12. KAPITEL


Ein Schlag hatte ihn am Knie getroffen. Golo riß den Stock herunter, um sich zu verteidigen, und im selben Augenblick traf ihn ein zweiter Streich am rechten Ellenbogen.

Lachend warf er seine Waffe fort und ließ sich rücklings in einen der Heuhafen fallen. »Das war’s. Du hast deinem Meister eine Lektion erteilt. Ich fürchte, ich kann dir von heute an nichts mehr beibringen.«

Mechthild kniete sich neben ihm ins Heu. In den letzten drei Wochen hatten sie sehr viel Zeit miteinander verbracht. Belliesa hatte am Abend, nachdem sie in Treveris angekommen waren, die Stadt verlassen. Die Bardin hatte sich von niemandem verabschiedet. Nicht einmal von Mechthild. Keiner wußte, wohin sie geritten war, doch Golo war sich sicher, daß sie jetzt wieder in den Bergen war. Drei Tage später war Volker nach Worms aufgebrochen. König Gunther hatte den Spielmann an seinen Hof zitiert.

Sein Freund war sich sicher gewesen, daß er nach Treveris zurückkehren würde. Deshalb wollte er nicht, daß Golo ihn begleitete. Der junge Ritter blickte zu Mechthild und lächelte. Er war Volker dankbar, daß er ihm diese Reise erspart hatte. Die vergangenen Wochen mit Mechthild waren sehr schön gewesen. Das Mädchen sprach zwar immer noch kaum ein Wort, doch es war auch nicht mehr nötig, miteinander zu reden. Er hatte gelernt, in ihren Blicken zu lesen.

In ihren Augen stand keine Freude darüber, daß sie ihn besiegt hatte. Sie wußte genau, daß er morgen gehen mußte. Der König hatte Volker befohlen, in die Berge zurückzukehren und den Aufstand gegen Ricchar anzuführen. In der Dämmerung des nächsten Morgens würden sie bei Schwaych die Mosel überqueren... Zwölf Ritter und zwanzig Waffenknechte, die den berühmtesten Kriegsherrn der Franken herausfordern würden.

»Glaubst du vielleicht, ich hätte dich absichtlich gewinnen lassen, weil ich morgen gehen werde?«

Sie nickte.

Golo zog eine Grimasse. »Ich bin enttäuscht, daß du mich so schlecht kennst. Ich bin viel zu ehrgeizig, um freiwillig einen Sieg verschenken zu können und...« Sie sah ihn so traurig an, daß er plötzlich nicht mehr wußte, was er noch sagen sollte. Er hätte niemals gedacht, daß ihm der Abschied so schwerfallen würde. Warum hatte er Volker nicht einfach ziehen lassen? Sein Freund hätte niemals von ihm verlangt, daß er ihn bei diesem aberwitzigen Unternehmen begleitete.

»Weißt du, ich werde dafür sorgen, daß du hier gut untergebracht bist. Du wirst es gut haben am Hof Giselhers. Ich bin sicher, ich kann dir einen Platz unter den Küchenmägden verschaffen. Eine Küche ist ein ausgezeichneter Ort, um dort den Winter zu verbringen. Du kannst mir glauben, daß ich auch lieber dort wäre als in den kalten Bergen. Im Frühjahr werden wir zurückkehren. Weißt du, du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Volker hat immer Glück... An seiner Seite kann mir gar nichts passieren und...«

Mechthild legte ihm ihren Zeigefinger auf die Lippen, und ihr Blick gebot ihm zu schweigen. Mit der anderen Hand begann sie die Verschnürung ihrer Lederweste zu öffnen.

Golo spürte, wie sein Mund plötzlich trocken wurde. Nervös leckte er sich über die Lippen. Auf einmal wußte er nicht mehr, was er tun sollte. Sie war doch noch ein Mädchen! Sicher hatte er manchmal daran gedacht, daß er in ein oder zwei Jahren... Wenn sie eine Frau war! Sie war anders als die anderen, neben denen er bislang gelegen hatte. Auf ihre stumme Art hatte sie ihn besser kennengelernt als irgend jemand zuvor. Vielleicht lag es daran, daß es keine Worte gab, die ihnen im Wege standen. Er wußte genau, daß es ihr egal war, daß er dem Ritterstand angehörte. Und er wußte auch, daß sie niemals einen Gedanken an seine Herkunft aus einem Bauerndorf verschwendete. Für sie war unwichtig, daß er als Unfreier geboren worden war. Sie wollte nur ihn, Golo.

