsgewohnter Stimme.

Volker löste sich aus der Gruppe und trat dem Franken entgegen. »Ich, Gernot von Auw. Laß mich und die meinen in die Stadt, denn ich fürchte, die Getreuen des Ebers sind nicht mehr weit entfernt und werden versuchen, ihren Anführer zu befreien.«

Der Offizier schüttelte den Kopf. Golo konnte das Trappeln von eisenbeschlagenen Soldatenstiefeln auf dem Wehrgang über dem Tor hören. Schatten bewegten sich hinter den Zinnen. Sicher bezogen dort gerade Bogenschützen und Speerwerfer ihre Posten. Nervös leckte sich der junge Ritter über die trockenen Lippen. Sie hätten niemals hierherkommen dürfen!

»Zeig mir den Mann, den du Eber nennst. Ich hab’ diesem Strauchdieb einmal von Angesicht zu Angesicht gegenübergestanden! Ich werde ihn wiedererkennen, wenn du den Richtigen bringst.«

Volker packte den Eber am Ärmel, zerrte ihn nach vorne und verpaßte ihm dann einen derben Stoß, so daß der Räuber dem Franken fast vor die Füße stürzte. »Nun, erkennst du den Bastard wieder?«

»Beim Schwerte Mithras’, das ist er! Wir werden ihn sofort dem Statthalter vorführen.«

Der Offizier gab ihnen einen Wink, und die kleine Gruppe betrat die Stadt. Nach der Finsternis vor der Stadt war Golo vom Licht unter dem Mauerbogen geblendet. Hinter sich hörte er das schwere Tor in den Angeln knirschen. Der Eingang zur Stadt der Schmiede war damit wieder verschlossen. Jetzt, wo sich seine Augen an das Licht gewöhnt hatten, erkannte er, wie viele Fackeln hinter dem Tor brannten! Der Spitzel des Ebers hatte gelogen, oder aber er war ein Trottel. Der Mann hatte behauptet, daß die Wachen eine Stunde vor Sonnenuntergang abgelöst würden. Nach seinen Angaben bestand die Torwache auch lediglich aus drei oder vier Mann... Hier waren allerdings deutlich mehr als zehn Krieger versammelt. Jeder zweite von ihnen hielt eine Fackel in der Hand.

Golo wurden die Knie weich. Ob man sie vielleicht verraten hatte? Der Spitzel wäre jetzt ein reicher Mann, wenn er beschlossen hatte, das Kopfgeld einzukassieren, das auf sie ausgesetzt war. Mit dumpfem Poltern schloß sich das Stadttor. Der junge Ritter warf einen kurzen Blick über die Schulter. Zwei Krieger legten einen massiven Eichenbalken vor die mächtigen Torflügel. Sie saßen fest!

Volker stand noch immer neben dem Offizier. Die beiden besprachen etwas, doch Golo konnte nicht verstehen, worum es ging. Verstohlen musterte er die Krieger ringsherum. Fast die Hälfte der Franken trug Kettenhemden. Sie alle waren mit langen Schwertern bewaffnet. Neben dem Eingang zum Torhaus lehnten ein paar Speere und Schilde. Die meisten Männer gafften unverhohlen zum Eber. In ihren Blicken mischten sich Feindseligkeit und Bewunderung. Sie verhielten sich, als stünden sie einem gefährlichen Fabeltier gegenüber. Einer der Männer verpaßte dem Räuber einen Stoß mit dem stumpfen Ende seines Speeres, so als wolle er sich davon überzeugen, daß der Mann vor ihm wirklich aus Fleisch und Blut sei. Der Eber fuhr herum und funkelte den Krieger wütend an, doch sagte er nichts.

