22. KAPITEL


Es war ein düsterer Nachmittag, und der Schnee fiel in dichten Flocken, als sie Icorigium erreichten. Es war der Tag vor dem Christfest.

In der letzten Nacht hatten sie bei einem Köhler Unterschlupf gefunden. Er war ein einfacher Mann gewesen, der sie für ein paar versprengte Rebellen hielt. Von ihm hatten sie auch erfahren, daß Ricchar die meisten Gefangenen aus dem Bergdorf begnadigt hatte. Er hatte dort nur eine kleine Garnison zurückgelassen und war nach Icorigium gezogen, wo er ein großes Siegesfest feiern wollte. Die Bardin hatte er in Ketten legen lassen und mitgenommen. Angeblich hatte auf einem der Packesel auch der Leichnam des Ebers gelegen.

Obwohl Belliesa gefangengenommen war, nahmen die wunderbaren Geschichten, die man sich über den Auserwählten erzählte, kein Ende. So hatte der Köhler behauptet, Volker sei gemeinsam mit seinem Gefährten auf einem geflügelten Roß in den Himmel geritten, nachdem alle Verteidiger des Dorfes vor der Übermacht der Franken die Waffen gestreckt hätten. Von dort würde der Auserwählte über das Volk der Berge wachen und wiederkehren, wenn der Tag gekommen sei, die Tyrannen endgültig zu vertreiben.

Golo konnte nicht begreifen, warum die Menschen angesichts der schrecklichen Niederlage noch solche Geschichten erzählten. Auch konnte er nicht verstehen, was Volker nach Icorigium zog. Den Spielmann hatte eine merkwürdige Unruhe ergriffen. Seit sie die Höhle im Bergwerk verlassen hatten und bei Nacht den vereisten Hang hinabgestiegen waren, trieb seinen Gefährten eine Unrast an, über die zu sprechen er sich weigerte. Manchmal murmelte Volker leise vor sich hin, so, als sei sein Geist verwirrt. Immer wieder sprach er dabei vom Feuervogel.

Dem Köhler, bei dem sie übernachtet hatten, hatte sein Gefährte ein langes Seil abgeschwatzt. Jetzt standen sie am Rand des Waldes, aus dem die Sachsen angegriffen hatten, als ihre Freischärler vor Icorigium Ricchar in die Falle gegangen waren. Durch das Schneetreiben und in dem schwindenden Licht war die Stadt auf dem gegenüberliegenden Hügel nur als Schattenriß zu erkennen.

»Was willst du dort noch?« fragte Golo müde. »Es ist vorbei, und wir sollten Gott und allen Engeln danken, daß wir noch leben. Zu zweit können wir nichts mehr ausrichten. Es ist das klügste, nach Worms zurückzukehren.«

Volker schwieg, so, als habe er ihn nicht gehört. Erst nach einer ganzen Weile murmelte er. »Sie muß im weißen Turm sein. Wie im Märchen!«

Der junge Ritter starrte seinen Kameraden fassungslos an. »Der Schuldturm? Was ist damit? Du willst doch nicht etwa versuchen, Belliesa zu befreien? In der Stadt wimmelt es nur so von Ricchars Soldaten. Das wäre Wahnsinn!«

»Nicht Belliesa will ich befreien. Den Feuervogel. Er ist dort!«

Golo schluckte. Offenbar hatten Hunger und Erschöpfung seinem Freund den Verstand verwirrt. »Den Feuervogel?«

»Ja! Begreifst du denn nicht? In der Höhle hatte ich zum ersten Mal den Verdacht... Seitdem habe ich viel darüber nachgedacht. Belliesa! Sie ist der Feuervogel.« Volker lachte leise. »So oft habe ich mir gewünscht, ihn zu finden, dabei war er die meiste Zeit an meiner Seite. Erinnerst du dich an Geron, den Märchenerzähler in Worms? Er hat fast alles vorausgesagt!«

»Hat er?« Golo wußte nicht recht, was er mit seinem Gefährten anfangen sollte.