Mechthild streifte die Weste über ihren Kopf und zog den Saum der Tunika aus ihrer Hose. Manche hatten darüber gespottet, daß sie wie Belliesa eine Hose trug, obwohl sie eine Frau war. Einige der Stallburschen hatten sich dafür eine blutige Nase geholt. Wenn sie wütend wurde, war das Mädchen wie eine Wildkatze. Dann fürchtete sie nichts und niemanden. Nicht einmal einen Kerl, der zwei Köpfe größer war und doppelt so schwer wie sie. Ihre Wut verhalf ihr trotzdem zum Sieg.

Sie nahm Golos Hand und legte sie auf ihre linke Brust. Sie war klein und fest. Die Brust eines Mädchens. »Fühlst du? Mein Herz sagt immer nur deinen Namen. Go - lo, Go - lo, Go - lo...«

»Ich...« Glühende Schauer überliefen den Ritter. Alles um ihn herum schien plötzlich wirklicher zu sein, so, als habe sich innerhalb eines Atemzuges die ganze Welt verändert. Wie Donnern klang der Regen, der auf das Dach der Scheune prasselte, und wie die Stimmen fremder Götter das Schnauben der Pferde in den Ställen unter ihnen. Der Duft des Heus schien ihn zu durchdringen. Ein Prickeln lief von seinen Fingerspitzen den ganzen Arm hinauf, als er fühlte, wie sich die Brustwarze des Mädchen erhob. Er keuchte leise. Dann versuchte er sanft, die Hand zurückzuziehen.

»Warum?« Mechthild ließ ihn los. »Wegen der Männer des Ebers, die mich...« Ihr stiegen Tränen in die Augen.

»Nein! Nein, es ist...« Golo wußte nicht, wie er seine Gefühle in Worte fassen sollte. Natürlich begehrte er sie. Und doch... Sie war noch ein Mädchen. Neuer Haß auf den Eber und seine Räuber flammte in ihm auf für das, was sie Mechthild angetan hatten.

Das Mädchen hatte sich auf die Seite gedreht. Golo konnte hören, wie sie leise weinte. Er hätte sich am liebsten geohrfeigt. Warum hatte er sie so verletzen müssen? Es hätte sicher auch einen anderen Weg gegeben. Sie so zu sehen... Er streckte eine Hand nach ihrer Schulter aus, wollte sie sanft zu sich herüberziehen und in den Arm nehmen, um sie zu trösten.

Mit einem Ruck riß sie sich los. Hilflos blickte der junge Ritter zur niedrigen Decke des Heubodens. Seine Glieder schienen ihm schwer wie Stein. Er wollte fortlaufen, doch konnte er Mechthild auch nicht alleine lassen. Er wollte ihr helfen, sie trösten, doch wußte er nicht, wie. Was hatte er falsch gemacht?



Schwaych war nur ein winziger Marktflecken am nördlichen Moselufer. Nahe dem Dorf gab es eine Furt durch den Fluß. Das war der Grund, warum am Ende der schlammigen Straße, die an den niedrigen Gehöften vorbeiführte, ein steinerner Wehrturm stand. Schwarz und drohend hob er sich gegen den dunklen Nachthimmel ab. Von Spitzeln wußte Volker, daß hier zehn Frankenkrieger postiert waren. Der Spielmann blickte die Reiterkolonne entlang, die hinter ihm zum Stillstand gekommen war. Sie waren mehr als dreimal so viele wie die Franken. Zwölf Ritter und zwanzig Waffenknechte. Alle waren wie Straßenräuber oder Waldläufer gekleidet. Sie trugen schmuddelige Lederwämse und abgewetzte Wollhosen, löchrige Stiefel und mit Flicken besetzte Umhänge. Doch ihre Waffen waren neu, und unter den Kleidern der Ritter verbargen sich Kettenhemden. Alles Metall war blank und gut gepflegt. Aus fast zweihundert Männern hatte sich Volker die Besten aussuchen können. Natürlich ritt keiner der berühmten Ritter Burgunds an seiner Seite. Doch das lag nicht daran, daß sie dem Spielmann nicht mit Begeisterung auf diesen Feldzug gefolgt wären. Hagen hatte befürchtet, daß man einen der Recken wiedererkennen würde und sich daraus der Anlaß zu einem regelrechten Krieg zwischen Burgund und dem Frankenreich ergeben mochte. Solange Volker allein war, konnte man jederzeit behaupten, er habe aus eigenem Antrieb einen Aufstand angezettelt. Der Spielmann wußte, daß Gunther nichts unternehmen würde, um ihn zu retten, falls er in Gefangenschaft geriet. Im Gegenteil, der König würde leugnen, je etwas davon gewußt zu haben, was Volker in den Bergen tat. Und doch war der Ritter allein auf seinen Befehl hier.