»Achtung!« ertönte plötzlich die schrille Stimme des Offiziers. »Torwache zu mir! Nehmt den Gefangenen in eure Mitte.« Der Anführer nickte einem Krieger in einer kostbar bestickten Tunika zu. »Geron, ich übergebe dir hiermit das Kommando über das Südtor.«

Der Angesprochene salutierte kurz, während sich der Offizier jetzt Golo zuwandte. »Du und deine Männer, ihr bleibt hier beim Tor. Ihr könnt auch zur Schenke dort drüben gehen, aber bleibt in der Nähe für den Fall, daß der Statthalter euch sehen will, um auch euch zu diesem glücklichen Fang zu beglückwünschen. Mit dem Eber in unseren Händen werden endlich wieder Ruhe und Frieden zurückkehren.«

Golo verneigte sich. Dann sah er dem Trupp Krieger nach, der mit Volker und dem Eber die Straße hinuntermarschierte. Sechs Mann waren beim Tor zurückgeblieben. Und sie waren nur zu dritt, um die Wachen auszuschalten.

Volkers Plan war gründlich schiefgelaufen! Der Spielmann war davon ausgegangen, daß sie die Torwachen einfach überrumpeln würden, dann Verstärkung in die Stadt holten und das Spiel am Tor der Garnison noch einmal wiederholen würden. Und jetzt... Volker war ein Adeliger. Ihm hatte man beigebracht, wie man Kriege führte und Städte eroberte. Und Golo... Als Sohn eines Unfreien hatte er gelernt, wie man Felder bestellte oder wie man ein Schwein schlachtete und ausweidete. Von Kriegsführung hatte er keine Ahnung.

Der junge Ritter hatte den Eindruck, daß der wachhabende Offizier vom Tor schon mißtrauisch zu ihm herüberstarrte. Also winkte er die beiden Gefährten des Ebers zu sich, die genauso verloren wie er selbst am Tor standen und ihren beiden Anführern nachstarrten. »Laßt uns einen trinken! Zum Morgengrauen schon werden unsere Geldkatzen schwer von rotem Gold sein. Das will gefeiert werden!«

Wenn er erst einmal einen großen Humpen Bier intus hätte, würde er wieder klarer denken können, überlegte Golo. Und nach dem zweiten Humpen hätten sie sicherlich einen Plan. Zu dritt die sechs Männer am Stadttor zu überrumpeln, mochte ihnen ja vielleicht noch gelingen... Aber was war mit der Garnison? Da sie keine Gefangenen mehr vorzeigen konnten, gäbe es für die Wachen auch keinen Grund, sie in die Festung hineinzulassen. Und ohne Leitern oder einen Rammbock würden sie das Tor niemals stürmen können.

Golo stieß die Tür zur Schenke auf und fluchte leise, dann bestellte er lautstark drei Bier und blickte sich nach einem ruhigen Tisch um. Er mußte jetzt nachdenken! Der Duft von Bratenfleisch stieg ihm in die Nase.

Etwas zu essen wäre auch nicht schlecht. Ein voller Bauch würde beim Denken sicher nicht schaden...



»Ich hätte niemals auf dich hören sollen, Ritter!« fluchte der Eber leise.

»Still!« zischte Volker. »Noch ahnen sie wenigstens nicht, was hier vor sich geht.« Er blickte zu den beiden Kriegern, die ein paar Schritt hinter ihnen neben der Eingangstür stehengeblieben waren. Sie befanden sich jetzt innerhalb des Praetoriums im Arbeitszimmer des Statthalters. Der große Raum wurde von einem mächtigen Tisch beherrscht, auf dem eine Landkarte sowie ein paar Schriftrollen und eine Wachstafel mit einem Satz hölzerner Griffel lagen. Eine vierarmige Öllampe tauchte den Tisch in freundliches gelbes Licht. Die Wände aber blieben weiterhin im Schatten, so daß man nur undeutlich die rissigen Fresken erkennen konnte. Sie stammten noch aus der Zeit, als die Römer die Herren des Landes gewesen waren, wie man unschwer an den Rüstungen der Krieger erkennen konnte. Auf der linken Seite sah man siegreiche römische Soldaten einen Haufen Barbaren niedermachen. Auf der anderen Seite war eine lange Reihe von Tributbringern abgebildet. Der frühere Kommandant dieser Stadt hatte seinen Gästen wohl demonstrieren wollen, was es hieß, sich gegen die Herrschaft Roms aufzulehnen.