»Der Hund. Er ist dem Ritter gefolgt. Er war in Wahrheit der Feuervogel. Er hat sich nicht offenbart, bis ihm die richtige Frage gestellt wurde. Wo bist du, Feuervogel, ich weiß nicht mehr, wo ich dich suchen soll. Das waren die Worte des Ritters. Belliesa habe ich niemals gefragt, wer sie ist... So konnte sie sich nicht in ihrer wahren Gestalt zeigen. Dabei hat sie mir noch in unserer letzten Nacht im Bergdorf einen Hinweis gegeben, daß ich ihr nur die richtige Frage stellen müßte. Wie oft haben wir uns gewundert, woher sie all die Dinge wußte... Über unser Leben, über das Land und seine Geheimnisse... Die Antwort war so einfach. Der Feuervogel weiß um alle Geheimnisse!«

»Das wußte sie, weil sie eine Zauberin ist! Eine falsche Schlange, die uns die ganze Zeit für ihre Ziele mißbraucht hat«, grollte Golo. »Wenn du mich fragst, dann wollte sie nur Rache an Ricchar. Wenn sie wirklich der Feuervogel wäre, dann müßtest du doch auf ihrem Rücken zum weißen Turm fliegen, um dort deine Geliebte, die Morrigan, zu finden!«

»Nein! Du verstehst es nicht.« Volker schüttelte den Kopf. »Der Flug auf dem Feuervogel, das ist nur eine Metapher... ein Gleichnis. Schließlich bin ich auch nicht drei Jahre und drei Tage durch die Berge geritten. Ich muß den weißen Turm bezwingen. Wenn ich meinen Weg nicht ohne die Hilfe des Feuervogels gehen kann, dann werde ich, wie der Ritter im Märchen, sterben. Um die Morrigan finden zu können, muß ich zunächst in den Turm, um Belliesa die Frage zu stellen, wo ich den Feuervogel finden werde. Dann wird sie sich offenbaren und mir sagen, wo meine Geliebte ist.« Volker schluckte. »Ob sie überhaupt noch lebt...«

»Die Bardin hat versucht, mich zu ermorden. Sie wollte mich vergiften! Ich werde nichts tun, um ihr zu helfen. Wenn sie wirklich der Feuervogel wäre, dann bräuchte sie unsere Hilfe auch nicht!«

Der Spielmann schüttelte ungeduldig den Kopf. »Sie wollte dich nicht vergiften! Hätte sie dich töten wollen, dann wärest du jetzt nicht hier. Ich wußte, was sie vorhatte. Es war der einzige Weg, dich daran zu hindern, ein Duell mit dem Eber auszutragen. Wir brauchten ihn, damit sich das Schicksal erfüllen konnte...« Volkers Stimme klang gehetzt. »Ich will auch nicht in ihren Kerker, um sie zu befreien. Man kann sie sicher nicht wirklich gefangensetzen. Nur sie kann mir sagen, wo ich die Morrigan finde... Deshalb...«

Golo blickte seinen Freund jetzt voller Mitleid an. Es war sinnlos, auf ihn einreden zu wollen. »Ich werde dich bis zu den Wällen der Stadt bringen. In den Turm mußt du alleine. Ich bin nicht bereit, mein Leben für Belliesa zu geben. Sie ist eine Zauberin! An ihren Händen klebt das Blut Hunderter Unschuldiger! Sie hat es verdient, wenn Ricchar sie richten läßt!«



Volkers Hände brannten, als er sich über die Brüstung zog. Das rauhe Seil hatte die dünne Haut über den frisch verheilten Wunden wieder aufgeschürft. Vorsichtig duckte der Spielmann sich hinter die Zinnen des Turms. Die Mauerabschnitte zu beiden Seiten des Schuldturms schienen völlig verwaist. Offenbar hatten die Wachen dort gerade erst ihre Runden gedreht. Dicht neben Volker stand ein erloschener Feuerkorb auf der Plattform. Erleichtert atmete er auf. Niemand hatte ihn beobachtet. Die Falltür, die hinab zu den Wachquartieren und Kerkern führte, war halb vom Schnee zugeweht.

Bis hierher war, Golos Unkenrufen zum Trotz, alles gutgegangen. Der Spielmann richtete sich auf und blickte von den Zinnen herab. Undeutlich konnte er den dunklen Schatten seines Freundes im Schneetreiben verschwinden sehen. Er hatte sich tatsächlich nicht mehr anders entschieden. Golo ließ ihn allein!

Der Spielmann schluckte. Insgeheim hatte er gehofft, sein Kamerad würde ihm doch noch folgen. Aber jetzt war keine Zeit für Sentimentalitäten! Er würde die Sache auch allein durchfechten können. Golo war jetzt ganz im Schneetreiben verschwunden. Volker griff nach dem Seil und zog es hoch. Falls doch noch Wachen auf die Plattform kamen, durften sie keine Spuren für sein Eindringen finden. Unentschlossen sah er sich um. Wenn er das schwere Tau mit sich schleppte würde es ihn nur langsamer machen. Sein Blick fiel auf den Feuerkorb. Das war ein guter Platz! Er rollte das Seil auf und versteckte es unter der schwarzen Holzkohle. Dort würde niemand suchen!