Eisiger Regen schlug dem Barden ins Gesicht, er zog sich den schweren Wollumhang enger um seine Schultern. Keine Menschenseele zeigte sich bei diesem Wetter auf der Straße. Und falls sie doch von den Dorfbewohnern bemerkt worden waren, so hüteten sich diese, ihre Gesichter in den Türen oder hinter den hölzernen Fensterläden blicken zu lassen.

Der Burgunde hob seinen Arm und machte eine kreisende Bewegung. Die Kolonne fächerte auf. Für den Wachturm bei Schwaych hatte er sich etwas ganz Besonderes einfallen lassen. Dies war der erste Ort, den er von der Tyrannei des Frankengrafen befreite. Es war wichtig, was für Geschichten man sich über diese Tat erzählen würde.

Volker schwang sich aus dem Sattel und holte die kleine Blendlaterne aus seinem Gepäck. Dann kauerte er sich auf den Boden. Mit klammen Fingern kramte er nach Feuerstein und Stahl in dem Lederbeutel an seinem Waffengurt. Er bauschte seinen Umhang auf, so daß er eine Höhle bildete, die das kleine Häufchen aus Birkenrinde und dürren Ästchen, das er auf den Boden geschüttet hatte, vor Wind und Regen schützte. Mit dem Stahl schlug er Funken aus dem Stein. Als ein langer Streifen Birkenrinde Feuer gefangen hatte, nahm er ihn und hielt die flackernde kleine Flamme an den Docht in seiner Blendlaterne, bis das Licht übergesprungen war.

Als er sich aufrichtete, zertrat er den kleinen Funken Glut, der noch im Reisig am Boden glomm und ging auf das Tor des Wachturms zu. Langsam erwärmte sich der hölzerne Griff der Laterne in seiner Linken. Sie war ein feines Stück Handwerksarbeit und der Beweis, daß noch nicht alle Kunstfertigkeit der Römer verlorengegangen war. An drei Seiten war der schlichte Kasten mit Holzwänden verschlossen. Nur nach vorne hin gab es ein bewegliches Brettchen, das man nach oben ziehen konnte, so das alles Licht der Kerze, die im Inneren der Laterne brannte, nach vorne fiel. Um den Kerzenschein noch zu verstärken, hatte man hinter der Flamme eine gewölbte Messingplatte befestigt. Wenn sie poliert war, reflektierte sie noch zusätzlich Licht nach vorne durch die Öffnung der Laterne. Leider verrußte das Messing ständig, so daß man es mindestens einmal am Tag neu polieren mußte.

Der Spielmann verharrte vor der Tür des Turms und blickte zurück. Nur vage konnte er ein paar dunkle Schemen erkennen. Die meisten seiner Krieger schienen wie besprochen ihre Stellungen bezogen zu haben. Volker zog den Dolch aus seinem Gürtel und lächelte bitter. »Für den König«, murmelte er leise, dann klopfte er mit dem Knauf der Waffe gegen das hölzerne Tor.

»Öffnet!« gellte die Stimme des Spielmanns. »Die Hand Gottes ruht wieder auf diesem Ort, und sie wird sich als Faust gegen jeden Heiden erheben!«

Schon nach kurzer Zeit konnte Volker Schritte und andere Geräusche im Inneren des Turmes hören. Für einen Augenblick tauchte ein blasses Gesicht in einer Schießscharte über ihm auf. Der Burgunde wußte, daß es zu dunkel war, um mehr als zehn Schritt weit zu sehen. Der Krieger dort oben würde die wartenden Ritter nicht erblicken können.

