17. KAPITEL


Golo war zu Tode erschöpft. Vier Tage hatte Volker sie quer über die Berge abseits von Straßen und Dörfern bis hin zum Totenmaar geführt. Sechshundert Mann, fast die Hälfte ihrer Armee, hatte er für den Überfall ausgewählt. Es waren nur solche dabei, die kräftig genug erschienen, um die Strapazen, die vor ihnen lagen, durchzustehen. Trotzdem waren dreiundzwanzig gestorben. Erfroren auf den eisigen Berghängen oder einfach vor Erschöpfung zusammengebrochen. Fast fünfzig waren desertiert. Golo mochte es ihnen nicht verdenken. Doch das eisige Wetter war auch ihr Schutz. Der Eber und seine Späher hatten kaum feindliche Kundschafter ausfindig machen können. Offenbar hatten sich die sächsischen Wölfe in ihre Höhlen zurückgezogen. Auch wenn ihm die Qualen der letzten Tage oft unerträglich erschienen waren, so erfüllte es Golo doch mit Stolz, daß sie bis hierher gekommen waren.

Mehr als eine Stunde warteten sie nun schon an den Geröllhängen der beiden kreisrunden dunklen Seen. Die Straße nach Dune verlief über den kaum mehr als hundert Schritt breiten Sattel, der die Maare voneinander trennte. Ein Drittel ihrer Streitmacht hatte an den steil zu den Seen abfallenden Hängen Posten bezogen. Die Männer trugen Mäntel aus hellem Leinen oder Schaffelle, so daß sie in der felsigen Schneelandschaft schon auf ein paar Schritt so gut wie unsichtbar waren.

Der Rest ihrer Armee hielt sich in zwei kleinen Wäldchen an den beiden Enden der Straße verborgen. Die Ruinen des Dorfes, die östlich des Totenmaars aufragten, hätten auch ein gutes Versteck geboten, doch war es unmöglich gewesen, die Krieger dazu zu bewegen, diesen Ort zu betreten.

Golo drehte sich um und blickte über den gefrorenen See zu den Ruinen. Grauer Dunst quoll aus den Rändern des nahegelegen Waldes, so daß unheimliche Schleier zwischen den Grabsteinen und den geborstenen Häuserwänden dahinzogen. Der junge Ritter schluckte. Es fiel nicht schwer, sich vorzustellen, daß es dort drüben am anderen Ufer nicht ganz geheuer war. Doch das würde ihnen diesmal zunutze kommen. Volker war sich sicher, daß Ricchars Männer es eilig hätten, am Dorf vorbei zu kommen, und daß sie in ihrer Hast nicht so gut auf den Weg achten würden, wie sie es sonst vielleicht getan hätten. Sie mußten einfach in die Falle gehen!

Die Späher des Ebers hatten berichtet, daß eine Kolonne von weniger als zweihundert Mann mit vielen Packtieren von der Mosel her auf der Straße in die Berge zog. Im Laufe des Morgens mußten sie an den Maaren vorbei. Dies war der einzige Weg, der von Süden nach Dune führte. Sie waren den Franken um das Dreifache überlegen und hatten auch noch den Vorteil, ihre Gegner überraschen zu können. Es war unmöglich, diese Schlacht zu verlieren. Wenn sie nur nicht so lange warten müßten! Golo hatte Mühe, seine Angst zu besiegen. Dabei war es nicht einmal sein erstes Gefecht. Wie es den anderen wohl gehen mochte? Wie viele ihrer Bauernkrieger jetzt wohl die Stunde verwünschten, in der sie sich Volkers Rebellenarmee angeschlossen hatten? Golo dachte an die Schlacht in den Sümpfen, als das Nachtvolk die Armee des Bischofs angegriffen hatte, und daran, wie Berengar an seiner Seite gestorben war. Er war einer der besten Ritter auf dem Feld gewesen, und doch hatte ihn seine Waffenkunst nicht vor dem verirrten Pfeil bewahren können, der seine Kehle durchschlug. Der Tod in der Schlacht kam schnell und meist überraschend. Niemand war davor gefeit. Wie viele der Männer, die er in den letzten Wochen ausgebildet hatte, heute abend wohl noch leben würden? Er sollte sich nicht solche Gedanken machen... Er hatte versucht zu vermeiden, mit den Männern Freundschaften einzugehen. Meistens war es ihm gelungen. Dennoch kannte er sie alle mit Namen und...