Eine feine Schicht aus Eis hatte sich in die Ritzen der Falltür gesetzt. Offenbar war seit Stunden kein Wachposten mehr auf dem Turm gewesen.

Es dauerte eine Weile, bis er das Eis mit dem Dolch beiseite gekratzt hatte und er die schwere Bohlentür öffnen konnte. Langsam, das Schwert in der Rechten, schlich er die Treppe hinunter. Die größte Kerkerzelle des Turms befand sich im obersten Geschoß. Wenn Ricchar so ritterlich war, wie Volker hoffte, dann müßte Belliesa hier untergebracht sein oder aber im Palast des Statthalters.

Am Absatz der Treppe verharrte der Spielmann und lauschte. Irgendwo weiter unten konnte man das Klappern von Würfeln hören. Offenbar rechneten die Wachen nicht damit, daß es einen Befreiungsversuch geben könnte. Der Burgunde lächelte. Es hatte durchaus sein Gutes, wenn man allgemein für tot gehalten wurde. Rechts von ihm lag die Tür zu der Kerkerzelle, die das ganze Obergeschoß des Turms einnahm. Ein eiserner Riegel verschloß die Pforte aus dicken Eichenbohlen. Er war gut geölt und ließ sich leicht zurückschieben. Noch einmal lauschte Volker auf die würfelnden Wachsoldaten weiter unten im Turm. Sie lachten und schienen nichts bemerkt zu haben.

Entschlossen stieß er die Tür auf und trat in den Kerker. Der Raum war mit ausgesuchten Möbeln eingerichtet. Felle und Wandvorhänge bedeckten die kalten Mauern. Auf einem Tisch dicht neben der Tür lag Belliesas Laute mit den kostbaren Elfenbeinintarsien. Die Bardin hatte sich in ihren schwarzen Umhang gehüllt und saß auf einem Stuhl, so daß sie Volker den Rücken zuwandte. Sie rieb ihre Hände über einer Feuerschale. Das rote Licht brach sich in einem goldenen Ring an ihrer linken Hand. Dem Spielmann war das Schmuckstück noch nie zuvor aufgefallen.

»Du kommst früher, als ich erwartet hätte. Für gewöhnlich erscheint der edle Ritter doch erst in der Nacht vor der Hinrichtung, um seine Geliebte zu befreien...«

Volker stockte der Atem. Das war nicht Belliesa! Es war... Die Gestalt erhob sich und streifte den Mantel zurück. Ricchar! Wie bei ihrem ersten Treffen war der Fürst mit einem bestickten Leinenpanzer gewappnet. Doch diesmal trug er dazu wollene Hosen.

Der Franke lächelte breit. »Deine Ritterlichkeit macht dich sehr berechenbar, Volker. Ich konnte einfach nicht glauben, daß du bei der Erstürmung der Stollen ums Leben gekommen bist. Das ist kein Tod für einen Helden. Nicht wahr?«

Volker umklammerte sein Schwert fester und sah sich nach einem Fluchtweg um. Offenbar war der Frankenfürst allein in der Kammer.

»Willst du es dir nicht doch noch überlegen, mein Freund? Wenn du zum Mithrasglauben übertrittst, kann ich dich noch begnadigen. Du hast zu lange und zu erfolgreich gegen mich gekämpft, als daß ich dich jetzt einfach laufen lassen könnte. Kommst du mir nicht wenigstens ein Stück entgegen, dann muß ich auch dich morgen hinrichten lassen. Ich will dich nicht demütigen... Ich selbst würde dir die Weihe geben, und außer uns beiden wäre niemand zugegen. Es geht mir allein um die Geste.«

Der Spielmann schüttelte langsam den Kopf. »Ich hoffe, du hältst mich nicht für unhöflich, aber ich habe dem einzig wahren Gott die Treue geschworen, und ich wüßte nicht, warum ich einen Stierschlächter anbeten sollte.«

Für einen Herzschlag lang erstarrte das Gesicht des Kriegsherren zu einer kalten Maske. »Du bist grausam, Spielmann. Du weißt, wieviel mir die Kunst bedeutet und wie sehr ich dich schätze. Warum zwingst du mich, dich morgen gemeinsam mit Belliesa auf den Scheiterhaufen zu stellen?«

