21. KAPITEL


Müde hockte Volker neben Belliesa und sah der Bardin bei den Vorbereitungen zu, die sie traf. Die ganze Nacht über hatten sie die Menschen aus dem Dorf in die Stollen des Bergwerks unter dem Turm getragen. Auch alle Verwundeten waren aus der Festhalle dort hinunter gebracht worden. Es war elend feucht und kalt in den Gängen, aber sie durften kein Feuer machen. Der Rauch wäre durch die Höhlen in der Steilklippe ins Freie getreten und hätte Ricchars Männern den Weg zu ihnen gewiesen. Der Eingang zu den Stollen lag im untersten Geschoß des Turmes und war sorgsam unter morschen Brettern verborgen. Wenn man nicht gezielt nach ihm suchte, dann mochte man höchstens zufällig auf ihn stoßen. Dennoch war Volker skeptisch, ob die Franken auf die List, die Belliesa ersonnen hatte, hereinfallen würden. Er blickte zum Eber, der breitbeinig im niedrigen Tor zum Turm stand. Ricchars Männer würden es schwer haben, an ihm vorbeizukommen. Die Treppe, die an der Außenwand des Turms zum einzigen Eingang führte, war so schmal, daß die Angreifer einzeln, hintereinander hinaufsteigen mußten. Das Tor aber war so niedrig, daß man sich ducken mußte, wenn man eintrat. Gleichzeitig mußte der Besucher über eine hohe Schwelle hinwegsteigen, so daß jeder Eindringling in eine Körperhaltung gezwungen wurde, in der man sich nur noch sehr schlecht verteidigen konnte. Durch Bogenschützen oder Speerwerfer wäre dem Eber fast nicht beizukommen, denn sein Körper wurde so gut wie gänzlich von seinem großen Rundschild verdeckt, wenn er am Eingang stand. Trotzdem wäre es nur eine Frage der Zeit, bis die Franken in den Turm eindrangen. Irgendwann würden die Kräfte des Verteidigers erlahmen. Der Eber wußte das. Ihm war klar, daß er sich auf den sicheren Tod eingelassen hatte. Volker hatte allerdings auch den Eindruck, daß der Gesetzlose sich darauf freute, noch ein oder zwei Dutzend Franken und Sachsen zur Hölle zu schicken, bevor er starb.

Der Spielmann musterte den großen runden Raum, der das ganze erste Geschoß des Turms einnahm. Sie hatte alle Möbel herausgeworfen und den Boden gefegt. Nur eine gefesselte schwarze Ziege und der Leichnam Mechthilds befanden sich außer ihnen noch im Turmzimmer. Links von Volker klaffte das Loch, in dem eine Leiter zum Erdgeschoß führte. Von dort gelangte man über eine Treppe in den Keller, wo sich der verborgene Eingang zur Mine befand. Wenn sie hinabstiegen, würden sie die hölzerne Leiter mitnehmen. Wer dann ins Erdgeschoß wollte, würde sich abseilen müssen, denn es gab in der ganzen Siedlung keine Leiter, die lang genug war, um hinunterzureichen.

»Wie ist es, einen Mann zu ermorden?« Der Spielmann sprach leise, und er blickte nicht auf, um Belliesa anzusehen.

»Wovon redest du?«

»Hatte der Eber eine andere Wahl, als sich für den Tod zu entscheiden?«

»Du willst mir doch jetzt nicht sagen, du hättest Mitleid mit ihm.« Belliesa füllte in die Tonschalen, die vor ihr standen, ein gelbes Pulver. »Ich habe ihm einen Weg gezeigt, zum Helden zu werden. Das hat er sich gewünscht...«

»Hat er?«

Der Eber drehte sich zu ihnen um. Er war zu weit entfernt, um die leise Unterhaltung mitgehört haben zu können. »Sie kommen! Die ersten fränkischen Späher sind im Dorf. Sie scheinen sehr verwundert zu sein, auf keinerlei Widerstand zu stoßen.«

Die Bardin warf Volker einen vielsagenden Blick zu. Der Spielmann verstand und schwieg. Er blickte auf das riesige Pentagramm, das Belliesa auf den Boden des Turmzimmers gemalt hatte. Mit einer Spitze zeigte es genau auf den Eingang. Die Bardin war inzwischen aufgestanden und verteilte die kleinen Räucherpfannen, die sie vorbereitet hatte, an den Schnittlinien des Pentagramms.

