16. KAPITEL


Golo konnte nicht schlafen. Er stand am Fenster seiner kleinen Kammer und blickte auf die Stadt. Er war im Haus eines reichen Händlers untergebracht, und die ganze Familie bemühte sich darum, ihm all seine Wünsche von den Augen abzulesen. Es war lange her, daß er so oft hintereinander so gut gegessen hatte wie hier in Icorigium. Früher hatte er sich vorgestellt, daß dies alles sei, was er brauchte, um glücklich zu sein. Jetzt wußte er, daß er sich geirrt hatte.

Die verschneite Stadt sah bei Nacht sehr friedlich aus. Man sah ihr nicht an, daß sie in ihren Mauern mehr als tausend Freiwillige der Rebellenarmee beherbergte. All diese Krieger machten ihm Kopfzerbrechen. Die Vorräte gingen langsam zur Neige. Bald würde er das Korn in den Speichern der Stadt beschlagnahmen müssen. Noch ein paar Wochen, und die Städter würden Ricchar freiwillig die Tore öffnen, nur um die Rebellen wieder loszuwerden. Er mußte etwas unternehmen, doch er wußte nicht, was. Die Ritter, die Volker zurückgelassen hatte, waren keine Hilfe. Ihnen fiel nichts Besseres ein, als Männer in die umliegenden Dörfer zu schicken, um dort das Vieh forttreiben zu lassen. So konnte es nicht weitergehen!

Golo fluchte. Wenn nur Volker endlich zurückkäme! Elf Tage war er nun schon verschwunden. Das Dorf des Ebers war nicht mehr als zwei Tagesmärsche entfernt. Durch den hohen Schnee mochte es vielleicht auch vier Tage dauern, um es zu erreichen. Der Spielmann müßte längst wieder zurück sein! Hätte er nur einen Führer mitgenommen! Ihm mußte etwas passiert sein. Anders konnte Golo es sich nicht erklären, daß er immer noch nichts von Volker gehört hatte. Wäre der Barde wohlbehalten im Bergdorf angekommen und aufgehalten worden, hätte er doch wenigstens einen Boten geschickt. Ob der Eber Volker umgebracht hatte? Nein! Es mußte etwas anderes geschehen sein. Golo konnte sich nicht vorstellen, daß der Spielmann tot war. Verletzt vielleicht oder in Schwierigkeiten, doch tot? Nein. Volker war ein Held, und Helden starben nicht einfach so.

Andere hingegen... Er mußte an die Späher denken, die er ausgeschickt hatte, um Ricchars Kriegsvorbereitungen auszukundschaften. Keiner von ihnen war zurückgekehrt. Was ging in den Städten am Rhein nur vor sich? Und wie schaffte es der Graf, alle Späher und Spitzel abzufangen. Was wollte er um jeden Preis verbergen? Oder war es nur eine Strategie, um die Rebellen zu beunruhigen. Wenn dem so war, dann ging sein Plan auf, dachte Golo. Er war beunruhigt, und er hätte sofort fünf Jahre seines Lebens gegeben, wenn er nur wüßte, was Ricchar gerade plante. Der junge Ritter hatte den Eindruck, daß sich die Lage der Rebellen mit jedem Tag, den sie ungenutzt verstreichen ließen, verschlechterte. Doch was war zu tun?

Verzweifelt starrte Golo in die Finsternis. Der eisige Nachtwind biß ihm in die Wangen. Es hatte wieder begonnen zu schneien. Nie in seinem Leben hatte er einen Winter erlebt, in dem es so viel Schnee gegeben hatte. Die Verwehungen an der Stadtmauer waren zum Teil bis zu vier Schritt hoch, und es war notwendig, etliche Männer einzusetzen, um den Schnee zur Seite räumen zu lassen. Die kleinen Häuser in den Bergdörfern mußten völlig eingeschneit sein. Was es wohl für ein Gefühl sein mochte, irgendwo dort draußen in einer Hütte im Finsteren zu sitzen und zu wissen, daß das ganze Dach unter Schnee begraben lag?

Golo fröstelte es. Er schloß den hölzernen Laden vor dem Fenster und ging zu seinem Lager zurück. Seine Füße schmerzten vor Kälte. Einen Moment lang blickte er auf die zerknüllten Decken. Dann entschied er sich anders und trat zu der niedrigen Tür, die zur Kammer nebenan führte. Dort hatte er Mechthild untergebracht. Er nutzte sie den Tag über als Bote. So wunderte sich keiner, daß der junge bartlose Waffenknecht immer an seiner Seite war, und niemand konnte ihr Geheimnis entdecken.

