18. KAPITEL


»Wir können nicht mehr länger warten. Sie brauchen höchstens noch zwei Tage, um fertig zu werden.«

Volker lehnte an einer der rauhen Wände und beobachtete die Männer, die sich im Turm des Ebers versammelt hatten. Belliesa hatte zu ihnen gesprochen, und die meisten der Krieger nickten zustimmend. Seit der Schlacht vor Icorigium war sie im Kriegsrat. Mit ihren Liedern hatte sie den Verzagten ihren Mut zurückgegeben, und jeder der Männer hatte sie dort auch kämpfen sehen. So wie die Morrigan, die heidnische Fürstin aus den Sümpfen Aquitaniens, so wurde auch Belliesa von den Kriegern als ihresgleichen akzeptiert.

»Und was schlägst du vor?« fragte Rother. Der burgundische Ritter gehörte zu den wenigen, die sich mit der Rolle der Bardin nicht abfinden mochten. In allen Treffen des Kriegsrates hatte er bisher gegen sie gesprochen, wobei Volker manchmal den Eindruck hatte, daß es dem Ritter gar nicht um die Sache ging, sondern allein darum, Belliesa zu widersprechen.

Der Spielmann schmunzelte. So hatte schon manche Liebesgeschichte angefangen. Doch dafür würde ihnen wohl nicht mehr die Zeit bleiben. Ricchar hatte sie wieder einmal überrascht. Nur drei Tage nachdem sie das Festungsdorf erreicht hatten, erschien er mit einer Armee aus fast achthundert Kriegern vor dem Hügel. Die fränkischen Soldaten hatten alle Wege zum Dorf abgeriegelt und schon am ersten Tag mit Vorbereitungen zum Bau von Belagerungsmaschinen begonnen.

»Was hast du vor? Willst du hinuntergehen und sie mit einem kecken Augenaufschlag fragen, ob sie dir ein paar Fackeln leihen, um die Katapulte in Brand zu setzen«, höhnte Rother. »Sie sind mehr als viermal so viele wie wir. Wenn wir uns hinter den Wällen hervorwagen, sind wir erledigt.«

»Wenn wir hier oben sitzen bleiben, sind wir das auch«, entgegnete die Bardin ruhig. »Mag es sein, daß Ihr Angst vor einem Kampf habt, Herr Ritter«, fügte sie spitz hinzu.

Der Eber lachte lauthals. »Sei nicht so streng mit ihm. Er ist doch nur ein Ritter. Bisher war er es gewohnt, daß man sich aus einem Kampf mit einem Lösegeld freikaufen kann. Jede Nacht, wenn er daran denkt, daß hier nicht mehr die netten Regeln wie sonst unter den Adeligen gelten, scheißt er sich vor Angst ins Kettenhemd.«

Rothers Hand fuhr zu dem Dolch an seinem Gürtel. »Das wirst du mir büßen, dreckiger Halsabschneider.«

»Genug!« Volker trat in die Mitte der Turmkammer. »Wenn einer von euch seinen Mut kühlen muß, gibt es draußen ein ganzes Heer von Franken. Daß ihr euch untereinander an die Kehle geht, werde ich nicht dulden! Belliesa, Eber, ihr beide werdet mit mir zusammen den Angriff anführen. Was dich angeht, Rother, du bleibst zurück. Wir brauchen einen erfahrenen Krieger hier oben, falls uns der Rückweg abgeschnitten wird.«

Der Ritter ballte die Fäuste. Schließlich nickte er. »Wie Ihr befehlt, Auserwählter

Volker warf ihm einen wütenden Blick zu. Der Spielmann haßte es, wenn man ihn mit dem Titel anredete, den die Bardin erfunden hatte. Rother wußte das genau.

»Wir werden zwei Stunden vor Morgengrauen angreifen. Das ist die Zeit, in der die Wachen am unaufmerksamsten sind. Hundert Krieger will ich für den Ausfall haben. Wählt die besten unter euren Männern aus und sorgt dafür, daß sie reichlich Fackeln mit sich führen. Es sollen auch zwei Dutzend Männer mit Äxten bewaffnet sein; für den Fall, daß das Holz nicht brennt, werden wir die Katapulte zerschlagen.« Volker blickte in die Runde. »Gibt es noch Fragen?«

Der Eber räusperte sich. »Wo wollen wir die Hügelflanke hinab?«

»Warum ist das von Belang? Wir klettern die Palisade hinab und nehmen den kürzesten Weg.«

»Ich fürchte, dann haben wir ein Problem.«

Der Spielmann sah den Gesetzlosen fragend an. »Was soll das heißen?«

»Es gibt ringsherum an der Hügelflanke Fallgruben mit angespitzten Eichenpflöcken. Wer den Weg zum Dorf verläßt, ist in Lebensgefahr. Ich wollte warten, bis die Franken den ersten Angriff machen, dann hätte ich es euch gesagt. Ich...«

Volker erinnerte sich an den Herbsttag, an dem er zum ersten Mal in das Dorf kam. Damals war ihm aufgefallen, daß die Weiden auf dem Hügel seltsam ungleichmäßig abgefressen waren, so als hindere man das Vieh daran, an bestimmten Stellen zu grasen. Er sah zum Eber hinüber. »Gibt es sonst noch etwas, was wir wissen sollten?«