Schließlich erklang das leise Scharren eines eisernen Riegels. Das Tor des Turmes öffnete sich. Ein junger Mann, gewappnet mit einem Kettenhemd und einem Helm, auf dem ein Busch zerzauster roter Federn thronte, trat Volker entgegen. Der Franke hielt ein blankes Schwert in der Hand. Sein Gesicht war grimmig, die Lippen zusammengepreßt. Über der Nase zeigte sich eine steile Falte. Es spiegelte sich jene Art von Entschlossenheit in seinen Zügen, mit der man versucht, Angst zu überspielen.

»Bist du von Sinnen, Mann, oder nur betrunken? Du beleidigst den Gaugrafen Ricchar. Geh heim, sonst muß ich dich gefangensetzen und nach Beda schicken, damit der Statthalter dort über dein Schicksal entscheidet.« Hinter dem Rücken des jungen Offiziers drängten sich andere Krieger, die versuchten, einen Blick auf den Verrückten zu erhaschen, der dort vor dem Tor stand.

»Schnallt eure Wehrgehänge ab und ergebt euch! Dann sollt ihr verschont bleiben«, entgegnete der Spielmann mit düsterer Stimme. Er hatte nun dasselbe Gesicht aufgesetzt, mit dem er bei Hof das tragische Ende des Hildebrandsliedes vorzutragen pflegte. Hoffentlich machte der junge Kerl jetzt keinen Fehler! Volker trat ein Stück zur Seite, so daß er nicht mehr unmittelbar im Eingang zum Turm stand.

Der Offizier lächelte verwirrt. »Du drohst mir?«

»Ich bin der Auserwählte und gekommen, um den Schatten zu vertreiben, den der Heidengötze Mithras auf das Land wirft!« Der Burgunde hob den Arm. Das war das vereinbarte Zeichen. Alle seine Krieger waren mit einer Blendlaterne ausgerüstet. Ein Wand aus Licht erhellte die Finsternis.

Erschrocken fuhr der Offizier zurück. Und dann machte er einen Fehler. Er hob sein Schwert, so, als wolle er Volker angreifen. Doch er kam nicht dazu. Ein halbes Dutzend Pfeile durchbohrten seine Brust, und er wurde in den Eingang zurückgeschleudert.

Der Spielmann biß die Zähne zusammen. Dieser Trottel! Das wäre nicht nötig gewesen. Mit einem Satz war der Ritter im Eingang des Turms und zog sein Schwert. Die Frankenkrieger in der Wachstube starrten wie versteinert auf ihren toten Anführer.

»Laßt eure Waffen fallen, zum Henker! Sonst wird es euch wie ihm ergehen!«

Die Soldaten zögerten. Sie schauten Volker an, als stünde ein Teufel, der sich aus der Hölle erhoben hatte, vor ihnen. Hinter dem Spielmann stürmten die ersten burgundischen Ritter das Tor des Turms.

Klirrend fiel ein Schwert zu Boden. Dann ein zweites. Die Franken schnallten ihre Wehrgehänge ab.

»Wir ergeben uns deiner Gnade, Erleuchteter!« Ein großer rothaariger Kerl hatte gesprochen. Er mochte dem Spielmann nicht in die Augen sehen.

»Ich werde euch nicht nach den Taten befragen, die ihr im Dienste des Ketzerfürsten begangen habt. Euch allen sei das Leben geschenkt. Wir werden euch entwaffnen, und dann dürft ihr gehen, um dem Statthalter von Beda zu berichten, der Auserwählte sei zurückgekehrt, um Fürst Ricchar von seinem Thron zu vertreiben!«



Vor ihnen lag Beda, ein großes Kastell, befestigt mit dreizehn mächtigen Rundtürmen. Es wachte über die Straße zwischen Treveris und Colonia. Etwas weniger als zweihundert Schritt lang umschloß eine mächtige ovale Ringmauer den gesamten Ort.