Zwei Diener mit einem Feuerbecken traten ein und stellten ihre Last neben dem Arbeitstisch ab. Dankbar trat Volker an die Schale mit den glühenden Kohlen und wärmte sich. Es war elend kalt geworden in den letzten Tagen. Wolken hatten die Berge hinter grauen Schleiern verborgen, und immer wieder hatte es eisige Schauer gegeben. Wie lange es wohl dauern mochte, bis der erste Schnee fiel?

»Hast du einen neuen Plan, Ritter?« Der Eber war ebenfalls an das Feuerbecken getreten. Den Rücken zum Spielmann gewandt streckte er seine Hände der Glut entgegen.

Mit einem flüchtigen Blick überprüfte der Burgunde die Fesseln um die Handgelenke des Räubers. Der Eber würde sie mit einer einzigen Bewegung abstreifen können. Vorsichtig zog Volker sein Messer aus dem Gürtel und ließ es dem Eber in die Hände gleiten.

»Wir werden das Tor der Garnison öffnen müssen. Ich glaube nicht, daß Golo und deine Männer es ohne unsere Hilfe schaffen werden, hier hereinzukommen.«

»Nichts leichter als das«, höhnte der Eber. »Wir müssen nur ein halbes Dutzend Wachen töten... Vielleicht sogar noch ein paar mehr... Und dann werden wir die Stadt übernehmen. Ich muß von Sinnen gewesen sein, als ich deinem verrückten Plan zugestimmt habe, Ritter.«

»Ich war schon schlimmer in der Klemme«, murrte Volker einsilbig.

»Genau! Weil diese...«

Die beiden Wachen an der Tür salutierten ihre Speere, und ein junger Offizier trat ein. Der Mann hatte kurzgeschorenes blondes Haar und eisgraue Augen. Er war mit einer reich bestickten Tunika bekleidet und trug sein Wehrgehänge lose in der Hand, so als habe man ihn gerade aus dem Bett geholt. Einige Atemzüge lang musterte er den Eber, dann blickte er zu Volker und lächelte triumphierend.

»Hat diesen Hurensohn und Kinderschänder doch noch sein Schicksal ereilt! Niemand kann auf Dauer dem Licht der Gerechtigkeit entgehen, das die Finsternis tilgt. Du bist zum Vollstrecker von Mithras’ Willen geworden, Jäger. Heute hat die Hand des Gottes dich geführt.« Der Statthalter lächelte noch immer. Volkers Blick fiel auf einen schmalen Goldring an der Hand des Mannes, der mit einem Löwenkopf verziert war. Irgendwo hatte er so ein Schmuckstück schon einmal gesehen...

»Nun, so wie du aussiehst, Jäger, ist dir klingendes Gold in der Tasche lieber als die Gewißheit, ein Günstling des Gottes zu sein. Mernog!« Der Statthalter drehte sich zu den beiden Kriegern an der Tür um. »Geh und weck den Schreiber. Er soll dir hundert Goldstücke aus der Soldkasse auszahlen.«

Der Krieger nickte stumm und verschwand durch die Tür.

»Du bist in der Tat so häßlich, wie man sagt, Bastard. Die Hure, die dich geboren hat, ist wohl von einem schwarzen Eber besprungen worden. Wahrscheinlich war sie so scheußlich, daß es nicht einmal die Besoffenen mit ihr treiben mochten. Die Welt wird ein schönerer Ort sein, wenn Graf Ricchar dich hat hinrichten lassen.«

Der Statthalter stand jetzt dicht vor dem Eber. Volker machte einen Schritt zur Seite und näherte sich der Tür. Er mußte den Wachtposten erwischen, bevor er Alarm geben konnte. Es war ein junger Kerl, der offensichtlich amüsiert den Beschimpfungen des Statthalters lauschte.

