6. KAPITEL


Belliesa war viele Meilen lang der Straße nach Castra Bonna gefolgt, bis sie vor einem Abzweig, der in die Wälder führte, ihr Pferd zügelte. Es hatte angefangen zu regnen. Die Wipfel der Berge waren in den Wolken verborgen, und graue Dunstschleier zogen die dunklen Wälder an den Bergflanken herab. Volker war naß bis auf die Knochen. Fast wünschte er, er hätte die Bardin ihrem Schicksal überlassen, dann säße er jetzt in einem trockenen, warmen Gasthaus bei einem gepflegten Mittagsmahl. Er lenkte sein Pferd an Belliesas Seite. Seit der Flucht aus der Stadt hatte er noch keine Gelegenheit gehabt, mit ihr zu reden... Und es gab eine Menge zu bereden!

»Was denkst du eigentlich...«

Die Bardin schnitt ihm mit einer harschen Geste das Wort ab. »Es ist besser, wenn wir die Hauptstraße verlassen. Wollt ihr mit mir reiten? Ich kenne die Berge recht gut. Folgt mir, und zur Abenddämmerung werden wir in einer tiefen, trockenen Höhle sitzen.«

»Ich werde...«

»Du brauchst mir nicht zu danken. Ich stehe in deiner Schuld, Volker. Ohne dich wäre ich jetzt tot.« Belliesa warf dem Spielmann einen koketten Blick zu. »Ich werde dich und deine Reisegefährten vor den Franken schützen und euch sicher bis nach Treveris bringen. Ich kenne jeden Pfad hier in den Wäldern.«

»Ich bedarf nicht der Hilfe einer Frau!« platzte Volker heraus. »Ich brauche auch kein Weib, das mir sagt, was ich tun soll. Es wäre sehr entgegenkommend von dir, wenn du aufhören würdest, mich und meine Gefährten wie deine Untergebenen zu behandeln. Wir sind sehr wohl in der Lage, selbst zu entscheiden, wohin uns unser Weg führen soll. Und ich denke nicht daran, nach Treveris zu reiten, um...«

»Du erlaubst dir doch auch, für den Ritter und das Mädchen Entscheidungen zu treffen. Ich habe nicht den Eindruck, daß du die beiden fragst, wohin sie eigentlich wollen.«

Volker konnte aus den Augenwinkeln sehen, wie Golo grinste. Verräter! »Ich... Also... Ich zwinge niemanden, mit mir zu reiten.«

»Das tue ich auch nicht«, entgegnete die Bardin kühl. »Wenn ich die Dinge richtig sehe, habt ihr im Moment folgende Möglichkeiten. Entweder ihr reitet die Römerstraße weiter nach Osten. Dann kommt ihr irgendwann in Castra Bonna an, es sei denn, die Häscher von Heliodromus erwischen euch vorher. Dafür spricht einiges, denn sie unterhalten einen Botendienst entlang der Römerstraße, und ich bin sicher, daß bereits jetzt eine Nachricht an den Gaugrafen unterwegs ist. Die zweite Möglichkeit besteht darin, der Straße nach Westen zu folgen. Dann kommt ihr auf direktem Wege zurück nach Icorigium. Wenn ihr dem Wort des Offiziers dort glaubt, könnt ihr die Stadt heute noch ungeschoren passieren...« Belliesa zuckte mit den Schultern. »Ich für meinen Teil würde mich darauf lieber nicht verlassen wollen... Aber ihr müßt wissen, was ihr tut. Natürlich könnt ihr auch einen der kleinen Wege nehmen, die von der Römerstraße abzweigen. Viele enden in verlassenen Dörfern oder bei gebrandschatzten Gutshöfen. Wenn ihr euch nicht auskennt, werdet ihr euch hoffnungslos verirren. Die vierte Möglichkeit besteht darin, einfach das Vernünftigste zu tun und mir zu folgen. Wie gesagt, ich kenne die Gegend und kann euch, wenn wir nicht allzu lange hier verweilen, um verletzte Eitelkeiten zu pflegen, ein trockenes Nachtquartier versprechen.«