Der Gesetzlose schüttelte den Kopf. »Nein. Wenn meine Männer die Führung übernehmen, dann besteht keine Gefahr. Die anderen müssen nur genau in der Spur laufen, die sie im Schnee hinterlassen.«

Volker blickte in die Runde. »Sagt das euren Kriegern. Wenn wir uns nicht über die Hügelflanke auffächern können, wird der Rückzug vielleicht ein Problem. Eber, du bleibst mit deinen besten Bogenschützen auf den Wällen. Wenn wir zurückkommen, werden uns sicher die Franken an den Fersen hängen. Sorge dafür, das sie den gebührenden Abstand halten.«

Der Gesetzlose grinste breit. »Es wird mir ein Vergnügen sein.«

»Schön. Was das Eindringen in das Lager der Franken angeht, habe ich eine Idee. Mit ein wenig Glück werden wir sie überrumpeln und ohne Verluste bis zu den Katapulten gelangen. Wir werden folgendes tun...«



Volker rieb sich das Kinn. Er hatte den Riemen des Offiziershelms zu straff gespannt. Um sich dem Lager der Franken nicht aus Richtung des Bergdorfes zu nähern, hatte er mit seinen Männern einen weiten Umweg gemacht. Die hundert Mann, die für den Überfall ausgewählt worden waren, hatten allesamt fränkische Ausrüstung erhalten, die beim Gefecht am Totenmaar erbeutet worden war.

Volker trug als Zeichen seiner Offizierswürde einen goldverzierten Spangenhelm mit einem prächtigen weißen Pferdeschweif. Der Wind wehte ihm das lange Roßhaar ins Gesicht. Er fluchte.

Sie waren fast am Tor des Frankenlagers angelangt. Ricchar hatte die Stellung seiner Truppen mit einem niedrigen Wall umgeben, der zusätzlich mit angespitzten Baumstämmen gesichert war.

Plötzlich stand wie aus dem Nichts ein Krieger vor dem Spielmann. Es war junger Mann mit rotem Gesicht, den seine reich geschmückten Waffen als einen Adligen auswiesen. »Wer seid ihr?«

Volker schätzte, daß der Wachoffizier in der Hierarchie unter ihm stehen mußte. Doch um seinen Rang noch zu unterstreichen, spielte er mit dem erbeuteten Löwenring, den er am Finger trug. Belliesa hatte ihm erklärt, daß ihn der Ring als einen hochrangigen Geweihten des Mithraskultes ausweisen würde. »Das geht dich nichts an!« entgegnete Volker in arrogantem Tonfall.

»Wartet, Herr«, sagte der Wachhabende nun schon etwas versöhnlicher. »Nimm freundlich auf die weihrauchverbrennenden Löwen und ihr Element, das Feuer, durch welches wir Weihrauch spenden, durch welches wir auch selbst verzehrt werden.« Der Mann hob seine Linke und zeigte dem Spielmann einen Ring, der mit einem Skorpion geschmückt war. Der Burgunde nickte und betete stumm darum, daß sein Gegenüber auf diese rituelle Begrüßung keine entsprechende Antwort erwartete. Daß der Krieger ihn als Flammenbringer willkommen hieß, war schon geradezu unheimlich.

»Entschuldigt, wenn ich Euch frage, Leo, doch woher kommt Ihr? Mir hat niemand gesagt, daß wir in dieser Nacht noch Verstärkungen erwarten.« Dem jungen Krieger stand das Mißtrauen förmlich ins Gesicht geschrieben.

»Nun, da ich mich zum Morgengrauen bei unserem Feldherren melden soll, wäre ich dir sehr verbunden, wenn du mir erklären könntest, wie ich das bewerkstelligen soll, wenn du mich nicht ins Lager läßt. Meine Männer sind die ganze Nacht hindurch marschiert, und du machst dir keine Freunde, wenn du sie hier in der Kälte warten läßt.«

»Aber in der Offiziersbesprechung hat niemand...« Volker bemerkte, wie sich seitlich des Lagertors einige Schatten bewegten. Ganz offensichtlich war der Krieger nicht allein. Er mußte nun schnell handeln, bevor das Geschehen am Tor zu viel Aufsehen erregte.

»Schön«, unterbrach der Spielmann den Franken barsch. »Da du mich nicht hereinlassen willst, werde ich also die Order unseres Feldherren ignorieren und mit meinen Männern hier warten. Falls Fürst Ricchar mich nach den Gründen fragt, wie heißt du auch gleich?«

»Gerwech, vom zweiten Horn der Tauren aus Castra Bonna«, erwiderte der Offizier und nahm Habachtstellung ein. »Ich bin sicher, daß es nicht nötig sein wird, meinen Namen zu erwähnen. Offensichtlich hat es einen Irrtum bei den Befehlen gegeben.«

»Offensichtlich«, brummte der Spielmann. »Wo finde ich die Katapulte. Ich hatte Anweisung, dort mein Lager aufzuschlagen, weil meine Männer erfahren im Umgang mit Geschützen sind.«

»Am östlichen Ende des Lagers, Leo. Direkt am Fuß des Hügels!«

»Gut. Ich werde deinen Namen wieder vergessen, Gerwech. Dein Mißtrauen zeichnet dich als einen guten Offizier aus. Wenn dir falsche Befehle übermittelt wurden, ist das nicht deine Schuld.«

»Danke, Herr.«

Volker wandte sich um und gab seinen Männern einen Wink. »Vorwärts!« An der Spitze der Kolonne marschierte er durch das Tor.