»Wie ist das, wenn du auf einer Frau liegst, Eber, und sie, selbst wenn sie eine bezahlte Hure ist, das Entsetzen in ihren Augen nicht verbergen kann, weil sie dir ins Angesicht sehen muß.«

»Ich genieße es.« Die Stimme des Ebers war kalt wie Eis. Volker machte noch einen Schritt in Richtung des Wachsoldaten. Lange würde es nicht mehr dauern, bis der Eber die Klinge zückte, die er hinter seinem Rücken verbarg. Vielleicht wäre es besser, wenn er das Zeichen zum Angriff gab. Die Hand des Burgunden glitt zum Schwertknauf. Sie brauchten den Statthalter lebend! Das würde einiges erleichtern. In einer fließenden Bewegung riß Volker sein Schwert aus der Scheide und versetzte dem Krieger an der Tür mit der flachen Seite einen Schlag gegen die Schläfe. Der Franke ging sofort zu Boden.

Aus den Augenwinkeln sah der Spielmann, wie der Eber den Schwertarm des Statthalters packte und herumdrehte, bis ein trockenes Krachen, so wie von einem zerbrechenden Ast zu hören war. Die Waffe des Offiziers fiel zu Boden. Der junge Krieger war leichenblaß, aber er gab keinen Laut von sich.

»Du hättest meine Mutter keine Hure nennen sollen...« Der Eber hielt dem Franken das Messer an die Kehle.

»Laß ihn leben! Wir werden ihn als Geisel brauchen!« Volker wollte nach der Klinge greifen, doch der Eber stieß ihn zur Seite.

»Ihr kommt hier niemals heraus«, stöhnte der Statthalter leise. »Das einzige Tor ist verschlossen und von sechs Kriegern bewacht. Ihr werdet beide sterben in dieser Nacht.«

Der Eber lachte leise. »Aber wir werden nicht die ersten sein. Auf Wiedersehen in der Hölle, Ketzer.« Mit einem kräftigen Ruck zog er dem Offizier das Messer über die Kehle.

»Warum...« Volker blickte den Räuber fassungslos an.

Der Eber packte den Statthalter beim Gürtel und hob ihn hoch, so daß seine Füße ein paar Zoll über dem Boden pendelten. Der Franke röchelte. Er hatte die Augen zur Decke hin verdreht, so daß nur noch das Weiße zu sehen war. In pulsierenden Stößen spritzte ihm Blut aus der klaffenden Halswunde.

»Was willst du, Ritter? Draußen ist es dunkel. Ich werde den Kerl vor mir hertragen. Wir lassen einfach niemanden nahe genug heran. Dann werden sie schon nicht merken, daß dieses Drecksstück nicht mehr lebt.«

»Und wenn ihn jemand etwas fragt?«

»Dann halte ich meine Hand auf seinen Mund, so als wollte ich verhindern, daß er antwortet...«

Volker zuckte resignierend mit den Schultern. Es war sinnlos, mit dem Eber zu reden. Der Räuber hatte das Schwert des Statthalters vom Boden aufgehoben und trat zur Tür.

»Ich glaube, es ist besser, wenn du vorgehst, Ritter.«

Der Spielmann schob sein Schwert in die Scheide zurück. Er war sicher, daß er auf sich allein gestellt aus dem Kastell entkommen könnte, doch mit diesem Halsabschneider im Nacken... Er verfluchte den Tag, an dem er dem Eber den Vorschlag gemacht hatte, die Garnison zu überfallen.

Vor dem Zimmer des Statthalters führte ein langer Flur zum Eingang des Praetoriums. Ganz am Ende des Ganges brannte eine Laterne. Ansonsten war es dunkel. Nirgends waren Wachen zu sehen... Der Spielmann wartete noch einen Moment, dann trat er durch die Tür und gab dem Eber einen Wink, ihm zu folgen. Zu lange sollten sie nicht mehr verweilen. Mernog, der Krieger, den der Statthalter ausgesandt hatte, um das Kopfgeld für den Eber zu holen, mußte jeden Augenblick zurückkommen.

»Verdammt, der lebt ja noch!«

»Was?«

Volker drehte sich um und sah den Eber über dem niedergeschlagenen Türposten kauern. »Wo hast du nur das Kriegshandwerk gelernt, Ritter. Du hast ihn nicht richtig getroffen.« Der Räuber schob sein blutiges Messer in den Gürtel zurück. »Der Kerl wird uns nicht mehr in den Rücken fallen. Ich habe deine Arbeit zu Ende geführt.«

Einen Moment lang war Volker versucht, sein Schwert zu ziehen und diesen Unhold einfach niederzustechen. Er hatte in seinem Leben schon viele Schurken getroffen, aber jemand wie der Eber war ihm bislang noch nicht begegnet. Der Burgunde war sich sicher, daß der Räuber genau wußte, daß er den Franken mit seinem Schwerthieb nicht versehentlich nur schlecht getroffen hatte, sondern daß er das Leben des jungen Kriegers hatte schonen wollen. Gnade und Edelmut schienen dieser Bestie in Menschengestalt unerträglich zu sein!