Vom südlichen Ende der Straße erklang ein Käutzchenruf. Das vereinbarte Signal! Er blickte über den Rand des Felsens, hinter dem er kauerte. Einer der Männer weiter vorne winkte ihm zu. Noch war nichts auf der Straße zu sehen, und doch hatte sich etwas verändert. Plötzlich schien eine fast greifbare Spannung in der Luft zu liegen. Golo spürte den leichten Wind auf dem Gesicht und glaubte, fast den Schnee mit den Spitzen seiner Zehen, durch die dicken Stiefel hindurch, ertasten zu können.

In der Ferne erklang das empörte Schreien eines bockigen Maultiers. Es konnte keinen Zweifel mehr geben, sie kamen. Er preßte sich in die flache Mulde, die er hinter seinem Felsblock in den Schnee gewühlt hatte, und zog sein Schafsfell höher auf die Schultern. Nur noch wenige Augenblicke! Sie würden angreifen, sobald sich die ganze Marschkolonne auf dem Sattel zwischen den Maaren befand. Keiner der Franken durfte ihnen entkommen! Volker hatte ihnen befohlen, sich die Gesichter mit grauer Asche einzureiben. So sahen sie fast wie Tote aus. Die Franken würden vor Entsetzen wie gelähmt sein, wenn sie sich zwischen den zerklüfteten Felsen an den Steilhängen erhoben. Hoffentlich...

Wie eine kalte Hand fühlte Golo den Schnee auf seiner Wange. Jetzt war ihm die Kälte willkommen. Sie ließ ihn spüren, daß er noch lebte! Noch...

Angespannt lauschte er auf den Marschtritt der Soldaten. Doch der tiefe Schnee verschluckte die Geräusche. Statt dessen hörte man das Klappern der Kisten und Waffen, die auf die Packsättel der Maultiere geschnallt waren. Als die Franken näher kamen, waren auch einzelne Wortfetzen zu verstehen. Die Stimmen klangen gedämpft, so als wagten die Soldaten es nicht, an diesem Ort laut zu sprechen.

Obwohl Golo von seinem Versteck aus die Straße nicht einsehen konnte, hatte er das Gefühl, daß die Krieger dort oben in Eile waren. Auch sie spürten die seltsame Stimmung, die über dieser merkwürdigen Landschaft lag, und wollten dem Bannkreis der Maare so schnell wie möglich entgehen.

Golo mußte an den kleinen drahtigen Mann denken, mit dem er in der letzten Nacht am Feuer gesessen hatte. Er war ein Bauer aus der Nähe von Dune, der die Gegend hier gut kannte, und er hatte behauptet, daß die Seen, wenn das Eis auf ihrer Oberfläche geschmolzen war, an manchen Tagen so schwarz wie Kohle waren. Man sagte sich, sie seien Pforten in die Hölle, und manchmal, an windstillen Tagen, würde ihre Oberfläche von Gestalten, die aus der Tiefe emporstiegen, zu schäumenden Wellen aufgewühlt.

Wo Mechthild wohl steckte? Als die Gruppen für den Angriff eingeteilt wurden, war sie plötzlich verschwunden. Golo hatte versucht, ihr auszureden, an der Schlacht teilzunehmen. Sie war mittlerweile eine recht passable Schwertkämpferin geworden, doch in einer Schlacht zu kämpfen war etwas anderes, als ein Duell auszutragen. Hier gab es keine Regeln mehr. Selbst die besten Schwertkämpfer waren nicht vor einem Schlag in den Rücken oder einem Pfeil aus dem Hinterhalt sicher. Mechthild hatte genau gewußt, daß ihm keine Zeit mehr bleiben würde, nach ihr zu suchen. Es war ein Fehler gewesen, ihr das Kämpfen beizubringen...