»Laß die Bardin frei, und ich verspreche dir, wir beide werden nie wieder einen Fuß auf dein Land setzen, Ricchar.«

»Das kann ich nicht. Es ist zu viel Blut geflossen, und man erzählt sich zu viele Geschichten über euch. Sogar diesen Halsabschneider, den Eber, feiert man jetzt als einen Helden. Mein Volk muß sehen, daß ihr entweder tot seid oder aber euch unterworfen habt. Sonst wird es niemals Frieden geben. Der Kopf des Ebers steckt auf einem Pfahl über dem Tor der Stadt. Belliesa wird morgen vor den Augen aller verbrannt werden. Wenn du dich nicht beugst, wirst du an ihrer Seite stehen. Und was Golo angeht... Man sagt, er sei dein Knappe gewesen. Ich bin sicher, er wird morgen in der Stadt sein. Selbst wenn er nicht versuchen sollte, dich zu retten, wird er dir eine letzte Ehre erweisen wollen, indem er bei deiner Hinrichtung zugegen ist. An jedem der Stadttore steht ein Offizier, der bei unseren Festen in Castra Bonna zugegen war und weiß, wie dein Kamerad aussieht. Sie werden ihn hineinlassen, doch wenn er wieder gehen will, werde ich auch ihn haben... Er ist der letzte Kopf des Widerstands. Sein Haupt wird neben dem des Ebers aufgepflanzt werden.«

Ricchar hatte recht! Volker wußte es. Golo würde morgen zu der Hinrichtung kommen. Der einzige Weg, dies vielleicht noch zu verhindern, war, jetzt in dieser Stunde zu sterben. Der Spielmann hob seine Waffe.

Ricchar seufzte leise. Er drehte sich um und griff nach dem Schwert, das noch immer halb unter den Falten des schwarzen Umhangs verborgen an seinem Stuhl lehnte. »Natürlich wirst du dich nicht einfach ergeben...«

»Gäbe es dafür einen Grund?«

Der Frankenfürst zog sein goldverziertes Reiterschwert. »Leider habe ich dich noch nicht selber fechten gesehen, Spielmann. Man sagte mir allerdings, wenn du ohne Schild kämpfst, habe deine Verteidigung einige Lücken. Darf ich sie dir zeigen?«

Volker reckte trotzig sein Kinn vor. »Ich bitte darum!«

Ricchar präsentierte sein Schwert. Mit leisem Klirren berührten sich die beiden Klingen. Dann traten die Krieger zurück und begannen einander zu umkreisen. Schließlich wagte der Graf den ersten Angriff. Er machte einen Satz nach vorne und zielte auf den Hals des Barden. Volker ließ die Klinge an seiner Waffe abgleiten und konterte sofort mit einem Rückhandschlag. Ricchar war gezwungen, sich mit einem Sprung nach hinten außer Reichweite zu bringen. Die beiden trennten sich und begannen erneut, einander zu umkreisen.

In der Tür zur Kerkerzelle erschienen Soldaten. Der Kriegsherr bedeutete ihnen mit einer Handbewegung, stehenzubleiben und sich nicht in den Zweikampf einzumischen.

Immer wieder prallten ihre Klingen aufeinander, ohne daß einer der beiden Recken eine Wunde davontrug. Doch Volker spürte, wie er schwächer wurde. Die Kämpfe der letzten Wochen, der lange Marsch vom Bergdorf bis hierher, all das hatte seine Kräfte aufgezehrt. Er mußte jetzt schnell eine Entscheidung herbeiführen, oder seine Niederlage war besiegelt. Volker täuschte einen Schlag nach rechts an. Dann, im letzten Moment, riß er mit einer Drehung im Handgelenk die Waffe herum und zielte nach links. Der Franke blockte die Klinge ab und erwiderte den Angriff mit einem Stoß nach dem Bauch des Spielmanns. Volker wich aus und zielte mit einem Rückhandhieb nach dem Kopf des Kriegsherrn, doch Ricchar duckte sich darunter hinweg.

Der Burgunde biß wütend die Zähne zusammen. Er war zu langsam. Wäre er ausgeruht gewesen, hätte Ricchar diesem Schlag nicht entkommen können. Wieder kreuzten sich klirrend die Schwerter. Der Frankenfürst zielte nun mit einem Hieb auf Volkers Bein. Der Barde machte einen schnellen Schritt zurück. Ricchar setzte nach, und seine Klinge stieß in den linken Oberarm des Spielmanns.