Volker konzentrierte sich auf das Licht der Fackel am Ende des Ganges und lauschte auf Geräusche hinter den Türen, an denen sie vorbeikamen, doch es gelang ihm nicht, den Eber völlig aus seinen Gedanken zu verbannen.

Am Portal des Praetoriums standen keine Wachen. Auch der Hof der Garnison war menschenleer und dunkel. Aus einem der Kasernenbauten drang Lärm, so, als würde dort ein Fest gefeiert. Durch die schmalen Fenster der beiden Türme, die das Tor flankierten, schimmerte fahles Licht.



Wahrscheinlich saßen die Soldaten dort beisammen und vertrieben sich die langen Stunden der Nacht mit Würfelspielen und Geschichten. Oder sie haderten mit ihrem Schicksal, weil sie von dem Fest ihrer Kameraden ausgeschlossen waren. Wie sollten sie auch ahnen, was im Praetorium geschehen war?

Volker entschied, daß es zu gefährlich war, den Hof in gerader Linie zu überqueren. Der Nachthimmel war klar, und der Mond stand hoch am Himmel. Es war hell genug, daß man sie hätte erkennen können. Er gab dem Eber ein Zeichen und hielt sich dann links. Sie würden im Schatten der Kasernen und Stallungen bis zum Tor schleichen und dann... Vielleicht gelang es ihnen ja, die Wachen zu überraschen oder sogar völlig unbemerkt das Tor zu öffnen. Der Spielmann starrte angestrengt zur dunklen Höhlung des Torbogens. Es schien, als stünde dort niemand auf Posten.

Sie hatten schon mehr als die Hälfte des Weges um den Hof geschafft, als ein Geräusch Volker herumfahren ließ. Ein Mann mit einer Laterne in der Hand war aus einer der Kasernen getreten. Mernog!

»Dort wandert mein Kopfgeld durch die Nacht. Ich finde, der Kerl sieht einsam aus. Er sollte Gesellschaft bekommen.« Der Eber ließ die Leiche des Statthalter zu Boden gleiten. »Er darf nicht bis ins Praetorium kommen. Gib mir deinen Bogen!«

Der Eber riß Volker die Waffe aus der Hand und legte einen Pfeil auf die Sehne. »Eulenfedern tragen lautlos den Tod durch die Nacht«, murmelte der Räuber leise und zog die Sehne zurück.

»Halt! Wer da!« Ein Krieger mit Schild und Speer trat aus dem Schatten des Torbogens.

Mernog blieb stehen und hob die Fackel, so daß ihr Licht auf sein Gesicht fiel. »War dein Vater ein blinder Maulwurf, Childiger, das du auf zwanzig Schritt deine Kameraden nicht mehr erkennst? Ich bin es, Mernog!«

»Ist ja schon gut...« Die Wache trat in den Schatten des Torbogens zurück.

Der Eber ließ den Bogen sinken. »Wenn ich ihn jetzt abschieße, wird der andere es merken. Ich werde Mernog ins Praetorium folgen. Kümmere du dich inzwischen um den Torposten.«

Der Spielmann nahm den Bogen zurück und blickte dem Eber nach, der wie ein Schatten entlang der Hauswände glitt. Nur wenige Herzschläge nachdem Mernog durch das Portal des Praetoriums getreten war, langte auch der Räuber dort an. Volker wandte sich ab. Er war sicher, daß der Franke nicht mehr dazu kommen würde, einen Laut von sich zu geben. Gedankenverloren blickte der Spielmann dem Räuber nach. Sich selbst das Kopfgeld zu holen, das auf ihn ausgesetzt war, war etwas, was dem Räuber sicher gefiel. Doch was wäre, wenn man ihn schnappte. Im Praetorium waren die Schlafgemächer der Garnisonsoffiziere. Wenn sie den Eber erwischten, war es der Wille Gottes! Er würde nicht umkehren, um ihm zu helfen, dachte Volker. Es wäre sinnlos, sich zu zweit gegen die ganze Garnison zu stellen.