Am Südende des Totenmaars ertönte ein Horn. Unheimlich hallte der Klang über das Eis. Für einen Herzschlag schienen alle anderen Geräusche verstummt zu sein. Golo sprang auf. Das war das Zeichen! Er riß seine Axt aus dem Gürtel. Rechts und links neben ihm stürmten schon die ersten Männer den Hang hinauf. Der hohe Schnee ließ sie immer wieder straucheln. Fluchend kämpfte auch Golo sich vorwärts. Ein Hagel von Pfeilen ging auf die Franken nieder. Das Krachen berstender Speerschäfte, die Schreie Sterbender und Verwundeter und das scharfe Klingen von Metall, das auf Metall schlug, lösten die winterliche Stille ab. Die Anführer der Franken hatten sich inzwischen vom ersten Schreck erholt. Mit lauten Stimmen übertönten sie das Schlachtengetöse und versuchten, ihre Männer in Formation zu bringen, um den Angriff abzuschlagen. Die Rebellen kamen jetzt von allen Seiten. Endlich war auch Golo auf der Straße.

»Keine Überlebenden!« gellte der Schlachtruf der Freischärler.

Der junge Ritter bückte sich und hob den großen Rundschild eines der toten Franken auf. Neben ihm stürzte ein junger Mann, der mit schmerzverzerrtem Gesicht seinen blutigen Armstumpf umklammerte. Golo wandte sich ab. Das war nicht die Zeit, Mitleid zu haben. Wenn der junge Kerl die Schlacht überleben sollte, konnte man sich immer noch um ihn kümmern.

Wie aus dem Nichts erhob sich ein Krieger mit einem schwarzen Stierkopf auf dem Schild vor ihm. Nach kurzem Schlagabtausch drehte Golo ihm mit der Axt das Schwert aus der Hand. Offenbar hatte der Krieger nicht damit gerechnet, unter den Bauern und Holzfällern auf einen gleichwertigen Gegner zu treffen. Mit einem Rückhandschlag traf er den Franken am Knie. Der Soldat strauchelte. Noch einmal senkte sich die Axt. Ohne dem Sterbenden einen weiteren Blick zu schenken, machte sich Golo auf die Suche nach einem neuen Gegner. Aus den Augenwinkeln sah er, wie einige der Bauern flohen. Doch die meisten begegneten mutig den Schrecken der Schlacht.

Ein Speer durchbohrte Golos Schild. Ein paar Schritt links bildete ein kleiner Trupp Franken einen Verteidigungsring. Einer der Krieger hatte den Wurfspieß geschleudert. Der Ritter verzog keine Miene. Mit einem Axthieb zersplitterte er den Schaft der Waffe. Er würde sich nicht reizen lassen! Die Franken jetzt anzugreifen wäre töricht. Sie gaben sich gegenseitig Deckung. Er würde warten, bis Speerwerfer und Bogenschützen den Kampfesmut der Franken gebrochen hatten und... Nein! Auf der anderen Seite hatten Belliesa und Mechthild den Sattel erklommen. Ein kleiner Trupp Bergarbeiter mit schweren Spitzhacken begleitete sie. Die Bardin zog ihr Schwert und rief etwas, was Golo nicht verstand. Dann stürmte der Trupp den Franken entgegen.

Der junge Ritter fluchte. Er mußte Mechthild beschützen. Sie war zu klein und zu leicht. Ein erfahrener Krieger würde sie einfach mit seinem Schild niederstoßen und dann abstechen. Dazu durfte es nicht kommen. Golo faßte seine Axt fester und rannte los.



Müde schleppte sich Volker durch den aufgewühlten Schnee. Am Horizont waren die Wälle von Icorigium zu sehen. Noch zwei Meilen und sie hätten es geschafft. Fast eine Woche war vergangen, seit er mit seiner Armee die Stadt verlassen hatte. Der Angriff war nicht so erfolgreich verlaufen, wie er sich erhofft hatte. Zunächst war es ihnen zwar gelungen, die Kolonne der Franken zu zersplittern, und bei dem ersten Angriff waren viele Feinde umgekommen, doch die Überlebenden hatten sich dann zu Gruppen zusammengeschlossen, die erbittert bis zum Tod kämpften. In der zweiten Hälfte der Schlacht waren über hundert Mann gefallen. Noch einmal fünfzig hatten sie zurücklassen müssen, weil sie zu schwer verletzt gewesen waren, um den Weg nach Icorigium zu schaffen. Gegen den Rat des Ebers hatten sie doch Gefangene gemacht und sich auch um die verwundeten Franken gekümmert. So wurde für die Männer, die sie zurücklassen mußten, die Aussicht besser, von den Franken, die sie auf kurz oder lang aufspüren würden, nicht ermordet zu werden.