Der Kriegsherr trat zurück. »Siehst du... Die Lücke liegt in deiner oberen Verteidigung. Du hast dich zu sehr daran gewöhnt, mit einem Schild zu kämpfen.«

Volker preßte die Rechte auf die Wunde. Sie war nicht sehr tief. Ricchar verstand sein Handwerk. Der Franke hatte ihn nicht töten wollen. Glaubte der Graf etwa immer noch, er würde zum Mithraskult übertreten? »Danke, daß du mich auf die Mängel in meiner Verteidigung aufmerksam gemacht hast. Ich werde versuchen, mich zu bessern.«

Ricchar schüttelte den Kopf und lächelte. »Du gefällst mir, Spielmann. In meiner ganzen Armee gibt es keinen Mann wie dich. Willst du nicht doch...«

Volker hob sein Schwert und salutierte.

Ricchar starrte ihn fassungslos an. »Du willst noch eine Runde?«

»Für einen Ritter ist es besser, im Kampf als auf einem Scheiterhaufen sein Ende zu finden.«

»Ich fürchte, was das angeht, hast du nicht mehr die Wahl.« Der Graf hob seine Waffe, berührte zum Zeichen, daß er bereit war, Volkers Klinge und trat zurück.

Diesmal schien Ricchar ungeduldiger zu sein. Er griff schneller und ungestümer an als zuvor. Einmal traf Volkers Klinge den Leinenpanzer und schlitzte die oberste Lage des Stoffs. Doch der Graf achtete gar nicht darauf. Dicht wie Hagelschlag prasselten seine Hiebe herab, und der Spielmann hatte immer größere Mühe, sie zu parieren.

Volker zielte mit einem Stich nach Ricchars Brust. Der Fürst ließ ihn ins Leere laufen, konterte mit einem Hieb auf Volkers Kopf und wechselte im letzten Moment die Schlagrichtung. Sein Schwert grub sich tief in den linken Oberschenkel des Burgunden. Der Spielmann strauchelte. Ricchar versetzte ihm einen derben Stoß mit dem Ellbogen und Volker ging endgültig zu Boden. Mit einem Tritt entwaffnete Ricchar den Wehrlosen. Sein Schwert zielte auf die Kehle des Barden.

»Mir scheint... ich habe auch... in der unteren Deckung... Lücken.« Volker rang keuchend nach Luft. »Bring es zu Ende!«

Der Frankenfürst schüttelte den Kopf. »Es war wieder deine Schildseite. Die meisten Ritter haben diese Schwäche.« Er winkte den Soldaten, die noch immer am Eingang zur Zelle standen. »Ruft nach dem Heiler und laßt ihn verbinden.«

»Laß mich... sterben...«

»Nein!« Ricchars Augen funkelten jetzt zornig. »Du hattest Gelegenheit, deinen Weg zu wählen. Immer wieder hast du abgelehnt! Jetzt ist es zu spät. Meine Untertanen hast du in Aufruhr versetzt. Wenn ich je wieder in Frieden über sie herrschen will, dann müssen sie dich morgen gemeinsam mit Belliesa sterben sehen. Das wird allen Legenden um euch beide ein Ende bereiten. Nur eine allerletzte Gnade werde ich dir gewähren. Du sollst nicht auf dem Scheiterhaufen stehen. Ich selbst werde dich mit meinem Schwert richten. So wirst du durch eine Klinge in der Hand eines Edlen sterben, ganz wie es sich für einen Ritter geziemt.«

Der wehrlose Spielmann sah zu dem Fürsten auf. Er hatte sich in Ricchar getäuscht. Golo hatte Recht gehabt. Der Graf war ein Machtmensch, der keine Gnade mehr kannte, wenn er seine Interessen gefährdet sah. Volker erinnerte sich an die Tage in Castra Bonna. »Auf ein... Wort...«

»Ja.« Im Blick des Franken lag kein Triumph.