Der Spielmann blickte zum Tor. Hoffentlich hatten Golo und seine Gefährten es geschafft, das Stadttor zu erobern. Sonst würde es herzlich wenig nutzen, das Tor des Kastells zu öffnen.

In den Schatten der Stallungen geduckt, schlich Volker bis zur Festungsmauer und folgte ihr bis zu den Tortürmen. Er mußte den Wachtposten überraschen. Der Kerl durfte keinen Laut mehr von sich geben! Mit dem Rücken gegen die Mauer gepreßt, stand er dicht neben dem Torbogen und lauschte. Nicht das leiseste Geräusch war zu hören. Vielleicht war der Posten gegangen? Volker konnte sich an zwei kleine Türen im Torgang erinnern, die ins Innere der Türme führten. Womöglich war der Soldat gar nicht mehr hier.

Der Spielmann zog sein Schwert und verbarg es unter seinem Umhang. Dann trat er um die Ecke.

»Halt! Wer bist du?« In der Finsternis blitzte eine Speerspitze.

»Schon gut, Mann. Ich bin der Jäger, der den Eber gefangen hat. Dein Kommandant hat mir meine Belohnung gegeben. Ich soll jetzt gehen.«

»Warum habe ich dich nicht über den Hof kommen sehen?«

Volker machte einen raschen Schritt nach vorne, zog das Schwert unter dem Mantel hervor und stieß es dem Franken in den Bauch. Gleichzeitig preßte er dem Sterbenden seine Linke auf den Mund. Der Krieger bäumte sich auf, doch mit jedem Herzschlag wurde sein Widerstand schwächer. Als der Franke sich nicht mehr rührte, ließ Volker ihn zu Boden gleiten. Dann wandte er sich zum Tor. Ein riesiger Balken, groß wie ein halber Baumstamm verschloß die beiden Flügel. Der Spielmann seufzte. Er würde wohl auf den Eber warten müssen, um den Torbalken leise aus seiner Verankerung heben zu können. Seine Kraft mochte wohl reichen, ihn allein bei Seite zu schieben, doch wenn der Balken polternd auf das Pflaster fiel, würde der Lärm die halbe Garnison aufwecken! Müde lehnte sich der Spielmann gegen die Mauer. Es war kalt. Seine Kleider waren vom Blut des Franken durchnäßt und wärmten nicht mehr. Wie hatte es nur so weit kommen können, daß er mit Räubern eine schlafende Stadt überfiel...

Eine der Türen zum Hof öffnete sich. Gelbes Licht fiel in einem breiten Streifen auf das Pflaster. Zwei Gestalten erschienen unter der Tür. Leicht schwankend traten sie hinaus und hielten auf die Ställe zu.

»Ein Hoch auf den Statthalter und seinen Wein«, grölte einer der Männer.

»Und ein Hoch auf den Eber, der sich hat fangen lassen.« Die beiden lachten. Offenbar hatte der Statthalter seinen Männern zur Feier des Tages ein Faß Wein überlassen.

Volker hob den Bogen. Er mußte etwas tun. Die beiden hielten fast genau auf die Stelle zu, an der die Leiche des Statthalters lag. Was zum Henker wollten sie nur bei den Ställen? Verzweifelt blickte der Spielmann auf den Bogen, der neben ihm an der Wand lehnte. Nein, das war keine Lösung. Selbst wenn er mit dem ersten Schuß einen der beiden niederstreckte, würde der andere noch im selben Moment Alarm geben. Und wenn er einfach hinüberging... Doch das wäre dasselbe. Brachte er einen um, hätte der andere auf jeden Fall noch Gelegenheit zu schreien.