»Leg Mechthild in die Mitte!«

Volker erschauerte und murmelte ein leises Gebet. Durfte er als Christ sich an einem solchen Possenspiel beteiligen? Die Bardin plante, den Raum so herzurichten, daß er aussah, als habe man ein schwarzmagisches Ritual abgehalten. Da sie bei den Franken als Zauberin verurteilt worden war, würden zumindest die einfachen Soldaten auf diesen Trick hereinfallen und es nicht wagen, den Turm zu betreten. Vor allem aber war so eine Erklärung für das spurlose Verschwinden aller Verteidiger außer dem Eber gegeben. Wenn sie diese Lösung vor Augen hatten, würden sie vielleicht nicht mehr allzu aufmerksam nach einem anderen Fluchtweg suchen. Womöglich würde sogar Ricchar sich damit abfinden. Er brauchte einen schnellen Sieg, wenn er zum Christfest seinen Triumph feiern wollte.

»Mach schon«, herrschte ihn die Bardin an. Sie hatte inzwischen damit begonnen, die Räucherschalen in Brand zu setzen.

Widerwillig beugte der Spielmann sich über den Leichnam des Mädchens. Man hatte ihr das Leichenhemd wieder ausgezogen. Es sollte so aussehen, als habe man einem Dämonen eine Jungfrau geopfert. Die Ziege meckerte ängstlich, so, als ahne sie, was ihr bevorstünde.

Die Tote war schon ganz steif. Vorsichtig nahm Volker sie auf den Arm. Ob Mechthild noch leben würde, wenn er sie damals bei dem Gehöft zurückgelassen hätte? Behutsam legte der Spielmann den Leichnam in der Mitte des Pentagramms nieder. Dann holte er die Ziege und legte sie neben das Mädchen.

»Heho, ihr Bastarde! Seht ihr mich nicht? Kommt her, hier wartet der Tod auf euch!« brüllte der Eber lauthals.

Belliesa kniete sich neben Volker. »Mach! Wir haben nicht mehr viel Zeit. Sie sollen uns hören und den Gestank des Schwefels riechen! Dann müssen wir hier so schnell wie möglich fort. Allein die Götter wissen, wie lange der Eber durchhalten wird.«

Der Spielmann zog sein Messer und schnitt der Ziege die Kehle durch. Er hob das zuckende Tier hoch und verspritzte sein Blut über den Leichnam des Mädchens. Dabei betete er stumm. Wohin hatte ihn der Befehl seines Königs nur gebracht!

Einige Pfeile schlugen in den Eingang ein. Der Eber hatte sich hinter seinen Schild geduckt.

Belliesa beugte sich über eine der Räucherschalen. Aus den Augenwinkeln sah Volker, wie sie etwas hineinwarf, das die Flammen auflodern ließ.


»Ich erhebe die Fackel, ich verbrenne die Figuren

des utukku, des shedu, des Hockers, des Totengeistes,

der lamashtu, des labahsu, des Packers,

des Nachtmännchens, des Nachweibchens, der Nachtmagd

und alles Bösen, was die Menschen packt.

Zertropft, zerrinnt und zerfließt!

Euer Rauch steige zum Himmel empor!

Eure Aschenglut lösche die Sonne!«


Einen Atemzug lang verstummte die Bardin. Vom Tor ertönte Kampflärm. Die ersten Angreifer waren die Treppe hinaufgekommen. Belliesa erhob sich. Sie öffnete einen kleinen Gürtel an ihrem Beutel und verstreute einige getrocknete Blätter über dem Leichnam des Mädchens. Der Raum war inzwischen angefüllt mit erstickendem Schwefelgeruch. Volker stand der blanke Angstschweiß auf der Stirn. Unablässig betete er zur Jungfrau Maria. Da erhob Belliesa erneut ihre Stimme. Sie griff nach ihrem Hals und holte eine flammend rote Feder unter ihrem Mieder hervor. Die Bardin sprach so laut, daß Volker glaubte, den Boden erbeben zu spüren. Er preßte sich die Hände auf die Ohren, um die Anrufungsformel nicht hören zu müssen. Doch es nutzte nichts.