Sie mußten noch viel an der Ausbildung ihrer Freiwilligen tun. Im Kampf Mann gegen Mann waren sie Ricchars Leuten hoffnungslos unterlegen gewesen. Volker dachte an das gräßliche Bild des Schlachtfeldes. Der Schnee hatte alles noch schlimmer gemacht. Überdeutlich waren die großen Blutlachen unter den Toten und Verletzten zu sehen gewesen. Das Blut war in breiten Streifen die Hänge bis zu den Maaren hinabgelaufen. Auch der Gestank war ihm in der klaren Winterluft noch erstickender erschienen. Nun, wenigstens hatten sie mit den Maultieren viele Lebensmittel erbeutet. Sie würden die Vorräte noch bitter nötig haben!

»Das alles gefällt mir nicht!« Der Eber hatte zu ihm aufgeschlossen und rieb sich seine rote Nase. »Es ist viel zu glattgelaufen. Hier stimmt etwas nicht. Trotz des guten Wetters sind wir kaum von Ricchars Sachsen behelligt worden.«

»Kaum behelligt!« Volker dachte an den Mann, der gestern an seiner Seite gestorben war, als ihn ein Pfeil aus dem Hinterhalt getroffen hatte. Der Spielmann meinte zu wissen, daß dieses Geschoß eigentlich für ihn bestimmt gewesen war. »Was willst du damit sagen?«

»Daß es nicht normal ist, wie uns diese Barbaren in Frieden lassen. Spätestens einen Tag nach dem Überfall hätten wir die ganze Meute der sächsischen Wölfe auf den Fersen haben müssen. Und was geschieht? Abgesehen von ein paar Pfeilen aus dem Hinterhalt nichts! Das ist nicht Ricchars Art. Ich sage dir, dieser Bastard brütet irgend etwas aus. Ich würde lieber fünfhundert seiner Krieger vor mir sehen, als ständig darüber grübeln zu müssen, was dieser Hurensohn als nächstes tun wird!« Der Eber spuckte in den Schnee.

»Vielleicht ist es uns einfach geglückt, ihnen zu entkommen. Schließlich sind wir weit abseits der Wege marschiert, und deine Männer haben sich bemüht, unsere Spuren zu tilgen, um...«

»Ach Unsinn! Man kann die Fährte, die vierhundert Mann samt Maultieren hinterlassen, nicht wirklich verwischen. Jeder Jäger wäre in der Lage, uns ohne Schwierigkeiten aufzuspüren. Diese Sachsen, die Ricchar in seinen Sold genommen hat, mögen zwar Barbaren sein, doch heißt das nicht, daß sie auch Trottel sind. Der Graf hat uns seit der Schlacht nie wirklich aus den Augen verloren. Ein paar Sachsen waren immer in unserer Nähe.«

»Und wo sollten die anderen gewesen sein? Ricchar hat diese Bluthunde doch nur angeheuert, um mich aufzuspüren und umzubringen.« Volker ging die Schwarzseherei des Gesetzlosen auf die Nerven. Man konnte das Unglück auch herbeireden!

»Du hast keine Ahnung, Ritter. Ich glaube nicht, daß dieser Ketzer dich tot sehen will. Er führt etwas anderes im Schilde, und dazu braucht er seine Späher.«

Von den Mauern der Stadt erklang ein Hornsignal zum Gruß. Volker dachte daran, wie er ein heißes Bad nehmen würde. Im Zuber liegen und noch heißen Kräuterwein trinken. So ließe sich die Kälte aus den Knochen vertreiben. Er beschleunigte seinen Schritt ein wenig.

»Spürst du das auch?« Der Eber hielt ihn am Arm zurück.

»Was?«

»Wir werden beobachtet.«

Volker riß sich los. »Natürlich werden wir beobachtet! Auf den Türmen und den Mauern stehen Wachen!« Seiner gepreßten Stimme war die mühsam unterdrückte Wut anzuhören. Am liebsten hätte er den Eber einfach angeschnauzt und fortgeschickt, doch es wäre schlecht für die Moral der Truppe, wenn die Männer sahen, wie ihre Anführer miteinander stritten. Er würde den Gesetzlosen heute abend zu sich bestellen und unter vier Augen mit ihm darüber reden, was er von seinem Verhalten hielt.