Das Feldlager der Franken war so symmetrisch wie eine römische Stadt aufgebaut. Es gab vier Tore und zwei Hauptstraßen, die einander kreuzten, und in der Mitte des Lagers standen die Zelte des Feldherren und seiner höchsten Offiziere. Vor einem langen Zelt war eine ganze Reihe von Standarten aufgestellt. In seinem Inneren glomm der rote Schein von Kohlenbecken. Das mußte das Quartier von Ricchar sein. Für einige Herzschläge überlegte Volker, ob er nicht einfach in die Mitte des Feldlagers marschieren sollte, das Fürstenzelt niederreißen und Ricchar ermorden. Damit wäre der Krieg zu Ende. Doch was war, wenn der Fürst nicht schlief. Er wußte, daß in dieser Nacht keine Verstärkung mehr ankommen sollte. Vielleicht war Ricchar auch in einem der anderen Offizierszelte. Der Spielmann schüttelte den Kopf. Das Risiko war zu groß. Er sollte sich besser auf seinen ursprünglichen Plan besinnen. Wenn es ihnen nicht gelang, die Katapulte zu zerstören, dann war die Zerstörung des Bergdorfes schon so gut wie besiegelt.

»Abteilung links schwenkt!« Volker wies auf eine Gasse zwischen zwei Zeltreihen. Es war besser, dem Praetorium mit den Offizierszelten nicht zu nahe zu kommen. Man würde noch früh genug auf sie aufmerksam werden. Spätestens wenn die Katapulte in Flammen aufgingen. Um sicherzustellen, daß das Holz gut brennen würde, hatte er seine Männer zwei Fäßchen mit Lampenöl mitbringen lassen. Bis jetzt ging alles gut. Gefährlich würde es erst, wenn sie versuchten, den Hang hinaufzukommen und ihnen die halbe fränkische Armee dabei im Nacken saß.



Die Flammen fraßen hinter ihm die Nacht. Keuchend rannte Golo den Hügel zum Dorf hinauf. Neben ihm hechelten seine Kameraden. Von den brennenden Katapulten her ertönte das Geschrei der Franken. Deutlich konnte Golo die Stimme eines Offiziers hören, der seine Truppen zum Gegenangriff sammelte. Verfluchter Krieg! Wäre er nur in Treveris geblieben! Volker war irgendwo zwischen den huschenden Schatten. Wenn ihn, Golo, jetzt ein Pfeil traf, dann würde es der Spielmann gar nicht bemerken. Jeder starb für sich allein.

Der junge Ritter keuchte. Es war besser, in dieser Lage nicht an den Tod zu denken. Vielleicht würde der Sensenmann sonst noch auf ihn aufmerksam. Hoffentlich sahen die Bogenschützen, wohin sie schossen. Wie besprochen, waren die meisten Männer des Ebers auf dem Wall zurückgeblieben, um ihnen Deckung zu geben. Salve auf Salve schossen sie in die Finsternis. Surrend zogen die Pfeile kaum mehr als zwei oder drei Handbreit über ihre Köpfe hinweg.

Golo dachte an die Warnungen des Ebers. Sie mußten genau in den Spuren bleiben. Wenn er den vorgegebenen Weg verließ, würde er in eine der Fallgruben stürzen, mit denen die Hügelflanke gespickt war. Der Burgunde blickte zurück. Die Franken hatten sich gesammelt und folgten ihnen. Vor den hellen Flammen konnte er nur unförmige Schatten erkennen. Die großen Rundschilde ließen die Schemen so aussehen, als hätten sie riesige aufgedunsene Leiber, ganz wie Kreaturen, die aus den Schlünden der Hölle emporgestiegen waren.

Die Schritte des jungen Ritters wurden schwerer. Erschrocken blickte er zu Boden. Er hätte nicht zurücksehen dürfen! Die Spur! Er hatte sie verlassen. Ein Stück vor ihm rannte noch ein Mann, der den Weg im Schnee verloren hatte. Unentschlossen blickte Golo den Hang hinab. Er müßte nur ein paar Schritt zurück, doch das hieße, den Franken entgegenzulaufen oder, schlimmer noch, von den eigenen Bogenschützen für einen Feind gehalten zu werden.

Golo lief quer zum Hang, bis er die Spur des anderen erreichte. Wieder sah er über seine Schulter, doch diesmal blieb er einen Augenblick lang stehen. Die Franken waren schon verdammt nahe. Zwanzig Schritt noch, und sie hätten ihn erreicht. Auch ihre Bogenschützen waren inzwischen alarmiert. Pfeile flogen den Hügel hinauf. Es war vielleicht ganz gut, nicht mit dem großen Pulk von Kriegern zu laufen. Ein Schrei riß Golo aus seinen Gedanken. Der Mann vor ihm war verschwunden. Ein dunkles Loch klaffte im Schnee. Verdammt! Jetzt war er auf sich allein gestellt.