»Komm, Typhon, der du auf dem oberen Tor sitzt,

Io, Erbeeth, Seth, Baphometh, Logos!

Wie Ihr verbrannt und im Feuer verzehrt werdet,

so sollen auch die Seele und das Herz des Ricchar,

Sohn des Odoaker, verbrannt werden!

Mögen Eure Flammen das Fleisch von seinen Knochen schmelzen,

denn er ist nicht das Licht! Also muß er im Lichte vergehen!«


Erschöpft sank die Bardin in sich zusammen. Es schien, als ballten die öligen Rauchfahnen, die von den Feuerschalen aufstiegen, sich plötzlich über der Mitte des Pentagramms zusammen.

Volker zerrte Belliesa aus dem Bannkreis. »Was hast du getan?«

»Das wirst du... später sehen!« keuchte sie. Ihre Augen waren von einem Netz geplatzter Adern durchzogen. »Wir müssen jetzt nach unten. Schnell!«



Als Golo erwachte, kauerte Volker an seiner Seite. Noch bevor der Ritter ein Wort über die Lippen brachte, preßte der Spielmann ihm seine Hand auf den Mund.

»Ganz ruhig!« flüsterte Volker. »Du lebst! Und der Mord an Mechthild ist gerächt. Der Eber ist jetzt tot.« Langsam zog Volker seine Hand zurück.

Golo blickte sich verwundert um. Sie befanden sich in einem niedrigen Gang. Dicht neben ihnen brannte ein Öllämpchen, dessen kleine Flamme nicht reichte, um die Dunkelheit mehr als einen Schritt weit zurückzudrängen.

»Wir sind in den Stollen unter dem Turm des Ebers«, erklärte Volker. »Der Zugang hierher ist verborgen. Doch wir müssen still sein, um die Krieger Ricchars nicht auf uns aufmerksam zu machen, falls sie den Turm doch noch durchsuchen.«

»Was ist mit mir geschehen?« Der junge Ritter schüttelte verwirrt den Kopf. Dann erinnerte er sich wieder daran, wie Mechthild in seinen Armen gestorben war. Er ballte die Fäuste zusammen. Der Eber! Er sollte verrecken!

»Wo steckt der Gesetzlose? Und wie komme ich hierher?«

»Ich sagte es dir doch schon. Er ist tot! Du warst ohnmächtig. Belliesa hat dir einen Zaubertrank gegeben, damit du schlafen konntest.«

»Ich wollte nicht schlafen! Ich...«

Irgendwo in der Finsternis ertönte ein durchdringender Schrei. Das Heulen eines Säuglings. Fast sofort wurde dessen Stimme erstickt, doch es schien eine Ewigkeit zu vergehen, bis der Schrei nicht mehr von den Wänden der Stollen widerhallte. Volker fluchte leise. »Komm mit!«

Golo streckte seine steifen Glieder, während Volker die Öllampe nahm und tiefer in den Tunnel kroch.

»Wohin willst du?«

Der Spielmann antwortete nicht.

Müde folgte ihm Golo. Sein Magen schmerzte. Wenn er sich nur daran erinnern könnte, was geschehen war. Er hatte mit Belliesa gesprochen...

Unvermittelt hielt Volker an. Die Decke war inzwischen hoch genug, daß man aufrecht gehen konnte.

»Sei vorsichtig!« Der Barde wies auf den Boden. Quer über den Gang lagen einige morsche Bretter. »An manchen Stellen gibt es Schächte, die in die Tiefe führen.«

Mit einem weiten Schritt stieg Golo über die gefährliche Stelle hinweg. Ein Stück weiter kauerte eine Frau, die einen Säugling auf den Armen hielt. Volker stand vor ihr und hielt die Öllampe hoch, so daß dem Kind der Schein des Flammchens ins Gesicht fiel. »Er war es, nicht wahr!«

»Ich hatte ihn nur einen Moment lang auf den Boden gelegt... Ich dachte, er sei eingeschlafen. Bitte... Es wird nicht wieder vorkommen. Ich geb’ ihn nicht mehr aus den Armen.« Die Frau schien regelrecht in sich zusammenzusinken, während sie sprach.