Die Tür zu ihrer Kammer war nur angelehnt. Vorsichtig schob er sie auf und blickte auf ihr Lager. Fast jeden Abend kam er und sah ihr beim Schlafen zu. Sie hatte ihm noch immer nicht verziehen. Kein freundliches Wort war seit dem Zwischenfall in Treveris mehr über ihre Lippen gekommen. Das blasse Licht der Öllampe, das aus dem Zimmer nebenan in ihre Kammer fiel, reichte kaum aus, Golo die Züge des Mädchens erahnen zu lassen. Er lauschte auf ihr gleichmäßiges Atmen. Was konnte er nur tun, um ihr Vertrauen wiederzugewinnen? Er hatte sie hierhergebracht, obwohl sie eigentlich in Treveris hätte bleiben sollen, und schützte sie vor Entdeckung, so gut dies möglich war. Was sollte er denn noch tun? Er hatte versucht, ihr zu erklären, wie er für sie empfand, doch sie hörte ihm nicht einmal zu.

Der junge Ritter seufzte. Ob das am Einfluß Volkers lag? Vielleicht war es unmöglich, eine glückliche Liebe zu erleben, solange man mit dem Spielmann zog? Golo schüttelte verdrießlich den Kopf. Unsinn! Es mußte einen Weg geben, Mechthilds Vertrauen zurückzugewinnen. Er drehte sich um und verließ die kleine Kammer. Sorgfältig zog er die Tür zu. Seine Füße fühlten sich an wie zwei Eisklumpen. Golo ließ sich auf der Bettkante nieder und massierte seine Zehen. Er mußte versuchen zu schlafen. Wenigstens für ein paar Stunden.



Volker war froh, die Mauern von Icorigium wiederzusehen. Zwei Wochen hatte ihn seine Reise in das Dorf des Ebers gekostet. Doppelt so lange, wie er gedacht hatte. Er war ohnmächtig geworden, nachdem sie die ersten Flüchtlinge gefunden hatten. Er konnte sich fast an nichts mehr von dem erinnern, was an jenem Tag geschehen war. Angeblich hatte er sich sehr seltsam verhalten. Der Eber hatte eine Trage für Volker bauen lassen und vier seiner Leute mit ihm ins Dorf zurückgeschickt, wo er drei Tage lang mit schwerem Fieber darniederlag.

Volker hätte nicht mit hinausziehen dürfen, um nach den Flüchtlingen zu suchen. Das Wundfieber hatte noch in seinen Knochen gesteckt. Es hatte nicht mehr viel gefehlt, und diese Dummheit hätte ihn das Leben gekostet. Selbst jetzt fühlte er sich noch ganz schwach. Seine Hände waren immer noch bandagiert. Als das letzte Mal die Verbände gewechselt worden waren, hatte er seine Finger gesehen. Sie waren über und über mit grünbraunem Schorf bedeckt. Sicher würde er von diesem Winter Narben zurückbehalten. Seine makellosen schlanken Finger, die viele Frauen so sehr geliebt hatten... Die Finger eines Spielmanns... Ob sie jemals wieder so sein würden wie zuvor?

Er preßte die Lippen zusammen und blickte geradeaus. Von den Türmen der Stadt erklangen Signalhörner. Vor den Mauern konnte er dunkle Gestalten im Schnee sehen. Golo sorgte offenbar dafür, daß die Männer trotz der bitteren Kälte ihre Waffenübungen machten. Sein Ausflug hatte ihnen nur vierzig Mann eingebracht und die Bardin. Schon morgen würde er den Eber losschicken, damit er die Lager Ricchars auskundschaftete. Und Belliesa... Sie war unbezahlbar, um die Moral der Truppen hochzuhalten. Sie hatte ein Lied darüber gemacht, wie er gemeinsam mit dem Eber losgezogen war, um die Flüchtlinge im Schnee zu suchen. Es war sehr heroisch und gefiel den einfachen Leuten. Doch wie üblich hatte es mit dem, was wirklich geschehen war, nicht viel gemein.