Golo räusperte sich leise. »Wenn ich vielleicht...«

»Nein!« Es kostete Volker alle Mühe, nicht einfach loszuschreien. Was ging hier vor sich? Noch nie hatte Golo seine Autorität in Frage gestellt! Doch nun wollte er sich offenbar auf die Seite der Bardin schlagen! Es war höchste Zeit, das Ruder wieder in die Hand zu bekommen. »Wir werden Richtung Treveris reiten und nehmen dein großzügiges Angebot, uns als Führerin zu dienen, gerne an, Belliesa. Unser Weg hätte uns ohnehin dorthin geführt.«

Die Bardin musterte ihn scharf. »Von Dienen kann hier nicht die Rede sein. Ich habe dich um nichts gebeten, Ritter. Es war allein deine Entscheidung, Heliodromus herauszufordern. Ich habe mich für das bedankt, was du unaufgefordert für mich getan hast. Damit ist die Angelegenheit für mich erledigt.«

»Du hattest zwar einen Knebel im Mund, aber deine Blinke waren beredter als tausend Worte, kleine Bardin...«

»Offenbar sprechen wir dann wohl nicht dieselbe Sprache, Spielmann.« Belliesa wendete ihr Pferd und trieb es den steilen Waldweg hinan.

Volker sah ihr schweigend nach.

»Wäre es vielleicht nicht doch klüger, wenn wir ihr folgen würden?«

»Findest du ihr Verhalten in Ordnung, Golo?«

Der junge Ritter wich Volkers Blicken aus. »Sie hat sicher eine Menge durchgemacht... Wir können uns morgen ja immer noch von ihr trennen.«

»Du hast recht. Wir sollten ihr Gelegenheit geben, sich von ihrem Schrecken zu erholen. Dann wird sie sicher umgänglicher werden. Gott allein mag wissen, was die Franken ihr angetan haben. Wenn wir nicht auf sie aufpassen, wird ihr vielleicht noch etwas zustoßen.«

Golo brummte etwas Unverständliches. Dann folgten die beiden Ritter und Mechthild der Bardin.



Prüfend tastete Golo über die abgestorbenen Äste, die unter dem Brombeergestrüpp lagen. Sie waren ein wenig feucht, aber doch noch trocken genug, um als Brennholz für das Lagerfeuer zu dienen. Verfluchter Regen! Es würde nicht mehr lange hell sein, und er hatte erst einen Arm voll Reisig zur Höhle hochgetragen. Das reichte bei weitem nicht aus, um ein Feuer zu entfachen, an dem sie alle ihre Kleider trocknen konnten. Nach längstens zwei Stunden wäre alles aufgebraucht und dann... Golo schauderte es bei dem Gedanken, in halbnassen Gewändern in der kühlen Höhle zu übernachten. Der Sommer war schnell vorübergegangen. Gerade eine Woche war es her, daß er über die Hitze unten am Fluß geflucht hatte. Und jetzt... Seit sie Castra Bonna verlassen hatten, war das Wetter immer schlechter geworden. Kein Tag verging, an dem es nicht ein paar Stunden geregnet hätte, und wenn die Sonne einmal durch die Wolken brach, dann hatten ihre Strahlen kaum die Kraft, die klammen Kleider wieder zu trocknen.

Mit Schrecken dachte Golo an die Geschichten, die man sich über den Winter in den Bergen erzählte. Manchmal wurden die Häuser bis zum Giebel eingeschneit, so daß man ein Loch ins Dach brechen mußte, um nach draußen zu gelangen. Und jetzt noch diese Sache mit den Franken. In keiner Stadt und keinem Weiler in den Bergen würden sie sich noch blicken lassen können. Wahrscheinlich würde auch Graf Ricchar nicht eher ruhen, bis er sie beide gefaßt hatte. Das klügste wäre es, sich von der Bardin auf verborgenen Wegen bis nach Treveris bringen zu lassen. Dort herrschten die Burgunden, und sie waren in Sicherheit. Golo schnaubte resignierend. Wenn sie tatsächlich in die Stadt ritten, dann wäre es das erste Mal, daß Volker sich entschied, das Klügste zu tun. Er sollte besser nicht damit rechnen... Golo hob das Reisigbündel auf, um als nächstes in dem Tannengehölz hinter den Brombeerbüschen nach trockenen Ästen zu suchen.

»Herr...«

Erschrocken fuhr der junge Ritter herum. Mechthild stand hinter ihm. Er hatte sie nicht kommen hören. Sie mußte wie ein Wiesel über die Lichtung geschlichen sein.