Golo beugte sich im Sattel vor, um die Anlage besser sehen zu können. Es war ein klarer Spätherbsttag. In der letzten Nacht hatte es zum ersten Mal gefroren, und als er am Morgen erwachte, waren die Bäume mit Rauhreif überzogen gewesen. Es war nicht klug, in dieser Jahreszeit Krieg zu führen. Trotzdem hatte ihre kleine Schar in den letzten Tagen reichlich Zulauf erhalten. Es waren vor allem Bauern und Handwerker aus den Dörfern, die sie befreit hatten. Sogar zwei Mönche, die sich seit der Schließung ihres Klosters in den Bergen versteckten, hatten sich ihnen angeschlossen. Durch die beiden wußten sie, daß es überall im Bergland gärte.

Die Bergarbeiter einer Kupfermine nahe Petra Ramae hatten vor ein paar Tagen ihre fränkischen Herren überwältigt und waren angeblich auf dem Weg, um Volkers Rebellenarmee zu verstärken. Auch im nahen Dudeldorf waren die Franken vertrieben worden. Fast jeder der Freiwilligen hatte irgendwo einmal die rote Bardin gesehen, wie die Bergbewohner Belliesa nannten. Ihre Lieder waren in aller Munde, und selbst in den abgelegensten Tälern waren die Geschichten über den Auserwählten des Erzengels Gabriel bekannt.

Doch daß die Menschen ihn anhimmelten, half nicht, all die Probleme zu lösen, die sich daraus ergaben, daß der Spielmann plötzlich die Verantwortung für einen kleinen Heerzug hatte. Sie hatten nicht die Lebensmittel, um all die Freiwilligen zu versorgen. Es fehlte an Wagen und Lasttieren, die der Truppe folgten. Es hatte nicht einmal jeder eine Decke, um sich nachts zu wärmen. Man konnte meinen, die Leute erwarteten, daß Volker Wunder wirkte. Wenn sie durch ein Dorf zogen, verließen die Männer einfach ihre Häuser und schlossen sich ihnen an. Oft nahmen sie dabei nicht einmal das Nötigste mit.

Golo blickte wieder zu der Stadt hinüber. Sie brauchten Beda! Dort gab es genug Lebensmittel und auch Quartiere. Aber wie sollten sie diese Mauern überwinden. Gemeinsam mit den paar Franken, die zu ihnen übergelaufen waren, konnten sie gerade einmal vierzig ausgebildete Krieger stellen. Alle anderen hatten noch nie in ihrem Leben mit einem Schwert gekämpft. Wenn sie auf ernsthafte Gegenwehr stießen, würde es ein Massaker geben.

Volker hatte seine Ritter um sich gesammelt und allen anderen Männern befohlen, sich weit gefächert entlang der Waldränder aufzustellen. Sie sollten Lärm machen und den Eindruck erwecken, daß sich eine ganze Armee in den Wäldern versteckte. Golo glaubte nicht, daß die Franken auf diese Finte hereinfallen würden. Vielleicht war die Garnison sogar stark genug, um einen Ausfall zu wagen und dem Aufstand ein Ende zu bereiten.

Besorgt sah er zu den Waffenknechten bei den Maultieren. Ganz besonders einer unter ihnen lag ihm am Herzen. Der einundzwanzigste. Von den Rittern hatte keiner bemerkt, daß sie einen Mann mehr im Troß hatten. Volker war viel zu beschäftigt, um auch nur auf die Idee zu kommen, seine Krieger zu zählen, und die Fußsoldaten hatte Golo mit seinem restlichen Geld bestochen, damit sie schwiegen. Doch nicht einmal sie wußten, wer sich unter der roten Gugel wirklich verbarg.

Das Tor von Beda wurde geöffnet. Volker und seine Ritter verschwanden in der Stadt. Der letzte von ihnen gab ein Zeichen. Sie sollten mit allen Kräften auf die Stadt vorrücken! Was mochte das bedeuten? Wollte der Kommandant der Garnison verhandeln? Hatten vielleicht ein paar Bürger, die auf Seiten der Rebellen standen, das Tor besetzt und geöffnet? Oder war das Ganze am Ende eine Falle?