Die beiden hielten vor der Wand der Stallungen und erleichterten sich in die schmale Abflußrinne, die unterhalb der Mauer verlief. Volker begann zu beten. Nur die Heiligen vermochten ihm jetzt noch zu helfen. Oder vielleicht der Erzengel Gabriel... Gabriel war ein Krieger. Er hätte Verständnis für diese verzweifelte Lage.

Der erste der Männer drehte sich um und machte sich auf den Rückweg zur geöffneten Tür auf der anderen Seite des Hofes. Der Lärm eines Festes ertönte von dort. Trinksprüche und derbe Soldatenlieder. Auch das helle Geschrei von Huren war zu hören.

Jetzt drehte sich auch der zweite Kerl um. Volker atmete erleichtert auf.

Plötzlich hielt der Soldat vor der Mauer inne. Er beugte sich in Richtung des toten Statthalters. Der Spielmann biß sich auf die Lippen. Dann griff er nach dem Bogen. Wenn Alarm gegeben wurde, kämen die Krieger als erstes hierher, um das Tor zu sichern.

»Heh, Kamerad! Du hast dir einen schlechten Platz zum Schlafen ausgesucht.« Der Franke lachte heiser. »Dort muß dir doch das, was vom Wein geblieben ist, direkt unter der Nase vorbeilaufen.«

Leicht schwankend, bückte sich der Mann. Der zweite Soldat hatte sich inzwischen wieder umgedreht. »Ruidiger, wo bleibst du?«

Volker hatte das Gefühl, daß sein Herz so laut wie eine Trommel schlug. Jetzt war alles vorbei. Ihm blieb nur noch, sein Leben so teuer wie möglich zu verkaufen. Er hatte immer gehofft, einen heldenhaften Tod in einer Schlacht zu sterben, so daß die Barden eines Tages vielleicht Lieder über ihn singen würden. Jetzt, wo der Tod so nahe war, war er plötzlich wieder ruhig. Er griff nach dem Bogen.

Der. Krieger bei den Pferdeställen drehte inzwischen den Leichnam des Statthalters herum. Einen Lidschlag lang verharrte der Franke. Dann erkannte er, wer dort vor ihm lag, und sein gellender Alarmruf schallte über den Hof.

Volker zog die Sehne des Bogens durch.

»Schaut hierher, ihr fränkischen Hurenböcke! Hier steht euer schlimmster Feind. Der Eber! Zuerst habe ich mir euren Statthalter geholt, und jetzt seid ihr dran. Niemand kann den Eber töten!« Der Räuber stand auf den Stufen unter dem Portal des Praetoriums. Er hielt zwei gekreuzte Kurzschwerter über sein Haupt erhoben und sah aus wie ein Kriegsgott aus der Zeit, in der Götter noch manchmal auf Erden wanderten.

Der Spielmann ließ den Bogen wieder sinken. »Danke!« murmelte er leise. Es war offensichtlich, daß der Eber versuchte, die Franken vom Tor abzulenken. Er wußte genau, daß sie nur dann überleben konnten, wenn es Volker gelang, ihren Gefährten das Tor zu öffnen. Vorausgesetzt, Golo hatte es geschafft, die Räuber in die Stadt zu lassen, und wartete nun auf der anderen Seite des Tores.

Die Tür des Wachturms schlug auf. Volker duckte sich tief in die Schatten unter dem Torbogen. Drei vollbewaffnete Krieger liefen auf den Hof. Auch aus der erleuchteten Tür stürmten Männer mit Schwertern und Speeren. Der Ruf des Ebers hatte sie offenbar schlagartig nüchtern werden lassen. Noch standen sie zögernd in der Mitte des Hofes. Aufgeregte Rufe gellten durch die Nacht. Ihnen fehlte ein Anführer...

»Nun, ihr Bastarde! Wartet ihr noch, daß Verstärkung aus Castra Bonna eintrifft, bevor ihr es wagt, mich anzugreifen?«

Volker war aufgestanden und schob seine Schulter unter den Eichenbalken. Zoll für Zoll bewegte sich der schwere Riegel.

»Packt ihn!« Die Franken stürmten auf den Eingang des Praetoriums zu.