Die Schreie hinter ihm kamen immer näher. Wenn er zu dem Wallabschnitt wollte, an dem die Leitern lehnten, auf denen sie hochsteigen sollten, würde er nur ein paar Herzschläge vor Ricchars Kriegern ankommen. Immer vorausgesetzt, er geriet nicht in eine der Fallgruben und die Männer auf den Wällen zogen nicht vorzeitig die Leiter hoch.

Ihm wurde klar, daß er es nicht mehr schaffen würde. Das dunkle Loch im Schnee zog seine Blicke an. Wie ein Grab klaffte es am Hügelhang. Es würde ihm Deckung geben. Golo folgte weiter der Spur des Mannes, den die Erde verschlungen hatte. Zwei Schritt vor dem Loch warf er sich in den Schnee und kroch vorsichtig auf den Rand zu. Er spürte, wie etwas unter seinen Händen nachgab. Erschrocken zuckte er zurück. Schnee glitt in die Grube hinab. Die letzten Reste des Geflechts aus dünnen Weidenruten, unter dem die Falle verborgen gewesen war, rutschten hinab. Undeutlich konnte der junge Ritter die Pfähle am Boden erkennen. Die Schreie hinter ihm waren jetzt ganz nahe.

Vorsichtig ließ er sich über den Rand gleiten. Auf dem Schnee fand er keinen Halt. Mit einem Rutsch war er unten und stieß seitlich an einen der zugespitzten Pfähle. Der andere hatte weniger Glück gehabt. Zwei abgebrochene Holzpflöcke ragten aus seiner Brust. Er mußte mitten über der Grube gewesen sein, als die Weidenruten unter seinem Gewicht nachgegeben hatten.

Brandpfeile zogen hoch über ihm durch den nächtlichen Himmel. Golo fluchte. Die Franken schienen sich zu einem massiven Gegenangriff entschlossen zu haben.

Der Burgunde mustert die Fallgrube. Sein Kamerad hatte Pech gehabt. Nur in der Mitte standen angespitzte Pflöcke. Wer sich von den Rändern hineingleiten ließ, so, wie er es getan hatte, war nicht in Gefahr. Die Grube war groß. Fast zwei Schritt lang und nur wenig schmaler. Wie ein Grab. Überall auf dem Boden lagen zerbrochene Äste, die wie dunkle Rippen aus dem Schnee emporragten. Die Ränder der Grube waren nicht sehr steil. Es würde leicht sein, wieder aus ihr herauszusteigen.

Der Schnee oben knirschte unter Schritten. Das leise Klappern von Waffen ertönte. Golo spürte, wie sich etwas eisig in ihm zusammenzog, so, als seien plötzlich seine Gedärme gefroren. Er ließ sich zusammengekrümmt in den Schnee fallen. Dicht unterhalb des Randes der Grube schlug ein Pfeil ein. Aus den Augenwinkeln sah er für einen Herzschlag lang Füße über ihm durch den Nachthimmel gleiten. Der erste Trupp der Angreifer. Die Schritte entfernen sich. Das Keuchen verebbte. Doch was war, wenn noch mehr kamen? Was, wenn einer von ihnen in die Grube sprang, um vor den Pfeilen der Bogenschützen des Ebers Deckung zu suchen? Seine klammen Finger tasteten nach dem Dolch in seinem Gürtel. Zitternd zog er ihn hinaus und verbarg ihn neben sich im Schnee. Wenn jemand in die Falle sprang, würde er sofort auf ihn einstechen. Ja, er würde ihm die Kehle durchstoßen, damit er nicht schreien konnte! Es ging nicht anders! Der erste Augenblick war entscheidend. Der andere würde sicher nicht damit rechnen, hier unten angegriffen zu werden. Er durfte nicht zögern, dachte Golo. Nur nicht abwarten und dem anderen in die Augen sehen. Er durfte dem Franken keine Gelegenheit geben, über ihn herzufallen.

Der junge Ritter hob den Kopf aus dem Schnee, um besser lauschen zu können. Von den Wällen des Bergdorfes erklang Schlachtlärm. Die Schreie der Verwundeten und Sterbenden. Das dumpfe Geräusch von Waffen, die auf hölzerne Schilde schlugen. Hin und wieder auch das helle Klingen von Stahl, wenn zwei Schwerter aufeinandertrafen. Plötzlich ertönte ein Hornsignal. Noch waren die Wälle des Dorfes gut bemannt, und der Mut der Verteidiger war ungebrochen. Die Franken mußten sich zurückziehen.

Golo ließ sich wieder in den Schnee sinken. Gespannt bis zum Äußersten lauschte er auf die Geräusche in der Finsternis. Das Klappern, das Knirschen und Schleichen kam näher. Ein einzelner Schrei gellte durch die Nacht. Die Bogenschützen des Ebers!