Noch immer standen die Flügel des hohen Tores weit offen. Von den Rittern war nichts mehr zu sehen. Golo kaute nervös an seiner Unterlippe. Er führte das Kommando über die zurückgebliebenen Truppen. Was sollte er nur tun? Er haßte es, für andere Entscheidungen treffen zu müssen.

»Fünf Waffenknechte bleiben beim Troß! Alle Freiwilligen, die in den letzten zwei Tagen zu uns gestoßen sind, bleiben ebenfalls hier. Der Rest folgt mir!«

In einer langen Kette traten die Rebellen aus dem Wald. Es waren weniger als fünfzig Mann. Wenn das eine Falle war, dann offenbarte sich den Franken in Beda nun die ganze Erbärmlichkeit der Rebellenarmee! Die meisten Krieger waren schlecht bewaffnet, und ihre Kleidung war nicht wintertauglich. Ein Drittel der Streiter besaß nicht einmal richtiges Schuhwerk.

Auch der Waffenknecht mit der roten Gugel hatte sich den Vorrückenden angeschlossen. Er hatte es gewußt! Golo wendete sein Pferd und ritt auf den Mann zu. »Zurück mit dir zum Troß! Noch ist der Tag der ersten Schlacht für dich nicht gekommen!«

Zwei grüne Augen funkelten ihn aus einem rußverschmierten Gesicht böse an. Wortlos drehte sich der Krieger um und ging zum Waldrand zurück.

»Wird es eine Schlacht geben?« fragte ein mit einer Heugabel bewaffneter junger Bursche. Auch wenn er entschlossen mit beiden Fäusten seine Waffe umklammerte, war er leichenblaß. »Die Franken haben uns doch die Tore geöffnet.«

»Vielleicht müssen wir noch ihre Garnison ausräuchern. Nichts Ernstes.« Golo gab seiner Stute die Sporen und setzte sich an die Spitze seiner Truppe. Er haßte es, die jungen Kerle zu belügen. Doch es wäre falsch, ihnen zu sagen, daß auch er. Angst hatte. Wo steckten nur die Ritter? Warum war keiner von ihnen zurückgekehrt, um Bericht zu erstatten. Golo begann leise zu beten. Er würde mit Freuden drei Jahre seines Lebens geben, wenn er dafür nur wüßte, was hinter den Mauern vor sich ging. Hätte er nur nicht für all die anderen zu entscheiden!

»Alles halt!« Noch waren sie außerhalb der Bogenreichweite. Falls sich Schützen hinter den Zinnen verbargen, konnten sie seine Männer nicht treffen. »Ich reite vor. Ihr wartet, bis ich unter dem Stadttor erscheine und euch ein Zeichen gebe, mir zu folgen.«

Die Krieger und Bauern schauten ihn verwirrt an. Offenbar war bis jetzt noch keinem von ihnen der Gedanke gekommen, daß sie möglicherweise geradewegs in eine Falle marschierten. Das hatte sich nun geändert. Von jetzt an hatten sie Angst. Er war ein lausiger Anführer! Er hätte einen Scherz machen sollen. Etwa, daß er vorreiten wolle, um zu sehen, ob noch genug Met für alle da sei. Beda war berühmt für seinen Met. Aber nein, er schaffte es, statt dessen seinen Kriegern den Mut zu nehmen.

Golo gab seiner Stute die Sporen und galoppierte zum Stadttor. Er hielt seinen Langschild schräg vor der Brust. Zehn Schritt vor den Mauern zog er sein Schwert. Aus der Stadt ertönte Lärmen. Es klang nicht wie eine Schlacht...

Unter dem Tor zügelte Golo sein Pferd. Die Hauptstraße lief pfeilgerade durch die Stadt. Nach etwa hundert Schritt traf sie auf einen Marktplatz, wo sich viele Menschen drängten. Der junge Ritter konnte einige Pferde erkennen. Die Reiter jedoch waren verschwunden. Nirgends waren Soldaten zu sehen.

»Heho, Ritter! Wo bleiben deine Kameraden?« Ein dicklicher Mann in mittleren Jahren, der eine fleckige Lederschürze umgebunden hatte, kam die steinerne Treppe heruntergelaufen, die direkt neben dem Tor zur Stadtmauer hinaufführte. Er hielt Golo ein großes Methorn entgegen und schob mit der anderen Hand die flache Lederkappe zurück, die ihm in die Stirn gerutscht war.