»Der Diener..., der verschwand..., als wir gegen... den Eber kämpften. Hast... du ihn töten... lassen?«

»Natürlich.« Ricchars Stimme war völlig ohne Emotion, so, als spräche er über etwas Belangloses. »In meiner Umgebung kann ich niemanden gebrauchen, der mich verrät. Ich erwarte von meinen Weggefährten, daß sie es offen aussprechen, wenn sie glauben, daß ich einen Fehler mache. Doch hinter meinem Rücken mit meinen Gästen paktieren... Nein! Ich habe den Kerl in den Thermen, wo er auf deinen Gefährten, Golo, gewartet hat, töten lassen. Seine Leiche wurde in den Rhein geworfen. So nutzte er wenigstens noch als Aalfutter.« Von einem Augenblick zum nächsten setzte der Graf wieder sein strahlendstes Lächeln auf. »Genug davon! Wir sehen uns morgen. Sei übrigens gewiß, daß ich deine Arbeiten, auch wenn wir nun auf so tragische Weise voneinander getrennt werden, stets weiter schätzen werde.« Ricchar verbeugte sich. »Ich habe alles Nötige veranlaßt, um dir eine angenehme letzte Nacht zu bereiten. Vor deiner Zelle wird ein Lakai stehen, der dir fast jeden Wunsch erfüllen wird.« Der Fürst wandte sich ab, und die Wachen, die Zeugen des Gesprächs geworden waren, traten hastig zur Seite.



Der Kräutersud, den der Heilkundige Volker eingeflößt hatte, machte den Ritter benommen. Vielleicht war es auch der Blutverlust. Noch bevor der Arzt den letzten Verband angelegt hatte, überkam Volker das Gefühl, irgendwo zwischen Traum und Wirklichkeit gefangen zu sein. Soldaten hoben ihn auf eine Trage. Sie brachten ihn auf die Wendeltreppe, die tiefer in den Turm führte. Er flog...

Panische Angst überkam ihn. Er sah sich auf einen Berg zufliegen, auf dem ein mächtiger Turm stand. Ritter in schimmernden Rüstungen standen hinter den Zinnen. Er konnte das grimmige Gesicht von Hagen erkennen und auch das Gunthers. Was taten sie hier in der Einsamkeit der Bergwelt? Sie schienen ihn nicht zu bemerken... Er saß auf einem Vogel. Das Märchen! Der weiße Turm! Waren seine Verletzungen so schwer? Lag er im Sterben?

Ein blasses Gesicht beugte sich über ihn. Belliesa! Sie tupfte ihm mit einem Tuch den Schweiß vom Gesicht. War das alles ein Fiebertraum?

»Wo bist du, Feuervogel? Ich weiß nicht mehr, wo ich dich suchen soll. Du allein weißt, wo meine Liebste verborgen ist, doch nicht einmal dich konnte ich finden.«

»Du hättest mich rufen sollen, mein Ritter. Ich bin lange Zeit an deiner Seite geritten und habe über dich gewacht.« Goldenes Licht umspielte die Gestalt Belliesas. »Ich war der Märchenerzähler, der am Hof in Worms gesprochen hat, die Flammengestalt, die dich in Castra Bonna besuchte, und das sterbende Mädchen, das dich in den Bergen vor dem Erfrieren rettete. Du warst mein Auserwählter!«

»Aber wir haben verloren... Unser Schicksal ist besiegelt.«

Belliesa schüttelte den Kopf, und ihr rotes Haar erschien ihm wie Flammenzungen. »Besiegelt ist unser Schicksal... Ja! Doch so, wie im Sommer Ricchars Falke aus dem Himmel stürzte, nachdem er meine glühenden Schwingen berührte, so wird morgen der Fürst selbst stürzen. Sein letzter Mord wird ihn zu Fall bringen! Wenn er das Feuer entfacht, meinen Leib zu zerstören, dann werden meine Schwestern, die Windsbraut und die gehörnte Herrin der Erde, seinen Hochmut strafen...«

Volker hatte das Gefühl zu stürzen. Immer weiter entfernt klang die Stimme der Bardin. Er durfte sie jetzt noch nicht verlieren! Nicht bevor er zweite Frage gestellt hatte. »Sag mir, Feuervogel, wie werde ich meine Liebste wiederfinden?«

»Besiege die Kälte in dir, und du wirst sie in jenem fernen Königreich finden, wo das Land und das Wasser eins sind. Sie hat die Drei vergessen, die in ihr wohnten, und auch dich, der du mit ihr vermählt wurdest. Wenn der Ritter stirbt, wird der unscheinbare Wanderer sie wiedergewinnen. Doch hüte dich vor den drei Schwestern, die das Wasser und auch das Land sind. Schwarz, weiß und rot, so ist der Tod...«

Der Spielmann mochte den Worten nicht weiter zu folgen. Etwas Kühles berührte seinen Hals. Dann schlief er ein.


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