Volker starrte noch immer auf das Kind. Es hatte ein rotes, runzeliges Gesicht. »Ich wußte, daß du das tun würdest. Wir hätten dich im Schnee lassen sollen. Du hättest nicht mehr leben dürfen...«

Golo sah seinen Gefährten entgeistert an. Was meinte er damit? Volkers Hand war zum Dolch an seiner Seite geglitten.

»Es wird nicht... wieder vor... kommen«, murmelte die Amme ängstlich.

Abrupt wandte sich der Spielmann um und zeigte den Gang hinunter. Golo sah undeutlich einen grauen Fleck Himmel.

»Dort ist einer der Ausgänge. Eine Öffnung mitten in der Steilwand. Sieh nach, ob du etwas Verdächtiges entdecken kannst.«

»Und du?«

Volker sah zu dem Kind. »Ich habe hier noch etwas zu erledigen.«

Der junge Ritter schluckte. Doch er stellte seinem Kameraden keine Fragen. Mit langen Schritten eilte er den Gang hinunter. Hinter sich hörte er undeutlich Volkers Stimme.

Als er die Öffnung im Felsen fast erreicht hatte, ging er in die Hocke. Vorsichtig näherte er sich dem Rand. Unter ihm reichte die Steilwand fast dreißig Schritt senkrecht in die Tiefe. Von hier aus könnten sie unmöglich angegriffen werden. Es gab allerdings auch tiefer im Fels Höhlungen, die offenbar zu Stollen der alten Mine gehörten.

Suchend wanderte Golos Blick über die nahen Hügel und Wälder. Alles schien ruhig. Er wollte sich schon wieder zurückziehen, als er auf eine flüchtige Bewegung im Schneefeld unterhalb der Steilklippe aufmerksam wurde. Er kniff die Augen zusammen, um im grauen Licht des wolkenverhangenen Wintertages besser sehen zu können. Es gab zwei dicht beieinanderliegende Flecke, wo der Schnee ein wenig gelber aussah.

Der junge Ritter ließ sich auf dem Bauch nieder und robbte bis ganz zum Rand der Klippe. Etliche Herzschläge lang gab es nichts Verdächtiges zu sehen. Doch dann kam Bewegung in einen der Flecke. Es war ein Mann, der ganz in weiße Schafsfelle eingehüllt war! Er wies den Felshang hinauf und schien auf einen zweiten Mann einzureden. Zwei Sachsen. Sie hatten etwas bemerkt! Der junge Ritter fluchte. Vielleicht täuschte er sich ja, doch es war besser, Volker und die anderen zu warnen. Wenn die beiden die ganze Zeit über dort unten gewesen waren, dann mußten sie den Schrei des Kindes gehört haben.

»So viel Pech kann man gar nicht haben«, flüsterte Volker mit gepreßter Stimme, doch war er nicht wirklich von seinen Worten überzeugt.

Eine Stunde mochte vergangen sein, seit Golo von seinem Spähposten zurückgekehrt war. Sie hatten sich sofort auf den Weg zu jenem Stollen gemacht, der im Keller des Turms endete. Dort warteten sie, doch bislang war nichts Auffälliges geschehen.

»Vielleicht haben sie den Schrei ja nicht gehört?«

Volker bedachte Golo mit einem zweifelnden Blick. »Die Sachsen sind Ricchars Späher. Das sind Männer, die in den riesigen Wäldern auf der anderen Seite des Rheins leben und jagen. Sie werden wissen, was es zu bedeuten hat, und...« Hinter den Brettern, die den Eingang zum Stollen tarnten, waren Geräusche zu hören. Schritte. Auch gedämpfte Stimmen. Einen Augenblick lang klangen sie ganz nah, dann entfernten sie sich wieder.

Der Spielmann wollte schon aufatmen, als er plötzlich ganz deutlich eine Männerstimme hörte. »Hier muß es sein.« Es folgten Axtschläge und das Krachen splitternden Holzes.

Der Spielmann gab Golo ein Zeichen, sich mit ihm ein wenig tiefer in den Tunnel zurückzuziehen.

»Ein Gang!« hallte es dumpf von den Wänden des Stollens wieder. Das leise Tappen von Schritten folgte.