»Komm, trink, Freund! Auf unseren Sieg!«

Golo blickte den Mann verwirrt an. »Sieg?«

»Ja, Kerl! Der Auserwählte hat es geschafft, die Stadt ohne einen einzigen Schwertstreich zu erobern. Gott liebt ihn! Als der Statthalter der Heiden hörte, daß eure Armee in Richtung Beda marschiert, hat er sich schleunigst mit all seinen Truppen aus dem Staube gemacht!«

Golo musterte den Mann mißtrauisch. Das war die mit Abstand dreisteste Lügengeschichte, die er seit langem gehört hatte! »Er ist also einfach so abgezogen?«

»Ja, er hat nicht einmal die Zeit gehabt, die Lagerhäuser zu räumen. Die Franken sind kurz vor Morgengrauen Hals über Kopf aus der Stadt geflohen.«

»Und wo ist der Auserwählte jetzt?«

»Er ist mit seinen Rittern zum Praetorium. Wir feiern dort unsere Befreiung von den Franken. Wahrscheinlich inspiziert er schon eure Quartiere. Das Lager war früher zwar einmal sehr groß, zu Zeiten der Römer konnten dort sechshundert Krieger untergebracht werden, doch für euch wird es nicht reichen... Aber in den Wachräumen der Türme kann man auch noch Schlafplätze herrichten und die restlichen Männer werden wir gerne in unseren eigenen Häusern bewirten. Wann kommt die Armee eigentlich? Ich habe dich von der Mauer aus mit der Vorhut gesehen. Sind die anderen tausend noch im Wald?«

Golo schluckte. Tausend Mann! Das mußte eine der Geschichten Belliesas sein. Er durfte jetzt nichts Falsches sagen. Golo reckte den Hals und blickte noch einmal zum Marktplatz hinauf. Jetzt konnte er einen der burgundischen Ritter erkennen. Ein paar Kerle hatten ihn auf ihre Schultern gehoben und ihm ein Methorn in die Hand gedrückt. Das war keine Falle. Bei allen Heiligen! Sie hatten die Stadt!

»Mann, was ist mit dir? Du schaust ja drein, als hättest du gerade die Jungfrau Maria gesehen.« Der Brauer nahm einen tiefen Schluck aus seinem Horn und seufzte. »Endlich darf man den Namen Maria wieder in den Mund nehmen, ohne Angst zu haben, daß die Franken einen dafür in den Kerker werfen. Wir müssen zur Kirche! Es ist höchste Zeit, den ganzen heidnischen Stierplunder herauszuwerfen, den die Franken dort aufgestellt haben. Oder wollt ihr das lieber tun? Gehört das zu eurem Triumph, Ritter? Sollen wir warten, bis die ganze Armee da ist, um dann vor aller Augen das Mithrasbild von der Stadtmauer zu stoßen. Das macht sich sicher gut!«

»Ähm... tut das nur ruhig jetzt schon. Die Armee... ähm Volker hat beschlossen, sie auf die eroberten Dörfer und Städte aufzuteilen. Wegen des Nachschubs... Damit alle versorgt und untergebracht sind.«

»Wie? Ihr seid alle?« Der Mann glotzte ihn an wie eine Kuh. Dann begann er schallend zu lachen. »Das ist ein Zeichen! Der Auserwählte wird wahrlich von Gott selbst geführt. Kommt mit einer Handvoll Männer und vertreibt eine Garnison von fast hundert bis an die Zähne bewaffneter Franken.«

Golo nickte. »Ja, ein Wunder.« Im stillen aber fragte er sich, wie lange das gutgehen mochte. Es schien, als wolle keiner die Wahrheit sehen. Keinen Atemzug hatte der Mann überlegt, ob er ihn vielleicht belog. Statt nachzudenken, war er sofort mit einer neuen Geschichte über den Auserwählten bei der Hand. Was sie sich über den heutigen Tag wohl erzählen würden. In dem Lied, das Belliesa dazu dichten mochte, würde sich alles sicher wie eine außergewöhnliche Heldentat anhören. Wo die Bardin wohl steckte?


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