Es wurde immer unmöglicher, der Mann zu sein, den sie in ihren Versen beschrieb. Der Auserwählte! Davon, daß er im Fieberwahn davongelaufen war, war natürlich nicht die Rede. Mehr als hundert Flüchtlinge hatten sie aus dem Schnee retten können, und der Eber spielte sich jetzt als der Beschützer von Witwen und Waisen auf. Volker schnaubte verächtlich.

Wenn er in der Stadt war, würde er zuallererst ein heißes Bad nehmen. Vielleicht fand sich auch eine Magd, mit der er sich für einen Abend vergnügen konnte. Er hatte schon lange bei keiner Frau mehr gelegen. Es war nicht mehr so leicht... Alle betrachteten ihn mit heiliger Ehrfurcht. Und mit Heiligen ging man nicht ins Bett. Wäre diese Sache nur endlich überstanden!



»Er marschiert nach Dune!« Der Eber stützte sich schwer auf den Kartentisch und zog mit dem Zeigefinger den Weg nach, den Ricchars Armee genommen hatte. Seine Pelzweste war voller getrockneter Blutflecken. Auf seiner Stirn prangte eine frische Schnittwunde. Eine Woche lang war der Räuber mit seinen Männern verschwunden gewesen, und als er in dieser Nacht zurückgekehrt war, war seine Schar zu einem kleinen Häuflein zusammengeschmolzen.

Volker hatte zunächst nur Golo und zwei der Ritter wecken lassen, denen er besonders vertraute. Er wollte nicht, daß die Neuigkeiten zu schnell die Runde machten. Es war unfaßbar! Ricchar hatte es tatsächlich gewagt, sich auf einen Winterfeldzug einzulassen!

»Wie hat er es geschafft, daß wir keine Nachrichten von seinem Vormarsch erhalten haben?« fragte Rother, einer von Volkers Rittern. Er war ein junger dunkelhaariger Krieger, dem man deutlich ansah, daß Römerblut in seinen Adern floß. Für Volkers Geschmack war er etwas zu arrogant, aber er verstand sich hervorragend darauf, Dinge zu organisieren und Schwächen in Plänen aufzudecken.

Der Eber schnaubte wie ein Tier. »Wie er das schaffte? Der Bastard hat die Wölfe geholt! Sachsenkrieger! Es müssen mindestens dreihundert sein. Sie schirmen seine Armee ab. Die Sachsen sind überall in den Bergen und Wäldern. Deshalb ist keiner unserer Späher zurückgekehrt. Und deshalb liegen jetzt über die Hälfte meiner Männer dort draußen im Schnee. Diese Hunde bringen jeden um, der ihnen verdächtig erscheint. Jede Köhlerhütte und jedes einsame Bauernhaus haben sie geplündert und niedergebrannt. Wo sie langgekommen sind, sieht es aus wie in einem Schlachthaus.«

Rother runzelte die Stirn und warf dem Eber einen vieldeutigen Blick zu. Volker ahnte, woran der Ritter dachte. Für einen ehrbaren Krieger gab es kaum einen Unterschied zwischen den Taten des Ebers und den Plünderungen der Sachsen.

»Und was ist mit Ricchars Armee?« fragte Golo.

»Ich hab’ sie gesehen. Hier unter dem Burgfelsen von Dune lagert sie.« Der Gesetzlose deutete auf die Karte. »Es sind mehr als tausend Fußsoldaten. Dazu kommen fast fünfhundert Reiter, und allein der Teufel weiß, wie viele Sachsensöldner er gedungen hat.«

»Woher weißt du, daß es so viele sind?« fragte Rother skeptisch. »Hast du sie etwa gezählt?«

»Die Schilde der Einheiten. Du weißt ja wohl, daß er seine Männer wie Römer ausstattet. So war es leicht zu erkennen, welche Truppen er aufgeboten hat. Und die Pferde habe ich selbst gesehen.«

»Macht er Anstalten, weiter auf uns zu zumarschieren?«

Der Gesetzlose schüttelte den Kopf. »Nein. Wir haben ein paar seiner Männer erwischt und alles aus ihnen herausgeholt, was sie wußten. Ricchar wird dort noch eine Weile bleiben. Sein Lager sieht auch so aus, als habe er sich darauf eingerichtet, dort Quartier zu machen. Angeblich wartet er noch auf weitere Truppen, die von der Mosel her zu ihm stoßen sollen.«

Volker fluchte. »Das dürfen wir auf keinen Fall zulassen. Er ist jetzt schon fast doppelt so stark wie wir.«