»Warum haben die noch nicht das Tor geöffnet? Warum kommt uns keiner entgegen?« Der Eber spuckte wieder aus. »Laß mich vorgehen!«

»Gute Idee, und wenn du schon...« Das Tor der Stadt öffnete sich. Ein Trupp Reiter mit eisernen Masken kam ihnen entgegen. »Was...« Volker konnte nicht fassen, was er sah.

»Alarm! Bildet einen Speerwall! Die Bogenschützen ins zweite Glied!« Der Eber hatte sein Schwert gezogen und lief zu seinen Schützen.

Volker schluckte. Sie waren in eine Falle gelaufen. Ricchar hatte geahnt, daß sie die Stadt verlassen würden, wenn er ihnen den passenden Köder hinwarf. Und er... Er war zu dumm gewesen, es zu durchschauen. Der Spielmann fluchte. Er hatte sich hereinlegen lassen! Nun war es seine Sache zu retten, was noch zu retten war. Wenn er nur wüßte, mit wie starken Truppen der Frankenfürst bis Icorigium vorgestoßen war. Er hatte gewiß nicht seine ganze Armee bei sich. Volker drehte sich um. Der Eber rannte die Marschkolonne entlang und rief den Männer Befehle zu.

»Achtung! Auf den Wald zurückfallen!« Der Barde wies auf den Hügel schräg hinter ihnen. Dort wären seine Männer vor Reiterangriffen sicher. »Bleibt dicht beieinander!«

Aus dem Stadttor trabte eine ganze Reiterabteilung. Auch wenn der tiefe Schnee die Pferde behinderte, würde Ricchars Kavallerie sie erreichen, bevor sie am Waldrand waren. Der Burgunde fluchte. Hätte er nur mehr ausgebildete Krieger! Nur solange sie es schafften, eine Schlachtlinie beizubehalten, waren sie vor den Reitern halbwegs sicher. »Schnallt die Schilde von den Packtieren! Golo, Rother, sucht die besten Männer für die erste Reihe aus. Die Verwundeten nehmen die Zügel der Maultiere. Ich möchte nicht, daß diese störrischen Biester durchgehen, wenn wir angegriffen werden. Eber, du sicherst mit deinen Männern unseren Rücken. Nur für den Fall, daß unsere fränkischen Freunde auch im Wald sitzen. Sollte unsere Schlachtreihe zu wanken beginnen, kommst du zurück und gibst uns Deckung!«

Der Gesetzlose deutete einen militärischen Gruß an und grinste. »Jawohl, Auserwählter!« Dann sammelte er seine Schützen und eilte dem Wald entgegen.

Volker sah ihm mit gemischten Gefühlen nach. Er war sich fast sicher, daß der Räuber sie im Stich lassen würde, wenn die Schlacht ungünstig verlief. Mit einer Drehung ließ der Barde den Schild von seinem Rücken rutschen und überprüfte den Sitz der Lederriemen an dessen Innenseite. Seine Hand glitt zum Schwert. »Maria, heilige Mutter Gottes, schütze meine Männer, die bereit sind, ihr Leben zu geben, um diese Kirchenschänder aus den Tempeln deines Sohnes zu vertreiben.«

Die Reiter fächerten zu einer langen Linie auf. Es mochten an die hundert Mann sein. Über den Kriegern schimmerte golden der Kopf der Drachenstandarte. Neben dem Signifer mit dem Feldzeichen ritt ein Mann in besonders prächtiger Rüstung. Volker fragte sich, ob Ricchar selbst die Einheit kommandierte. Der Spielmann blickte die Reihe seiner Krieger entlang. Die meisten Männer hatten ihre Position eingenommen. Golo und Rother gingen die Schlachtreihe ab und sorgten dafür, daß sich die letzten Lücken im Schildwall schlossen.

Wenn Ricchar es geschafft hatte, auch seine Fußtruppen bis hierher zu bringen, dann waren sie verloren. Volker winkte einem jungen Krieger, ihm einen seiner leichten Wurfspeere abzugeben.

In leichtem Trab kamen Ricchars Reiter den Hang hinab. Ihre Hufe wirbelten den verharschten Schnee auf, so daß es fast schien, als schöben sie eine Welle vor sich her so wie ein Boot, das gegen die Strömung fährt. Keiner der Krieger fiel aus der Reihe. Es gab keine Kommandos oder Hornsignale. Nur das drohende Donnern der Hufe. Volker betete, daß seine Männer nicht in Panik gerieten. Es war unheimlich, die Franken zu beobachten. Noch nie hatte er einen solchen Reiterangriff gesehen. Alle Krieger und Pferde schienen sich im gleichen Rhythmus zu bewegen, und die eisernen Masken ließen die Soldaten wie Götter aus Erz erscheinen. Der Barde hörte, wie der Mann, der ihm den Speer gegeben hatte, leise betete.