Der Eber senkte seine Schwerter. »Verreckt!« Mit einem Satz war er die Stufen hinabgesprungen und rannte den Soldaten entgegen.

Volker stemmte sich mit aller Kraft gegen den Querbalken. Endlich spürte er, wie das schwere Holz ins Gleiten kam. Vom Platz ertönte das helle Klingen von Schwertern und die Schreie der Kämpfenden. Niemand hörte, wie der Torbalken zu Boden fiel. Sofort machte sich der Spielmann an einem der mächtigen Torflügel zu schaffen. Knirschend bewegte sich das Tor in den Angeln. Als der Spalt breit genug war, um einen Mann durchzulassen, blickte er auf den kleinen Marktflecken unterhalb der Garnison. Dort hätten Golo und die anderen stehen sollen. Doch der Platz war leer.

Volker schluckte. Irgend etwas mußte schiefgegangen sein. Wenn er jetzt davonlief, würde er vielleicht entkommen können. Noch immer ertönte Kampflärm hinter ihm. Doch es war klar, daß der Eber höchstens noch für ein paar Augenblicke gegen die Übermacht standhalten konnte.

Der Spielmann zog sein Schwert. Ein Ritter zu sein hieß meistens, sich für die unvernünftigere von zwei Möglichkeiten zu entscheiden.

»Für den Feuervogel!«

Einen Moment lang kamen die Reihen der Franken ins Wanken, als der Spielmann ihnen in den Rücken fiel. Doch als die Krieger erkannten, daß sie es nur mit zwei Feinden zu tun hatten, kämpften sie mit neuem Mut.

Volker konnte sehen, wie der Eber unter den Schwertstreichen seiner Gegner zu Boden ging. Selbst als er stürzte, schlug er noch nach den Beinen der Krieger. Verzweifelt wehrte Volker die Angriffe der Übermacht ab. Er stand jetzt mit dem Rücken zu den Pferdeställen.

»Für den Feuervogel!« tönte ein Schlachtruf vom Tor. Es war die Stimme Golos!

Der Krieger, gegen den Volker gerade kämpfte, erstarrte. Eine blutige Pfeilspitze ragte aus seiner Brust. Unter den Franken brach Panik aus. Ein Offizier brüllte Befehle und versuchte, wieder Ordnung in seine Männer zu bringen. Dann stürzte auch er mit einem Pfeil im Rücken zu Boden.

»Ergebt euch, und ich werde euch das Leben schenken!« schallte Volkers Stimme über das Chaos. »Und ihr hört auf zu schießen!« Vor dem Tor hatten sich mehr als zwanzig Bogenschützen versammelt. Eine dunkle Gestalt löste sich aus dem Pulk und kam auf den Spielmann zugelaufen.

»Den Heiligen sei Dank! Du lebst!« Überschwenglich schloß Golo ihn in die Arme. Der Atem des jungen Ritters roch nach Bier. Volker stutzte. Wann hatte sein Freund an diesem Abend Gelegenheit gehabt, Bier zu trinken?

Klirrend schlugen die Schwerter der Franken auf das Pflaster des Hofs. Die Überlebenden hatten ihre Arme gehoben und drängten sich vor dem Portal des Praetoriums.

Volker löste sich aus der Umarmung Golos. Der Eber lag inmitten eines Haufens von Toten und Verwundeten. Seine beiden Schwerter hatten reiche Ernte gehalten. Der Burgunde kniete neben dem Räuber nieder. Sanft strich er ihm mit der Hand übers Gesicht, um seine Augen zu schließen.

»Laß das... Ich bin... noch nicht... in der... Hölle!« keuchte der Eber schwach.

»Du lebst?« Volker traute seinen Augen kaum.

»Mögen die Wölfe dich... zerfleischen, Spielmann... damit ich nie wieder... auf einen deiner wahnsinnigen... Pläne höre.«

Der Burgunde lachte leise. Dann winkte er die Männer des Ebers herbei.

»Haben... haben wir... gewonnen?« Die Stimme des Räubers wurde schwächer.

»Ja. Wir werden deine Vorratshäuser bis unter die Dachsparren füllen. Die Garnison und die Stadt gehören uns.«

»Gut.«


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