»Mach das nicht noch mal. Du hättest mich fast zu Tode erschreckt.«

»Ich... Entschuldigt. Ich wollte Euch nur auf Wiedersehen sagen, Herr.«

Golo schaute sie verblüfft an. Es waren die ersten Worte, die sie an ihn richtete. »Du kannst ja reden, Kleine.«

Sie blickte verlegen zur Seite. »Ich werde jetzt gehen, Herr.«

»Wohin willst du denn? Hat Volker dich zum Wasserholen geschickt?«

Mechthild schüttelte den Kopf. »Ich suche... den Eber.«

»Was?« Golo ließ das Reisigbündel fallen. »Was willst du denn von diesem gottverfluchten Bastard?«

Das Mädchen zog ein schmales Messer aus dem Ärmel ihres Gewandes. »Ich werde ihn töten... hiermit. Er hat meine Eltern ermordet und meine Brüder... Ich...«

Der junge Ritter starrte die Waffe an. »Woher hast du das?«

»Volker hat es mir gegeben. Nachdem wir im Buchenhain die... die toten Sachsen...«

»Ich nehme an, Volker weiß nicht, was du vorhast.«

Sie nickte. »Wozu. Er wollte mich doch ohnehin nach Treveris bringen und dort bei irgendeiner Familie in Obhut geben. Stimmt das nicht?«

»Nun... Das weiß ich nicht.«

»Ihr hättet mich am liebsten gleich in Castra Bonna gelassen, Herr Golo. Ich weiß es... Ich habe Euch einmal belauscht, als Ihr nachts mit Volker gesprochen habt.«

Der junge Ritter stemmte die Hände in die Hüften. »Du hast uns also belauscht...« Er lächelte. »Das hätte ich mir denken können. Ja, es stimmt! Ich war dagegen, dich mitzunehmen, weil ich mir sicher war, daß es auf dieser Reise noch Ärger geben würde. Ich halte es immer noch für falsch, daß du uns begleitest. Du bist nur unnötig in Gefahr.«

»Ihr wolltet mich nicht mitnehmen, weil Ihr Euch Sorgen um mich macht?«

»Also... Im Herbst durch die Wälder zu reiten ist nicht sonderlich angenehm, wie du ja sicherlich auch schon bemerkt hast. Was macht es für einen Sinn, dich all diesen Strapazen auszusetzen, wenn es am Ende doch so sein wird, daß wir dich irgendwo zurücklassen müssen. Dann hätten wir dich auch gleich in Castra Bonna lassen können, wo du Freunde und Verwandte hast. Dieser Meinung bin ich übrigens noch immer!«

»Ich habe dort keine Freunde, und meine Familie... Der Eber hat sie alle getötet.« Sie schloß die Faust fester um das Messer. »Dafür wird er sterben!«

»Willst du ihn zum Duell fordern?« höhnte Golo. »Er hat dich umgebracht, bevor du überhaupt dein Messer gehoben hast.«

Mechthild warf den Kopf zurück, schüttelte sich die Haare aus dem Gesicht und blickte ihn trotzig an. »Ich bin eine Frau. Ich habe es nicht nötig, ihn zum Duell zu fordern. Es gibt noch andere Wege...«

Der junge Ritter mußte lächeln. Sie war recht hübsch. Bis jetzt hatte er sich noch keinerlei Gedanken darüber gemacht. Er hatte Mechthild immer nur als lästigen Ballast auf ihrer Reise gesehen. Doch auch wenn sie für ihr Alter schon recht ansehnlich war, so würden doch noch ein oder zwei Jahre verstreichen müssen, bevor sie sich wirklich eine Frau nennen könnte. »Du willst den Eber also verführen und dann, wenn er in deinen Armen liegt, niederstechen. Du weißt, daß dein erster Stich ihn töten muß, sonst wird er dich umbringen. Er ist stärker als du, und er weiß, wie man tötet. Dein einziger Vorteil ist die Überraschung. Wie würdest du dein Messer denn benutzen? Würdest du es ihm in den Bauch stechen?«

In den Augen der Kleinen spiegelte sich eine tödliche Entschlossenheit. Es wäre ihr egal, ob sie der Anschlag das Leben kostete. Sie wußte, daß sie, selbst wenn es ihr gelang, den Eber zu ermorden, seinen Männern nicht entkommen würde. »Ich werde ihm die Klinge von oben ins Herz stoßen, nachdem er mich genommen hat und erschöpft ist.«