Volker und Golo hatten hinter einer scharfen Biegung des Stollens haltgemacht. Hier würden sie ihre Verfolger auf jeden Fall überraschen können.



Der erste Krieger, der um die Ecke kam, brachte nicht einmal einen Schrei über die Lippen. Der Spielmann tötete ihn mit einem Stich durch die Kehle. Mit Schrecken sah Golo das Lächeln auf den Lippen des Barden. Was war aus ihm geworden? Oder war er es, der sich so sehr verändert hatte? Golo packte den Mann und zog ihn um die Ecke, damit er seinen Kameraden nicht vor die Füße fiel.

Den nächsten von Ricchars Soldaten trafen sie gleichzeitig. Doch jetzt hatten die anderen Franken etwas bemerkt. Alarmschreie gellten durch den Stollen. Ein riesiger Kerl mit einer zweihändig geführten Axt trat ihnen entgegen. Er ließ seine Waffe vor sich hin und her schwingen, so daß sie nicht an ihn herankamen.

»Zurück«, zischte Volker leise. »Hinter uns wird der Gang etwas breiter. Dort kriegen wir ihn.«

Ohne den Hünen aus den Augen zu lassen, machte Golo ein paar Schritt rückwärts. Der Franke grinste triumphierend. Offenbar glaubte er, schon gewonnen zu haben.

Volker versuchte einen Ausfallschritt zur Seite und führte einen Stich nach dem Bein des Gegners, doch der Krieger wich geschickt aus und seine Axt verfehlte den Spielmann nur um Haaresbreite. Mit einem Satz nach hinten brachte der Barde sich in Sicherheit. »Halt ihn einen Moment auf! Ich habe einen Plan.« Volker zog sich zurück.

Der junge Ritter fluchte. Diesen Riesen aufzuhalten war so aussichtsreich, wie mit ausgebreiteten Armen eine Lawine auffangen zu wollen. Zu allem Überfluß änderte der Bastard jetzt auch noch seine Strategie. Der Franke wollte ihn offenbar mit einem einzigen gewaltigen Hieb niederstrecken. Golo warf sich zur Seite. Die Schneide der Axt verfehlte ihn so knapp, daß er ihren Luftzug auf dem Gesicht spüren konnte. Krachend fuhr die Waffe in den Boden. Ein splitterndes Geräusch ertönte. Der Boden bebte unter seinen Füßen. Im selben Augenblick traf den Franken Volkers Dolch in die Brust.

Golo machte einen hastigen Schritt zurück. Der Hüne fiel wie vom Blitz gerührt vornüber. Auch der Boden stürzte nach vorne. Golo ließ sein Schwert fallen. Verzweifelt versuchte er irgendwo Halt zu finden. Hinter sich hörte er Volker schreien. Inmitten splitternder Bretter und Balken stürzte er in die Tiefe. Sie hatten auf einem der abgedeckten Schächte gestanden!

Golo schrammte an der Felswand entlang. Der Aufprall preßte ihm die Luft aus den Lugen. Dann verschlang ihn eisiges Wasser. Das Gewicht seiner Pelze und Wollkleider zog ihn tiefer und tiefer. Wild mit den Armen um sich schlagend versuchte er wieder zur Wasseroberfläche zu kommen. Er riß sich den Pelzumhang von den Schultern. Etwas streifte ihn an der Stirn. Endlich schaffte er es, prustend aufzutauchen. Rings um ihn prasselten noch immer Bretter und Felsstücke in das Wasser. Es war fast völlig finster. Nur weit über ihnen, dort, wo sie eingebrochen waren, schimmerte schwaches Licht.

Keuchend stieß Volker neben ihm durch das Wasser. »Wir müssen... hier raus! Oder die Kälte... tötet uns!« Er zeigte auf eine dunkle Stelle an der Felswand.

Paddelnd versuchte Golo dorthin zu gelangen. Seine Kleider waren schwer wie Blei, und ihm schien es, als wollten ihn unsichtbare Hände in die Tiefe ziehen. Volker war vor ihm angekommen. Er zog sich aus dem Wasser. Ein Tunnel endete neben dem Brunnenschacht. Der Ritter war am Ende seiner Kräfte. Es war vorbei. Er konnte nicht mehr kämpfen!