Unmittelbar neben der Grube hasteten Schritte vorbei. Leises Fluchen und Keuchen war zu hören. Die ersten waren vorbei! Ein paar Herzschläge später kamen noch mehr. Dann herrschte wieder Ruhe. Gerade als Golo sein Gesicht aus dem Schnee hob, polterte es. Ein Schatten rutschte in die Grube, strauchelte und fiel auf den jungen Ritter.

Golos Hand verkrampfte sich um den Dolch. Ohne zu denken, in blinder Panik, stieß er zu. Er spürte, wie der Körper beim zweiten Stich weich wurde und in sich zusammensackte. Seine Hand war klebrig und naß. Als er wieder zu sich kam, starrte er auf seine Hand. Das Blut sah in der Finsternis dunkel aus, fast schwarz.

Der andere röchelte. Noch immer raste dem Burgunden das Blut durch die Adern. Es dröhnte wie ferner Donner in seinen Ohren. Sein Atem ging keuchend. Das Röcheln des Franken erschien dem Ritter unnatürlich laut. Er mußte ihm den Mund zuhalten, Schnee hineinstopfen, damit die anderen ihn nicht hörten. Der Kerl sollte still sein! Voller Haß starrte er in das blasse Gesicht. Warum mußte sich der Idiot ausgerechnet in diese Grube werfen? Hätte er nicht ein paar Schritt weiter rechts den Hang hinunterlaufen können?

Müde robbte Golo in die entgegengesetzte Ecke der Fallgrube. Er wollte den Franken nicht sehen. Den Dolch schob er in seinen Gürtel zurück. Wenn er sich rührt, werde ich ihn töten, dachte der Ritter. Aber er wird nichts mehr tun, das hört man schon an seinem Röcheln. Dieses Röcheln... Der Burgunde blickte zum Rand der Grube. Er mußte hier heraus! Der Himmel war schon ein wenig heller geworden. Nicht mehr lange, und es war zu spät. Sobald die Bogenschützen besser sehen konnten, war es Wahnsinn, sich auf der Hügelflanke zu zeigen. In seiner schneeverkrusteten Felljacke könnte man ihn auch für einen Sachsenkrieger halten. Das fehlte gerade noch, daß seine eigenen Kameraden auf ihn zielten. Doch selbst wenn sie ihn erkannten und nicht beschossen, war er auch noch immer tödlich nah am Lager der Franken. Sie würden gewiß auf alles schießen, was sich am Berghang bewegte. Ob er es noch wagen konnte, über den Rand der Grube zu klettern, oder war es schon zu spät? Gerade nach einem Gefecht waren die Wachen auf beiden Seiten besonders aufmerksam. Wie lange er die Kälte wohl überleben würde, wenn er hier unten in diesem Loch hockte. Es wäre nur für ein paar Stunden hell.

Golos starrte zu dem Toten, der als erster in die Grube gestürzt war. Seine Augen waren weit offen und nach oben verdreht, so, als habe er bei seinem letzten Atemzug etwas am Himmel gesehen. Zu der dunklen Gestalt am anderen Ende des Loches wagte er nicht hinüberzusehen. Rastlos wanderte sein Blick und blieb schließlich an seiner blutigen Hand hängen. Ihm wurde übel. Er streifte die Hand über den Schnee. Als das getrocknete Blut abgewischt war, war sie ganz taub vor Kälte geworden. Wenn es nur schon wieder finster wäre!



Es war heller, grauer Tag. Das Röcheln auf der anderen Seite der Grube tönte fort. Golo steckte sich die Finger in die Ohren, um es nicht mitanhören zu müssen. Doch dann bekam er Angst, daß die Franken vielleicht einen zweiten Angriff wagen würden. Wenn er sie nicht kommen hörte, würde er sich nicht rechtzeitig totstellen können.

Die Gestalt gegenüber bewegte sich. Der junge Ritter zuckte zusammen. So, als stünde er plötzlich unter einem Zauberbann, war es ihm unmöglich, nicht hinüberzusehen. Der Krieger hatte einen hellblonden Vollbart, in dem jetzt Schnee klebte. Sein Kopf war zur Seite gesunken und lehnte auf der linken Schulter. Seine rechte Hand ruhte auf der Brust. Sie war blutverschmiert.

Er ist tot, redete Golo sich ein. Das Röcheln, das ist nur noch sein Körper! Der Burgunde hatte so etwas schon gesehen. Letztes Jahr in Aquitanien. Er dachte an die aufgedunsenen Leichen, die nach der Schlacht hinter den Ringwällen gelegen hatten. So, als furzten die Toten, waren manchmal übelriechende Gase aus ihren Körpern entwichen.

Der Franke versuchte, den Kopf zu heben. Für einen Augenblick wurde sein Keuchen stärker. Dann sank sein Haupt kraftlos auf die Schulter zurück. Golo fluchte leise. Warum konnte der Kerl nicht einfach tot sein? Warum dauerte das so lange!