»Vielleicht hast du damit Glück... Wenn du jemanden mit einem Messer töten willst, ist es allerdings immer besser, den Stoß von unten zu führen. Stichst du von oben zu, gleitet die Klinge an den Rippen ab, und du kannst deinen Gegner nicht tödlich verletzen. Es sei denn, er liegt... Dann mag es dir vielleicht gelingen. Aber ein Plan, in dem der eigene Tod von vornherein unvermeidlich ist, ist niemals ein guter Plan. Volker mag darüber vielleicht anders denken... Was mich angeht, bin ich meines Lebens jedenfalls noch nicht überdrüssig.«

»Für dich wäre es leicht, den Eber zu töten, nicht wahr?«

Golo runzelte die Stirn. Worauf wollte sie hinaus? »Ich weiß nicht, ob ich es könnte. Ich habe ihn noch nicht im Zweikampf gesehen. Auf jeden Fall scheint er ein sehr guter Bogenschütze zu sein. Aber mach dir keine falschen Hoffnungen! Ich würde ihn nicht herausfordern, um deine Eltern zu rächen. Es gibt für mich keinen Grund, mit ihm zu kämpfen.«

Mechthild starrte den jungen Ritter lange an. Inzwischen war es völlig dunkel geworden. Golo hob das Reisigbündel auf und winkte ihr. »Komm, laß uns zurück zur Höhle gehen, und vergiß deine Rachegedanken. Es wird dir nicht gelingen, den Eber zu töten.«

Das Mädchen preßte trotzig die Lippen zusammen. »Du hättest mich nach Treveris gebracht, wenn Volker heute im Duell gestorben wäre, nicht wahr?«

Golo nickte knapp. Der Regen war stärker geworden, und er wollte zurück ins Trockene.

»Aber du warst auch von Anfang an dagegen, mich mitzunehmen... Trotzdem wärest du mit mir quer über die Berge bis nach Treveris geritten. Warum? Du hättest mich doch auch einfach in Icorigium zurücklassen können. Was machte den Unterschied für dich?«

Golo zuckte mit den Schultern. »Ich hätte es halt getan. Komm jetzt.«

»Bring mir das Kämpfen bei. Ich möchte eine Schwertkämpferin werden und dann eines Tages vor dem Eber stehen und ihn zum Duell fordern. Sei mein Lehrer!«

Der junge Ritter lachte. »Du bist ein kleines Mädchen... Wo hat man je von einer Frau gehört, die mit dem Schwert umzugehen weiß. Am Ende möchtest du gar eine Ritterin werden?«

»Was ist daran so komisch? Hast du nicht gesehen, daß auch Belliesa ein Schwert an ihrem Sattel hängen hat?«

Golo lachte noch immer. »Es ist eine Sache, ein Schwert zu besitzen, und etwas ganz anderes, damit auch wirklich umgehen zu können. Ich zum Beispiel bin kein sonderlich guter Schwertkämpfer, wenn du mich mit Volker vergleichst.«

»Das ist mir egal. Du hättest mich über die Berge gebracht, obwohl du von Anfang an dagegen warst. Ich vertraue dir... Bring mir das Schwertkämpfen bei, und ich werde bleiben.«

»Ich bin gespannt, ob du noch immer so begierig darauf bist, das Kämpfen zu lernen, wenn du die ersten blauen Flecken abbekommen hast und du vor Schmerzen deine Glieder nicht mehr rühren kannst. Glaub mir, zu kämpfen ist nichts für Frauen.«

»Das heißt, du wirst mir Unterricht geben?«

Golo schüttelte den Kopf. »Sollte mir vielleicht entgangen sein, daß ich dir zugestimmt habe?« Langsam wurde er des Gesprächs überdrüssig. Einen Herzschlag lang dachte er sogar daran, das Mädchen einfach ziehen zu lassen. Doch wie weit würde sie alleine im Wald wohl kommen...