»Pack das!« Volkers Stimme schien ihm unendlich weit fort. Etwas stieß grob gegen Golos Schulter. Der Spielmann hielt ihm ein zersplittertes Brett hin.

»Halt dich fest! Ich ziehe dich heraus!«

Mehr im Reflex als bewußt griff er nach dem Brett. Seine Finger waren taub vor Kälte. Fast vermochte er sie nicht mehr zu krümmen, um sich festzuhalten. Wenn er jetzt einfach losließ, wäre er bald wieder mit Mechthild vereint. Er spürte, wie er gepackt wurde. Volker zerrte ihn aus dem Wasser. Golos Kopf sank nach hinten in den Nacken. Ein glühender Stern fiel aus der Finsternis hinab. Der Spielmann hatte ihn jetzt vollends ins Trockene gezogen. Zischend verlosch der Stern hinter ihnen im Wasser.

Golo klapperten die Zähne. Es war so kalt! Volker preßte ihm die Hand auf den Mund. »Leise«, raunte er mit zitternder Stimme. »Sie werfen Fackeln hinab, um zu sehen, ob wir überlebt haben. Wir müssen tiefer in den Gang hinein.«

Der Stollen, der vom Brunnenschacht wegführte, war so niedrig, daß sie auf allen vieren kriechen mußten. Manchmal waren sie sogar gezwungen, auf dem Bauch zu robben, und schrammten dabei noch mit dem Rücken an der Tunneldecke entlang. Golo wurde immer langsamer. Die Kälte drohte den Lebensfunken in ihm verlöschen zu lassen. Er hatte keine Kraft mehr, dagegen anzukämpfen, und er sah auch kein Ziel, für das es sich noch zu leben lohnte.

Als sie eine größere Höhle erreichten, blieb er einfach liegen. Volker zerrte ihm die Kleider vom Leib und sagte dabei etwas, doch der junge Ritter machte sich nicht mehr die Mühe hinzuhören. Es war so kalt. Ein Licht zerteilte die Finsternis und wurde größer. Er kroch ihm entgegen. Von dem Licht ging Wärme aus. Zitternd streckte er ihm die Hände entgegen. Ein Feuer! Sie waren gerettet!



Volker saß nackt neben dem kleinen Feuer und rieb sich die Arme. Er war in den Stollen zurückgekrochen und hatte eine der Engstellen verstopft, damit kein verräterischer Rauch durch den Brunnenschacht aufsteigen konnte. Golo lag neben dem Feuer und schlief. Mit einem kurzen Gebet an den Herren bedankte sich der Spielmann für ihre Rettung. Sie wären nicht mehr weit gekommen, wären sie nicht auf diese Höhle gestoßen. Sie mußte einst eine Vorratskammer des Bergwerks gewesen sein. In der Mitte der Höhle befand sich ein Kreis aus rußgeschwärzten Steinen. Offenbar hatte man den Platz auch früher schon genutzt, um Feuer zu machen.

An den Wänden lag trockenes Brennholz gestapelt, und in einem hölzernen Kasten hatte es sogar Zunder und Reisig gegeben. Daneben standen etliche Tonkrüge, die vielleicht einmal mit Wasser und Met gefüllt gewesen waren. Doch jetzt war in ihnen nur noch Staub. In zwei Gefäßen fanden sich die verrotteten Reste von Weizen und Dinkel. Alle Krüge hatte man mit flachen Schalen abgedeckt, deren Wände mit geritzten Spiralmustern oder schlanken Hirschen und Jägern verziert waren.

Auf dem Boden der Höhle lagen ein paar rostige Werkzeuge. Dazwischen Scherben von zerbrochenen Tongefäßen und Öllampen. In einer Ecke hatte Volker einen ganzen Haufen Kiefernzapfen gefunden, die offenbar einmal in eine klebrige Substanz getränkt gewesen waren. Daneben waren Fackeln auf dem Boden verstreut. Dem Spielmann blieb viel Zeit, um sich in der Höhle umzusehen. Golo schlief wie ein Toter.