Vorsichtig rutschte der Ritter ein Stück in Richtung des Sterbenden. Vielleicht konnte er dem Mann ja noch helfen. Auf die Hände gestützt, kroch er langsam durch die Grube. Einmal hielt er inne und wäre fast wieder umgekehrt. Der Weg von nur zwei Schritt schien ihm eine Ewigkeit zu dauern. Als er endlich neben dem Franken anlangte, schlug dieser die Augen auf. Er mußte ihn gehört haben. Sein Körper lag still, aber seine Augen... Sie schrien! All sein Leben schien in ihnen versammelt zu sein, und in ihnen spiegelte sich ein unfaßbares Grauen, so, als sähe er dem Sensenmann ins Angesicht. Und Golo begriff! Er war für den wehrlosen Franken der Tod!

Der junge Ritter wollte die Hände vor sein Gesicht schlagen, doch seine Glieder waren wie gelähmt. »Nein«, stammelte er leise. »Nein.«

Er war durch den Blick des Sterbenden gefangen. Nur für wenige Atemzüge oder für eine Ewigkeit? Der Bann zerbrach, als der Krieger seine Hand auf der Brust bewegte. Sie sank um wenige Zoll tiefer. Golo beugte sich vor. Er hob die Hände, um dem Franken zu zeigen, daß er jetzt unbewaffnet war. Sofort kehrte das Entsetzen in den Blick des Fremden zurück.

»Ich will dir nichts zuleide tun, Kamerad.« Der junge Ritter erschrak vor seiner eigenen Stimme. Sie klang rauh und dunkel. »Hörst du?« Er packte den Franken unter den Achseln und richtete ihn auf, so daß er nun etwas bequemer gegen die Wand der Fallgrube lehnte. Der Kiefer des Kriegers war heruntergeklappt. Er hatte schlechte Zähne. Sein Atem stank.

»Hast du Durst? Bestimmt hast du Durst!« Golo griff in den Schnee und formte zwischen den Fingern eine kleine Kugel. Die schob er in den Mund des Franken.

»Tut mir leid. Ich habe keine Wasserflasche bei mir. Das muß helfen...« Auch er schob sich nun eine Schneekugel in den Mund und lutschte daran. Die Kälte schmerzte an den Zähnen. Doch es tat gut, etwas die Kehle hinunterrinnen zu spüren.

Der Franke hatte Mühe zu schlucken. Seine Hand war jetzt ganz von der Brust gerutscht, so daß Golo die beiden blutigen Löcher im Wams sehen konnte. Der Burgunde wünschte, er könnte etwas tun. Doch selbst wenn er ihn behandeln könnte, müßte er dazu die Kleider aufschneiden, und was nutzte es, wenn man die Blutung stillte und der Mann dafür erfror. Schon jetzt waren die Lippen des Kriegers ganz blau. In kleinen fahlen Wölkchen stand ihm der Atem über dem Mund. Golo hatte den Eindruck, daß sie mit jedem Atemzug unscheinbarer wurden.

Auch ihm selbst machte die Kälte zu schaffen. Längst war sie durch seine Stiefel gekrochen. Die Füße fühlten sich an wie Eisklumpen. Wieder sah er zum Franken herüber. War es die Kälte, die ihn tötete, oder die beiden Dolchstiche? Und was war, wenn die Männer Ricchars noch einmal angriffen und ihn hier zusammen mit ihrem sterbenden Kameraden fanden. Es wäre besser, wenn sie sahen, daß er alles nur Mögliche getan hatte, um das Leben des Mannes zu retten.

Der Tote! Er brauchte keine Kleider mehr. Golo kroch zu dem Leichnam. Der Mann war völlig steif. Das Blut, daß an den Holzpflöcken hinabgelaufen war, war gefroren. Vergeblich mühte der Ritter sich ab, ihm die Pelzweste auszuziehen. Er müßte sie in Stücke schneiden, um sie herunterzubekommen. Schließlich gab Golo auf. Er drückte dem Toten die Augen zu. »Verzeih mir, wenn ich dich bestehle. Es ist nicht für mich.« Mit einem Schnitt durchtrennte er den Kinnriemen der Wolfsfellmütze des Kriegers und zog sie im ab. Dann kroch er wieder zu dem Franken herüber.

Der Mann starrte ihn mit schreckensweiten Augen an. Jetzt erst bemerkte Golo, daß er noch immer den Dolch in Händen hielt. Hastig schob er die Waffe in seinen Gürtel. »Ich will dir nichts tun, Kamerad.« Der Franke schien nicht zu begreifen. Er war unfähig, sich zu bewegen und zu sprechen. Doch das war nicht nötig. Seine Blicke reichten. Golo wagte es nicht, näher zu kommen. Er sah auf die Pelzmütze. »Die ist gut. Sie wird dich ein bißchen warm halten.«

Schließlich setzte der Burgunde sich selbst die Mütze auf und kroch wieder in den entferntesten Winkel der Grube. Wenn es nur endlich wieder dunkel würde!



Endlos langsam wanderte die blasse Sonne über den schmalen Ausschnitt des Himmels, den Golo vom Grund der Grube aus sehen konnte. Das Röcheln des Franken setzte wieder ein. Wie langsam ein Mensch doch starb. Er war nicht mehr zu retten, dessen war sich der Ritter völlig sicher. Man mußte nur seine Hände ansehen. Sie waren krebsrot vor Kälte und die Fingernägel fast schwarz. Er wünschte, der Kerl wäre endlich tot. Das Stöhnen war nicht mehr zu ertragen. Obwohl es langsam leiser wurde, klang es zugleich auch anklagender. Am liebsten hätte er ihn getötet, um endlich seine Ruhe zu haben. Aber er konnte es nicht. Es war ihm unmöglich, hinüberzukriechen und dem Krieger einfach die Kehle durchzuschneiden.