»Bitte! Ich werde mich auch um deine Ausrüstung kümmern, dein Pferd für dich trockenreiben und füttern, deine Waffen putzen und...«

»Schon gut. Morgen früh, wenn du wach wirst, gehst du als erstes in den Wald und besorgst zwei Knüppel, die so lang wie mein Schwert sind. Mit ihnen werden wir üben, wenn Zeit dazu ist. Und jetzt gib endlich Ruhe!«



Volker rieb seine klammen Finger über dem kleinen Feuer, das sie dicht am Eingang der Höhle entzündet hatten, und versuchte, die Kälte aus seinen Knochen zu vertreiben. Während die anderen Feuerholz gesammelt hatten, war er auf die Jagd gegangen. Er hatte gehofft, ein kleines Reh oder wenigstens einen Hasen zu erwischen, doch vergebens. Er war nie ein sonderlich guter Jäger gewesen. Alles, was er zum Abendessen beigetragen hatte, waren ein paar Pilze und Beeren, die er auf dem Rückweg zur Höhle gesammelt hatte.

Ihre Vorräte würden nicht bis Treveris reichen. Belliesa hatte gesagt, daß es zwei Wochen dauern würde, um auf abgelegenen Bergpfaden bis zur Grenzstadt des Burgundenreiches zu gelangen. Wenn er auch weiterhin kein Glück bei der Jagd hatte, würden sie ihre Vorräte in einem der Bergdörfer ergänzen müssen. Damit würden sie den neuen Statthalter in Icorigium auf ihre Spur bringen. Volker war sich sicher, daß die Franken ein Kopfgeld auf ihn und Belliesa aussetzen würden. Für einen armen Bergbauern oder Köhler wäre das gewiß eine große Versuchung...

Volker spürte die Blicke der anderen auf sich. Mechthild hatte die Geschichte vom Erscheinen des Feuervogels in ihrer gemeinsamen Kammer in Castra Bonna erzählt. Sie hatte die Ereignisse reichlich ausgeschmückt... Nachdem sie mit ihrem Bericht zu Ende war, wurde es still in der Höhle. Nur das leise Knacken des Feuers störte die Ruhe. Volker sah auf. Noch immer starrten die anderen ihn an. Offenbar erwarteten sie von ihm, daß er etwas sagte. Er seufzte. Am liebsten wäre er jetzt alleine.

»Dir ist also ein Kopf aus gleißenden Licht erschienen...« Es war die Bardin, die das Schweigen brach. »Welche Nachricht hat er dir gebracht? Offenbar konnte Mechthild nicht verstehen, was er gesagt hat.«

Der Spielmann starrte in die Flammen. Er war es müde, gegen taube Ohren anzureden. Wie oft schon hatte er erzählt, was wirklich geschehen war? Offenbar wollte jeder etwas anderes in der Erscheinung sehen. Sollten sie ihren Willen haben! »Er hat mir gesagt, ich solle in die Berge gehen. Ich bin auf der Suche nach dem Feuervogel. Hier werde ich ihn finden!«

Belliesa legte den Kopf schief und sah ihn eindringlich an. »Der Feuervogel... Was willst du von ihm?«

»Das ist meine Sache!« entgegnete der Spielmann. »Erkläre uns doch lieber einmal, warum du auf dem Scheiterhaufen gestanden hast? Vielleicht bist du ja eine Zauberin...«

Die Bardin lachte. »Wenn es Zauberei ist, stets ein freies Wort zu führen und das Unrecht beim Namen zu nennen, dann habe ich mich wohl dieses Vergehens schuldig gemacht. Ich habe gesehen, wie sich ganze Dörfer in stummer Angst ducken, wie Priester vertrieben oder gar gehenkt wurden, weil sie von ihrem Glauben nicht ablassen wollten, und ich habe von all dem in meinen Liedern gesungen.«

»Bist du Christin?«

»Muß man das sein, um Recht von Unrecht unterscheiden zu können?«

Volker brummte etwas Unverständliches. Ihm gefiel ihre Art nicht. Sie redete mit ihm, als sei er irgendein Bauer. Kaum daß er sie gerettete hatte, fing sie an, Entscheidungen für sie alle zu fällen und die Gruppe zu führen. Er konnte genau spüren, daß die beiden anderen sie mochten. Es wäre besser, wenn sie nicht zu lange mit der Bardin reiten würden. Sie machte ihn unruhig. Wo hatte man je von einer Frau gehört, die allein übers Land reiste und durch ihre Lieder die Adeligen herausforderte. Mit ihr zu reiten konnte nur Unglück bringen! Er hatte sie gerettet. Daraus konnte sie kein Recht ableiten, mit ihnen zusammen zu reisen, obwohl sie zugegebenermaßen hübsch war... Der Spielmann betrachtete sie zum ersten Mal genauer. Unter anderen Umständen hätte er vielleicht... Ihre Haut war blaß, und das, obwohl sie vorgab, bei Wind und Wetter durch das Land zu reisen. Sie war klein und zierlich, doch strahlte sie eine schwer in Worte zu fassende Aura von Kraft aus. Wenn sie einem zulächelte, war es einem unmöglich, ihr noch länger böse zu sein. Er konnte sich gut vorstellen, wie die Bauern, Bergleute und Köhler gebannt an ihren Lippen hingen, wenn sie sang.