Der Eber zog die Nase hoch und spuckte auf den Boden. »Es sieht ganz so aus, als hätte er Angst vor dir, Auserwählter.«

»Unsinn. Er erwartet, daß wir uns hier in Icorigium verschanzen. Wenn man eine befestigte Stadt erobern will, soll man dreimal so viele Truppen wie der Verteidiger aufbieten können. Am besten sogar noch mehr, wenn man ein Blutbad verhindern will. Das weiß jeder Stratege.«

Der Spielmann beugte sich über die Karte. Nahe bei Dune waren drei kleine Seen eingezeichnet. Der Weg zur Festung führte an ihnen vorbei. »Was ist das hier für ein Gelände?«

Der Eber schnitt eine Grimasse. »Die Maare? Das ist eine scheußliche Gegend. Niemand, der seine Sinne beisammen hat, geht dort freiwillig hin. Das Land dort sieht aus wie tot. Siehst du diesen See?« Der Gesetzlose zeigte auf die Karte, und seine Finger zitterten. »Das ist das Totenmaar. Dort stehen die Ruinen einer römischen Siedlung. Die Franken haben sie vor hundert Jahren niedergebrannt. Man sagt, daß es dort spukt.«

»Dann werden wir sie dort abfangen!«

»Abfangen? Du bist wohl von allen guten Geistern verlassen! Hast du nicht gehört, was ich gesagt habe? Dieser Platz ist verflucht!«

Volker nickte. »Ich habe dich sehr gut verstanden. Doch es waren die Franken, die dort gemordet haben. Sie werden noch sehr viel mehr Angst vor diesem Platz haben als unsere Männer.«

»Du willst doch nicht etwa die Stadt verlassen?« erhob Rother seine Stimme. »Sie sind uns fast um das Doppelte überlegen. Auf freiem Feld wird Ricchar unsere Truppen einfach zerschmettern. Seine Männer sind besser ausgebildet und besser bewaffnet. Du solltest nicht vergessen, daß wir keine richtigen Soldaten kommandieren, sondern einen Haufen undisziplinierter Bauern.«

»Gerade deshalb dürfen wir nicht warten. Was glaubst du, was passieren wird, wenn wir hier auf unseren Hintern sitzen bleiben, bis Ricchar vor den Toren aufmarschiert. Wenn wir ihm das Handeln überlassen, wird er vor der Stadt eine so eindrucksvolle Truppenparade abhalten, daß sich unsere Männer freiwillig ergeben, ohne auch nur einen einzigen Schwertstreich zu führen!«

»Es sind halt nur Bauern und keine Krieger«, brummte Rother.

»Nein!« Volker schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Jeder von ihnen ist voller Begeisterung hierhergekommen und mit der Bereitschaft, sein Leben für die Sache einzusetzen, von der er überzeugt ist. Einen höheren Preis vermag auch ein ausgebildeter Krieger nicht zu geben. Sprich nicht so über unsere Männer. Sie werden an deinen Blicken sehen, was du von ihnen hältst. So schwächst du ihre Kampfkraft! Sie werden anfangen zu zweifeln, und die Angst wird in ihren Herzen keimen. Und was Ricchars Armee angeht... Natürlich bin ich nicht wahnsinnig. Ich werde nicht sein ganzes Heer angreifen. Wir nehmen uns den nächsten Verstärkungstrupp vor, der zu ihm stoßen will. So werden wir die Übermacht haben.« Der Spielmann drehte sich zum Eber um, der sich erschöpft auf dem einzigen Stuhl im Kartenraum niedergelassen hatte. »Traust du dir zu, unsere Truppen für zwei oder drei Tage gegen die Späher Ricchars abzuschirmen. Ich möchte, daß er nicht weiß, was wir tun. Ein anderer Trupp muß herausfinden, wann die nächsten Verstärkungen zum Armeelager stoßen.«

Der Narbige schüttelte erschöpft den Kopf. »Du bist derjenige, der hier für Wunder zuständig ist. Ich habe zu viele Männer verloren... Du müßtest mir jeden Jäger und Wilderer überlassen. Jeden, der sich in der Wildnis auskennt und mit einem Bogen umgehen kann. Um diese Aufgabe zu erfüllen, brauche ich mindestens fünfzig Mann. Besser noch mehr.«

Volker strich sich nachdenklich über das Kinn. Es mußte möglich sein, die Franken zu täuschen. Er würde schlechtes Wetter abwarten. Dann würden nur wenige Sachsenspäher die Stadt beobachten. »Golo, du sorgst dafür, daß der Eber morgen neue Männer bekommt. Unsere Versammlung ist hiermit beendet. Wir werden morgen weitersehen.«

»Aber...« Rother blickte den Spielmann finster an.