Manchmal legte er dem Sterbenden eine kleine Kugel aus Schnee in den Mund. Für einige Herzschläge verstummte dann das Röcheln. Auch er selbst nahm auf diese Weise Flüssigkeit zu sich, doch es war ein schlechter Weg. Er konnte förmlich spüren, wie das kalte Wasser die Wärme aus seinem Körper sog. Langsam bekam er auch Hunger. Gestern am frühen Abend hatte er zum letzten Mal gegessen. Ein bißchen Hirsebrei und Brot. Was der Franke wohl gegessen hatte? Ob er daran gedacht hatte, daß es seine letzte Mahlzeit sein würde? Gewiß nicht.

Das Gesicht des Franken wirkte wie mit einer dünnen Schicht aus Wachs überzogen. Eiskristalle hatten sich in seinem blonden Bart gebildet. Er war der erste Mensch, den Golo getötet hatte und dem er anschließend beim Sterben zusehen mußte. Was der Krieger wohl getan hätte, wenn er ihn nicht mit dem Dolch angegriffen hätte? Ob er selbst dann jetzt sterbend hier unten läge? Während der Kämpfe in Aquitanien hatte er zwei Krieger erschlagen, und hier in den Bergen waren es schon ein halbes Dutzend. Er konnte sich nicht einmal mehr an die Gesichter seiner Toten erinnern. Doch diesen hier würde er niemals vergessen. Jedes Röcheln war wie ein Dolchstoß. Der Sterbende hatte die Stunden für sich. Die Zeit und die Gedanken. Sie waren wie unsichtbare Messer. Er sollte nicht mehr hinübersehen! Doch die Grube war zu klein. Hier gab es kein Ausweichen! Wieder blickte Golo zum Himmel. Ihm war kalt. Wenn er in der Dunkelheit nicht von hier fortkam, dann würde auch er sterben.

Ganz nahe hörte er das Krächzen von Raben. Sicher machten sich die schwarzen Vögel an den Toten der letzten Nacht zu schaffen.

Das Röcheln des Franken riß Golo aus seinen Gedanken. Er würde viel darum geben, wenn der Krieger überleben würde. Es war schwer, einfach nur dazuliegen und ihm zusehen und zuhören zu müssen. Einmal war der junge Ritter fast so weit, aus der Grube zu klettern. Er hatte sich schon aufgerichtet und streckte die Hände nach dem Rand. Dann jedoch besann er sich eines Bessern. Nur wenige Stunden mußte er noch warten. Wenn in dieser Nacht Wolken vor dem Mond stünden, könnte er gefahrlos bis zu den Wällen kriechen. Er durfte nur nicht vorher einschlafen. Wenn er die Augen schloß, dann würde er nicht mehr aufwachen. Die Kälte würde ihm im Schlaf sein Leben stehlen.

Kurz vor Einbruch der Dämmerung war der Franke tot. Erst war Golo erleichtert, doch dann begann ihm die Totenstille zu schaffen zu machen. Neben den beiden Leichen empfand er es als Unrecht, noch zu leben. Sie belauerten ihn. Waren neidisch auf den letzten Rest von Wärme, der in seinem Leib verblieben war. Golo wünschte, das Röcheln wäre wieder da. Stoßweise, heiser, einmal pfeifend leise, dann wieder heiser und laut.

Er kroch zu dem Toten und schloß ihm die Augen. Er konnte den starren Blick in seine Richtung nicht ertragen. Die Anklage... Der Ritter bürstete sogar die Eiskristalle aus dem Bart des Franken. Ob er wohl ein Weib gehabt hatte und Kinder?

Der Ritter fluchte leise. Diese verdammte Revolte. Was machte er hier eigentlich? Und warum hatte dieser fränkische Bastard ausgerechnet in dieses Loch springen müssen? Wäre er doch nur weitergelaufen. Vielleicht hätten die Pfeile ihn verfehlt, und er würde jetzt am Lagerfeuer sitzen und seine Suppe essen. Der Krieger war jung. Vielleicht fünfundzwanzig Sommer. Er hätte sicher noch zwanzig Jahre leben können!

»Reiß dich zusammen!« murmelte Golo leise. »Du darfst dich nicht gehenlassen. Noch eine Stunde, dann ist es dunkel genug, um aus dem Loch zu kriechen.«

Draußen war es still. Die Raben schienen davongeflogen zu sein. Nur das feine Knistern des Schnees war zu hören, wenn ein Windstoß Eiskristalle den Hügel hinauffegte.