»Wie bist du den Franken in die Hände gefallen? Hat man dich verraten?«

Ein Holzscheit knickte um und stürzte in die Glut des Feuers. Funken stiegen mit dem Rauch zur Höhlendecke auf. »Ich bin nach Icorigium geritten, um mit dem Statthalter zu sprechen.«

Volker traute seinen Ohren nicht. »Du bist was? War dir nicht klar, daß man dich sucht?«

»Doch. Deshalb bin ich ja auch gekommen. Reiter waren in das Dorf gekommen, in dem ich zuletzt gesungen hatte. Sie haben den Wirt und dessen ganze Familie nach Icorigium verschleppt. Sie sollten hingerichtet werden, weil ich unter ihrem Dache Schutz gefunden hatte. Ich habe mein Leben gegen das ihre getauscht.«

»Hat man sie wirklich ziehen lassen?«

Belliesa nickte. »Ja. Auf seine Art war der Statthalter ein ehrenhafter Mann. Er gehörte zu den Löwen, und er hatte die Weisheit geschaut.«

»Löwen?« Golo legte einen Scheit ins Feuer und blickte zu der Bardin. »Was sind die Löwen? Er trug kein Wappen auf seinem Schild. Nennt Ricchar so seine Garde?«

»Löwen sind Priester, die schon ein weites Stück auf dem Weg zum Licht zurückgelegt haben. Sie kennen viele der Mysterien des Mithras, und wenn sie mit einem anderen Eingeweihten sprechen, so bedienen sie sich einer geheimen Sprache voller rätselhafter Bilder. Statt Frau sagen sie zum Beispiel das Wesen mit dem Löwenkopf, und sie reden von den Schlangenstabträgem oder Raben, wenn sie die Priester des niedrigsten Weihegrades meinen. Sie müssen sich nicht durch feste Mauern vor den Ohren Neugieriger schützen. Man kann ihnen zuhören und wird doch nicht verstehen, wovon sie reden. Doch gerade weil sie um die Macht der Worte wissen, sind sie meine erbittertsten Gegner. Nachdem ich das Lied vom Falken gedichtet hatte, haben sie einen Preis auf meinen Kopf ausgesetzt.«

Volker mochte ihre Art zu erzählen nicht. Offenbar erwartete sie, daß man weiter nachfragte und ihr ihre Geheimnisse abrang. Er würde darauf nicht eingehen. Wenn sie glaubte, sie müsse in Rätseln sprechen...

»Was war das für ein Lied?«

Der Spielmann warf Golo einen finstren Blick zu. Sein Kamerad kroch der Bardin auf den Leim. Sollte er nur sehen, wohin das noch führen würde!

»Ich singe in dem Lied von einem stolzen Fürsten, der zur Jagd ausreitet. Über ihm am blauen Himmel kreist ein prächtiger Falke. Alle Tauben und kleinen Vögel ducken sich ängstlich ins dichte Geäst der Wälder. Doch dann stößt ein Vogel auf Schwingen von Feuer vom Himmel hinab. Sein glühender Schnabel durchbohrt das Herz des stolzen Falken, und der Jäger stürzt tot vor die Füße des Fürsten.« Belliesa lächelte tiefsinnig. »Ricchar hat vor wenigen Wochen seinen Falken auf der Jagd verloren, und ich denke, nicht allein die Löwen haben verstanden, worauf das Lied noch anspielt. Es wird überall dort gesungen, wo man sich nicht vor den Schergen des Fürsten fürchtet, und ich bin überzeugt, von heute an wird es noch einen Grund mehr geben, warum die Löwen dieses Lied hassen.«

Volker begriff. Er schüttelte energisch den Kopf. »Du weißt, daß es anders war! Ein Zufall...«