Volker winkte ab. »Morgen. Wir brauchen unseren Schlaf, und ich möchte noch einmal in Ruhe überdenken, ob es vielleicht noch eine andere Möglichkeit gibt, gegen Ricchar vorzugehen.«

Die anderen gehorchten. Nur Golo blieb noch einmal in der Tür stehen und blickte zurück. »Ist alles in Ordnung?«

Der Spielmann nickte müde. »Ja.« Volker wollte allein sein. Als die Schritte seiner Gefährten auf der Treppe verklungen waren, stand er auf und folgte ihnen. Er mußte hinaus an die klare Nachtluft. In der engen Kammer hatte er das Gefühl, nicht mehr atmen zu können.

Die Morgendämmerung war noch fern, als er allein durch die verschneiten Straßen ging. Er lauschte auf das Knirschen des Schnees unter seinen Sohlen und den Wind, der heulend um die Dachgiebel pfiff. Wäre er nur wirklich so sicher, wie er gegenüber den anderen aufgetreten war. Natürlich wußte er, wie riskant es war, das befestigte Lager in der Stadt zu schwächen. Aber sie konnten auch nicht einfach hierbleiben, bis der Frankenfürst sich stark genug fühlte, Icorigium zu belagern.

Der Spielmann erklomm eine der schmalen steinernen Treppen, die zur Stadtmauer hinaufführten. Die Befestigungsanlagen von Icorigium waren in einem guten Zustand. Es würde Ricchar nicht leichtfallen, die Stadt zu erobern. Doch sie würde untergehen... Im Grunde bräuchte der Frankenfürst nicht einmal anzugreifen. Er konnte einfach sein Heerlager vor den Mauern aufschlagen und darauf warten, daß der Hunger sie zwang, ihm die Tore zu öffnen. Sie würden von niemandem Unterstützung bekommen.

Volker erreichte den großen Turm am südlichen Ende der Mauer. Den Schuldturm. Hier waren jene Bewohner der Stadt eingekerkert, deren Sippen mit den fränkischen Besatzern verwandt waren. Dem Spielmann war es zuwider gewesen, Unschuldige hinter Kerkermauern verschwinden zu lassen, doch im Kriegsrat hatte man ihn überstimmt. Das Risiko, daß einer dieser Frankenfreunde nachts heimlich Ricchars Truppen die Tore öffnete, war einfach zu groß. Der Spielmann hatte dafür gesorgt, daß die Zellen in dem aus weißen Steinen erbauten Turm so gemütlich wie möglich eingerichtet worden waren. Überall gab es Feuerbecken und Lampen, um Kälte und Finsternis aus dem abweisenden Gemäuer zu vertreiben.

Energisch klopfte er gegen das Tor des Turms. Einige Augenblicke verstrichen, bis schließlich geöffnet wurde. Der junge Mann, der auf Wache stand, war kaum dem Knabenalter entwachsen. Überrascht salutierte er vor Volker. Der Spielmann erwiderte den Gruß und erklomm dann die schmale Treppe, die zur Plattform des Turms führte. Dies war die höchste Stelle der Verteidigungsanlagen. In der Finsternis waren die Häuser unter ihm kaum noch zu erkennen. Dunkle Wolken verhüllten den Mond und die Sterne. Fast konnte man hier oben das Gefühl haben, von der Welt losgelöst durch die Dunkelheit zu schweben. Könnte er nur wirklich alles hinter sich lassen! Doch sein König hatte ihm den Kampf gegen Ricchar befohlen. Gunther fürchtete den Frankenfürsten...

Volker blickte nach Südosten. Dort irgendwo hinter den Bergen, die sich in der Nacht verbargen, lag Ricchars Armee. Was für Gedanken der Frankenfürst wohl hegte. Ob er schlief? Vielleicht saß er auch über seinen Kartentisch gebeugt und brütete über den Untergang der Rebellen. Oder aber er wanderte, genau wie Volker es tat, schlaflos durch sein Heerlager.

Der Spielmann seufzte. Er hatte seinen Entschluß gefaßt.


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