Wieder blickte Golo in das Gesicht des Toten. Was war, wenn der Geist des Mannes ihn verfolgte, um sich zu rächen. Er hatte von solchen Geschichten gehört, in denen die Geister Verstorbener ihre Mörder verfolgten. »Du weißt, daß ich nichts gegen dich gehabt habe. Es war ein Unglück. In meiner Lage hättest du nicht anders gehandelt. Du darfst mich nicht verfolgen...«

Golo biß sich auf die Lippen. Er begann wahnsinnig zu werden. Er sprach mit einem Toten! So konnte das nicht weitergehen. Der tote Krieger auf den Holzpflöcken rührte ihn nicht. Warum konnte er nicht einfach auch diesen Franken vergessen? Er durfte ihn nicht mehr anblicken. Bald würde die Nacht die Blässe im Gesicht seines Gegenübers verschlucken. Dann hockte dort nur noch ein undeutlicher Schemen am anderen Ende der Grube. Vielleicht wurde es aber auch schlimmer, wenn er den Kerl nicht mehr richtig sehen konnte. Er mußte vor ihm fliehen. Der Ritter schloß die Augen und lehnte sich gegen das kalte Erdreich. Jetzt spürte er, wie der Hunger an seinen Eingeweiden fraß. Und er war müde... Unendlich müde. Vor dem Angriff hatte er nicht schlafen können.

Es war verlockend, sich ein wenig treiben zu lassen. Auf dem schmalen Grad zwischen Tagtraum und Schlaf zu balancieren. Er dachte an das Dorf, in dem er aufgewachsen war. An die Erntezeit, als sie alle gemeinsam auf den Feldern gewesen waren. So weit fort war all dies. Wenn er sich der Erinnerung ganz hingab, konnte er fast den warmen Sommerwind auf den Wangen spüren.

»Golo?«

Erschrocken schlug der Ritter die Augen auf. Der Himmel über ihm war jetzt völlig schwarz. Er mußte eingeschlafen sein. Hatte ihn jemand gerufen? Oder war es nur eine Stimme in seinen Träumen gewesen.

»Golo?«

Unsicher blickte er zu den beiden Toten. War es schon Mitternacht? Waren sie aus dem Reich der Geister zurückgekehrt, um nun auch ihn zu holen? Doch die Stimme war seltsam vertraut.

»Hier. Hier bin ich.« Er wagte es nicht, laut zu rufen. In der Nacht waren Stimmen weiter zu hören als bei Tag. Er hatte Angst, daß die fränkischen Wachen auf ihn aufmerksam wurden.

Ein Geräusch wie ein Schleifen war zu hören. Es näherte sich dem Rand der Grube. Der Ritter spürte, wie sich ihm die Haare im Nacken sträubten. Was zum Henker war das dort draußen? Suchte ihn am Ende ein leichenfressender Unhold? Er bekreuzigte sich.

Schnee rutschte vom Rand der Grube hinab. »Bist du dort unten?«

Golo zückte den Dolch aus seinem Gürtel.

»Golo?«

Diese Stimme? Konnte es sein... Das war doch nicht möglich!

»Mechthild?«

Ein Schatten glitt über den Rand der Falle. »Golo! Du lebst. Ich habe es gewußt!« Das Mädchen schloß ihn in die Arme und drückte ihn fest an ihre Brust. »Bei der Heiligen Jungfrau! Du fühlst dich an wie ein Eisblock. Bist du verletzt? Kannst du laufen?«

»Was machst du hier? Bist du von allen guten Geistern verlassen? Die Bogenschützen...«

»Ich wußte, daß du nicht tot bist. Die anderen haben es gesagt, aber ich wollte ihnen nicht glauben. Golo!«

»Danke.« Er strich ihr zärtlich über das Gesicht. »Danke. Ich weiß nicht...« Er beugte sich vor und küßte sie.

Schließlich war sie es, die sich aus der Umarmung löste. Doch es war gut. Er hatte gespürt, das sie keinen Groll mehr gegen ihn hegte. Was in Treveris geschehen war, war nun vergessen. Dieses Grab, in dem er den ganzen Tag gehockt hatte, hatte sie wieder zusammengeführt.

»Hier, nimm das.« Mechthild zog sich einen mit Schnee verkrusteten Schafsfellumhang von den Schultern. Darunter trug sie einen zweiten Umhang aus weißer Wolle. »Leg ihn an. Solange wir über den Boden kriechen und der Mond hinter den Wolken verborgen bleibt, wird man uns nicht erkennen. Man müßte schon auf uns treten, um zu merken, daß wir keine Schneeverwehung sind. Oben bei den Wällen gibt es einen Abschnitt, wo die Wachen Bescheid wissen, daß ich kommen werde. Doch wir sollten uns beeilen. Die Männer sind unruhig. Weil es so dunkel ist, haben sie Angst, daß Ricchars Sachsen vielleicht einen Überraschungsangriff wagen könnten.«

Golo starrte sie verwundert an. »So viel hast du ja noch nie auf einmal gesprochen.«

Sie grinste. »Muß an dir liegen. Laß uns gehen.«

Der Ritter blickte ein letztes Mal zu dem toten Franken. »Möge deine Seele in Frieden ruhen, Kamerad. Meine Gebete werden mit dir sein.«

»Mit wem sprichst du?«

Der Burgunde schüttelte den Kopf. »Laß uns gehen!« Er zog den Schafspelz um seine Schultern und streckte sich, um am Rand der Grube nach Halt zu suchen.


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