»War es ein Zufall? Der Statthalter war der Jäger Ricchars. Er sollte mich fangen. Er hielt die Fackel zum Scheiterhaufen schon in der Hand. Alles schien verloren. Dann erschienst du... Wie der Feuervogel kamst du aus dem Nichts. Niemand in Icorigium hatte dich je zuvor gesehen, und du trugst einen flammendroten Umhang. Du hast den Falken gefordert und getötet. Dein Schwert durchbohrte sein Herz...«

»Du weißt, daß es nicht so war. Wo kommst du vor in dem Lied? Und mein Schwert hat auch nicht sein Herz durchbohrt! Das ist alles Unsinn!«

»Kleinigkeiten! Stimmt es nicht, daß dir eine Lichtgestalt in Castra Bonna erschienen ist? Wurdest du nicht in die Berge gerufen, wo du mich gerettet hast? Auch wenn du es nicht wahrhaben willst, Volker, du bist der Feuervogel! Das Symbol des Aufbegehrens gegen den Tyrannen. Deine Geschichte wird in den Bergen von Mund zu Mund gehen und den Menschen neue Hoffnung geben.«

Volker war auf die Beine gesprungen. »Hör auf damit! Erwecke keine Hoffnungen, die nur in Verzweiflung münden werden! Es ist jetzt genug! Ich will nichts mehr davon hören.« Er wollte nicht in diese Sache hineingezogen werden. Für ihn gab es keinen Grund, Ricchar zu bekämpfen. Der Fürst hatte ihn freundlich empfangen, und er war Volker auch nicht als blutdürstiger Tyrann erschienen. Außerdem würde er möglicherweise einen neuen Krieg zwischen Burgund und den Franken heraufbeschwören, wenn er als burgundischer Ritter und Vertrauter König Gunthers mit irgendwelchen rebellischen Bauern in Verbindung gebracht würde. Die Bardin ahnte vermutlich nicht einmal, was sie mit ihren Liedern bewirken mochte. Er würde dafür sorgen, daß sie schwieg und... Belliesa hatte ihre regennasse Tunika abgestreift. Darunter trug sie ein tief ausgeschnittenes Mieder aus rotem Leder, um den Hals aber hing ihr eine geflochtene Schnur, von der ein goldenes Amulett und zwei flammend rote Federn hingen.

»Was ist das?«, stammelte der Spielmann leise. Seine Zunge war wie taub. Die Federn! Es waren dieselben, wie sie der Märchenerzähler am Hof von Burgund als Beweis für die Wahrheit seiner Geschichte vom Feuervogel vorgezeigt hatte.

»Mein Glücksbringer. Ich lege ihn niemals ab.«

»Woher... woher hast du das? Die Federn...«

»Vielleicht habe ich sie ganz in der Nähe des Ortes gefunden, an dem Ricchars Falke aus dem Himmel gestürzt ist?«

»Hast du ihn also auch gesehen? Den Feuervogel... Weißt du, wo er ist?«

»Kann man einer Märchengestalt begegnen?« fragte sie spöttisch. »Du glaubst doch, daß meine Lieder nur erfunden sind. Du bist kein guter Poet, Volker. Dein Blick ist in die Ferne gerichtet, und du siehst nicht, was vor dir steht!«

Der Spielmann verkniff sich eine zynische Antwort. Es war besser, die Bardin nicht zu erzürnen. Offenbar war es tatsächlich kein Zufall, daß das Schicksal es so gefügt hatte, daß ihrer beide Wege sich kreuzten. Sie wußte etwas über den Feuervogel... Und er würde herausfinden, was es war! Vielleicht ließen sich dieser Suche sogar ganz angenehme Seiten abgewinnen. Schließlich war sie schön... Eigenwillig, aber durchaus auch begehrenswert. Volker setzte sein charmantestes Lächeln auf.

»Ich gebe mich im Duell der Worte geschlagen. Wie es scheint, habe ich meine Meisterin gefunden, zumindest für heute abend. Doch vielleicht magst du uns nun ein wenig mit deiner Sangeskunst unterhalten, denn ich bin neugierig, ob deine Stimme von gleichem Liebreiz wie dein Antlitz ist.«

Golo verdrehte die Augen, so als habe man ihm einen fauligen Fisch aufgetischt, doch Belliesa nickte zustimmend. »Du hast recht. Laßt uns das Streitgespräch beenden! Für heute zumindest. Nachdem ihr alle euer Leben riskiert habt, um mich zu retten, solltet ihr zumindest die Lieder kennen, deretwegen man mich zum Tode verurteilt hat.«


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