»Keine Sorge! Sie sind sterblich, genau wie wir.« Volker faßte seinen Wurfspeer fester.

Die Reiter hatten inzwischen den Fuß des langgestreckten Hügels erreicht, der der Stadt gegenüberlag. Volker spürte den Boden unter dem Hufschlag erbeben. Seine Hände waren plötzlich naß, die Kehle trocken. Auf ein lautloses Kommando zogen alle Franken gleichzeitig kurze Wurfspieße aus den Lederköchern, die hinter ihren Sätteln hingen. Sie waren jetzt keine zwanzig Schritt mehr entfernt.

»Nicht aus der Reihe brechen! Duckt euch!« rief Volker mit schriller Stimme. Ein Hagel von Speeren ging auf die Fußsoldaten nieder. Einige Männer stürzten, doch die Kämpfer aus der zweiten Reihe traten in ihre Lücken. Die Reiter rissen ihre Pferde herum und drehten ab. Dabei schwenkten sie ihre großen Rundschilde, so daß ihre Rücken gedeckt waren.

»Jetzt! Gebt es ihnen.« Die Rebellen warfen Speere. Volker sah, wie sein Geschoß vom Rand eines Schildes abprallte. Ein paar Pferde wurden verwundet und strauchelten. Ein bärtiger Kerl stürmte vor, um einen Reiter niederzustechen, dessen Beine unter dem Leib seines Rappen eingeklemmt waren.

»Zurück ins Glied, du Narr!« brüllte der Spielmann. »Sie warten nur darauf, daß unsere Schlachtreihe aufbricht. Alles zehn Schritt zurück. Und haltet die Formation!«

Weiter unten am Hang wendeten die Reiter ihre Pferde. Die Franken hatten nur fünf Krieger verloren. Ihre Schilde und Rüstungen gaben ihnen guten Schutz. Die Verluste auf seiner Seite waren deutlich höher. Trotz der reichen Beute aus dem Überfall am Totenmaar besaß nur jeder zweite seiner Männer einen Helm, und Kettenhemden gab es so gut wie gar nicht.

»Achtung!« gellte Rothers Stimme. »Sie kommen zurück!«

Wieder surrten die Speere durch die Luft. Volker biß die Zähne zusammen und duckte sich hinter seinen Schild. Dann war es vorbei. Ängstlich blickte er die Reihe seiner Männer entlang. Auch diesmal hatten sie dem Angriff standgehalten. Hinter ihnen ertönten Schreie. Hektisch blickte der Spielmann über die Schulter. Irgend etwas geschah am Waldrand. Der Eber und seine Schützen kamen den Hang hinunter gelaufen. Sie wurden beschossen. Schatten huschten zwischen den Bäumen. Dann tauchte ein Krieger in einem Wolfsfell am Waldrand auf. Die Sachsen! Jetzt war alles verloren. Wenn die Männer... Inmitten der Schlachtreihe ertönte Lautenklang.


»Mein Panzer ist nicht schimmernde Wehr,

mich schützt mein mutiges Herz.

Und stürmt der Feind auch tausend Mal,

ich werde nimmer weichen,

denn ich weiß, mein Mut ist der Freiheit Schild,

und würde er jemals brechen,

so erhöbe sich der Stier aus blutiger Grube

und ewig würde meine Knechtschaft sein,

denn mein Stolz wäre der Preis für mein Leben.«


Kristallklar klang die Stimme der Bardin über den Schlachtenlärm, und so, als läge ein Zauber in ihren Worten, faßten die Männer noch einmal Mut.

»Bildet einen Kreis! Nehmt die Maultiere in die Mitte. Sie werden an unseren Reihen zerbrechen wie die Welle am Felsen«, feuerte Rother seine Krieger an.