Allmählich begann ihn Hunger zu plagen. Es waren viele Stunden vergangen, seit er das letzte Mal gegessen hatte. Auch wurde er langsam immer müder, doch getraute er sich nicht, sich an diesem Ort schlafen zu legen. Der Spielmann hatte das unbestimmte Gefühl, daß es kein Zufall war, daß sie beide an diesen Ort gelangt waren. Würde es sich nicht verrückt anhören, dann würde er sogar sagen, die Höhle hatte auf sie gewartet. Vielleicht war sie vor vielen Jahren darauf vorbereitet worden, anderen Verfolgten Zuflucht zu gewähren. Doch diese anderen schienen niemals hierhergekommen zu sein.

Volker nahm eine der alten Fackeln und zündete sie am Feuer an. In eine der Wände fand er das Bildnis eines Reiters geschnitzt. Ein Ritter aus alter Zeit. Sein Pferd war prächtig geschmückt. Der Krieger schien ein Kettenhemd zu tragen. Auf seinem Kopf thronte ein eigenartiger Helm. Er war wie eine Halbkugel geformt und von einem Adler gekrönt. Ein Adler... Er wünschte, er hätte einen riesigen Adler, der ihn so wie der Feuervogel in dem Märchen zu seiner Geliebten nach Aquitanien tragen könnte. Volker seufzte und lächelte dann. Das mußte der Hunger sein... Was für unsinnige Träumereien. Es gab keine riesigen Adler und... Nein! Er hatte die flammend roten Federn gesehen. Den Feuervogel gab es wirklich! Er existierte!

Er trat ein Stück zur Seite, hielt die Fackel höher und suchte nach weiteren Felszeichnungen. Sein Fuß stieß dabei an eine Unebenheit. Scherben? Er leuchtete zum Boden. Eine Kante ragte ein Stück über den Boden. Sie war seltsam regelmäßig geformt, ganz so, als sei sie von Menschenhand geschaffen. Neugierig kniete er sich nieder. Mit der Linken wischte er Staub und Schmutz beiseite. Dort hatte man einen Stein in den Höhlenboden eingesetzt. Er war eine Elle breit und nicht ganz so lang. Die Fugen waren mit Erdreich gefüllt. Ein Versteck?

Volker stand auf und holte eines der rostigen Werkzeuge. Eine Hacke, die an einem Ende eine breite, flache Spitze hatte. Er klemmte sie in die Fuge und hebelte den Stein aus seiner Verankerung. Darunter war ein tiefes Loch. Man hatte etwas Längliches, in Stoff Eingeschlagenes darin versteckt. Vorsichtig zog der Spielmann seinen Fund hervor. Der Stoff war mit Öl durchtränkt. Seine ursprünglichen Farben waren fast völlig verblichen. Er schien einmal ein rotgrünes Karomuster gehabt zu haben. Mit spitzen Fingern zog er das vor Schmutz starrende Tuch auseinander. Es war ein prächtiges Schwert darin eingeschlagen. Die Klinge war von dicken Ölschlieren überzogen und hatte kaum Rost angesetzt. Den Griff hatte man aus Knochen gearbeitet und mit dunkel angelaufenen Silberringen geschmückt. Er besaß auch einen breiten silbernen Knauf, in den rote Glasperlen eingelassen waren. Merkwürdigerweise hatte das Schwert keine Parierstange. Die Klinge mündete in einer silbernen Fassung, die kaum breiter als das Schwert selbst war. Die Waffe mußte sehr alt sein.

Ehrfürchtig hob Volker sie auf und wog sie prüfend in der Hand. Es war eine gute Arbeit! Er blickte zu dem Wandbild, das den Reiter zeigte. Ob ihm einst dieses Schwert gehört hatte? Für wen war es an diesem Ort verborgen worden?

Golo hatte seine Waffe verloren, als sie in den Brunnenschacht gestürzt waren. Er würde ihm die Klinge schenken. War der Fund am Ende ein Omen? Sollten sie noch einmal in den Kampf gegen Ricchar ziehen?

Der Spielmann legte zwei Scheite in das Feuer und wendete ihre nassen Kleider, die er ringsherum auf dem Höhlenboden ausgebreitet hatte. Etwas hatte sich verändert, seit er das Schwert gefunden hatte. Die Spannung war gewichen. Plötzlich fühlte er sich unendlich müde.

Noch einmal sah er zu der Felswand mit der Zeichnung des Reiters. »Danke«, murmelte er leise. Dann schlief er ein.


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