Zweimal noch griffen die Reiter an, dann waren ihre Köcher mit den Wurfspeeren leer. Solange der Schildwall nicht zerbrach, war Ricchars Kavallerie machtlos. Auch die Sachsen waren nicht genug, um einen offenen Angriff wagen zu können. Die Kräfte der Freischärler reichten jedoch auch nicht aus, um Icorigium zurückerobern zu können. So verharrten sie, hundert Schritt vom Waldrand entfernt an der Hügelflanke. Mehr als eine Stunde belauerten sie einander. Als der Schneefall dichter wurde, zogen sich die Reiter in die Stadt zurück. Die sächsischen Plünderer waren irgendwo im Dickicht verschwunden, doch Volker war sich sicher, daß sie nur darauf warteten, wieder loszuschlagen.

»Was sollen wir tun?« Golo war an seine Seite getreten. Der junge Ritter war blaß und erschöpft. »Hier können wir nicht bleiben.«

Der Spielmann nickte. »Es gibt einen Ort! Die anderen Städte sind vielleicht auch schon verloren, die Dörfer und Gutshöfe nicht zu verteidigen, aber...«



»Sie ziehen sich zurück!«

Erschöpft ließ Golo seinen Schild vom Arm gleiten und ging in die Knie. Hätten sie das Bergdorf nicht vor Augen, er würde einfach hier im Schnee liegen bleiben. Nie zuvor in seinem Leben war er so erschöpft gewesen. Immer wieder hatten die Sachsen während des Marsches angegriffen. Meist hatten sie nur ein paar Pfeile aus dem Hinterhalt abgeschossen und waren dann wieder in den Wäldern verschwunden. Zweimal jedoch hatten sie ihr Nachtlager angegriffen, und jetzt, als das rettende Festungsdorf schon in Sichtweite war, hatten sie noch einmal einen letzten Angriff unternommen.

»Alles in Ordnung?« Der Spielmann stand neben ihm und legte ihm die Hand auf die Schulter.

In Ordnung, dachte Golo bitter. Wie konnte er so etwas fragen? Sie waren durch die Hölle gegangen. Von den sechshundert Mann, mit denen sie aufgebrochen waren, würden nicht einmal hundertfünfzig das Dorf des Ebers erreichen. Er blickte in die Gesichter der Toten ringsherum im Schnee. Die rettenden Wälle vor Augen waren sie gestorben. Aber für sie hatten die Leiden wenigstens ein Ende. Genauso wie für die Deserteure, die sie auf dem Weg ins Bergdorf gefunden hatten. Dreißig Mann, die vor zwei Nächten geflohen waren und direkt in einen Hinterhalt der Sachsen gelaufen sein mußten.

Golo hatte versucht, mit Volker darüber zu reden, die Rebellion aufzugeben, doch der Spielmann stand völlig unter dem Einfluß Belliesas. Wenn man ihn darauf ansprach, nach Treveris zu fliehen, redete er nur von Schicksal.

Der junge Ritter blickte zu den Befestigungsanlagen des Dorfes hinauf. Wie lange Ricchar wohl brauchen würde, bis er mit einer ganzen Armee vor den Wällen stand?

Wenigstens hatten sie kaum Maultiere verloren. Die Vorräte im Dorf würden lange reichen. Müde erhob sich Golo aus dem Schnee. Volker war weitergeeilt und sprach mit Verwundeten und Erschöpften. Je verzweifelter die Lage wurde, desto verbissener kämpfte der Spielmann gegen das Unausweichliche an. Seine Kraft schien niemals zu versiegen.

Golo mußte an Mechthild denken. Als der Kampf begann, war sie noch ganz in seiner Nähe gewesen. Ängstlich glitt sein Blick erneut über die Gesichter der Toten. Dann rief er laut ihren Namen. In der Schlacht vor Icorigium hatte sie sich eine böse Schramme eingefangen. Sie konnte kaum noch ihren Schild halten. Wenn sie einer der Sachsen gestellt hatte!

»Mechthild!«

»Hier.« Sie stand bei einer Gruppe von Kriegern und stützte sich schwer auf ihren Rundschild. Sie hatte einen roten Vogel auf weißem Grund als ihr Zeichen gewählt. Das Mädchen lächelte erschöpft. »Du führst dich ja auf, als seiest du meine Amme.« Die Krieger um Mechthild lachten.

Golo hätte sie am liebsten in die Arme geschlossen. Zum ersten Mal seit ihrem Streit in Treveris hatte sie ihm wieder ein Lächeln geschenkt.


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