13. KAPITEL


Niemand, nicht einmal die Ältesten, konnten sich erinnern, daß jemals so früh der Winter angefangen hatte. Es war, als wolle die Natur den Kämpfen ein Ende setzen. Volker schlug sich die Hände vor die Brust, damit das Gefühl in seine tauben Finger zurückkehrte. Er war ein gottverdammter Narr! Jetzt könnte er an einem warmen Feuer sitzen! Die Art, in der ihn die meisten seiner Männer verehrten und für einen Auserwählten hielten, war zwar nervtötend, aber im Vergleich zu der Kälte wäre es das kleinere Übel gewesen.

In den letzten drei Wochen war er von Sieg zu Sieg gezogen. Seine Erfolge waren ihm selbst zum Schluß schon unheimlich gewesen. Alle kleineren Dörfer, die großen Gutshöfe und Minen waren von den Franken verlassen worden. Nur in den befestigten Städten leisteten sie Widerstand. Doch die Bevölkerung hatte sich gegen die Besatzer verschworen.

Die Garnison von Sarabodis war im Schlaf von aufständischen Bergarbeitern überrascht worden. Der Pferdedieb Claudius Marcellinus hatte die Männer aus den Minen rund um die befestigte Villa angeführt. Dort waren Elitereiter einquartiert. Jene zwei Schritt großen Krieger mit den eisernen Masken, die Volker schon in Castra Bonna gesehen hatte. Die Aufständischen mußten sie im Schlaf überrascht haben. Mehr als die Hälfte von ihnen war gefangengenommen worden.

Volker preßte die Lippen zusammen. Er war nur wenige Meilen entfernt gewesen, als dies geschah, doch als er endlich in Sarabodis eintraf, war es bereits zu spät. Marcellinus hatte alle Franken hinrichten lassen. Man hatte den Kriegern zunächst mit Schmiedehämmern jeweils den rechten Arm zertrümmert. Dazu hatte der Roßtäuscher ausgerufen, daß es jedem so ergehe, der sein Schwert gegen Gott den Herren erhebe. Dann ließ er den Franken die Schädel einschlagen. Ihre Leichen wurden nackt in die Villa getragen, wo man die Mauern einriß und schließlich die Ruinen in Brand setzte.

Als Volker Marcellinus am nächsten Tag zur Rechenschaft zog und von ihm wissen wollte, warum er dies getan habe, hatte der Hüne nur grinsend geantwortet, es sei halt Krieg und im Krieg würde nun einmal getötet.

Zwei Tage später machte sich der Schurke bei Nacht davon. Dabei nahmen er und seine Männer sämtliche Pferde mit, die sie in Sarabodis erbeutet hatten. Seitdem wurde Volker das Gefühl nicht mehr los, daß Marcellinus den Überfall allein nur wegen der erstklassigen Pferde organisiert hatte, und der Spielmann fragte sich, wie viele Gesellen von ähnlichem Schlage sich wohl unter seinen Rebellen befinden mochten. Plünderer, die einfach desertieren würden, sobald sie genügend Beute zusammengeraubt hatten.

Wie lange würde das Glück ihm wohl noch hold sein? Das befreite Gebiet reichte von Treveris im Süden bis nach Icorigium im Norden, quer durch das Bergland. Die Schmiedestadt hatte er belagern müssen, doch die Einwohner hatten ihm nachts die Tore geöffnet. Drei Tage später mußte sich die Garnison ergeben. Er gewährte den Franken freien Abzug, was für einiges Murren sorgte. Doch egal, was die Bauern und der Pöbel denken mochten, die unter seiner Führung kämpften, für ihn galten die Regeln der Ritterlichkeit!

Zehn der zwölf Ritter, die mit ihm Treveris verlassen hatten, lebten noch. Sie hatten den Befehl, den Bauern das Kämpfen beizubringen. Sein Armee war inzwischen auf siebenhundert Mann angewachsen, und täglich meldeten sich neue Freiwillige. Sie hatten nicht genug Waffen, so konnte ein Teil der Streiter nur mit Sicheln, Hämmern oder Spitzhacken ausgerüstet werden. Diese Hinterwäldler waren zwar tapfer, aber ohne jede Disziplin. Die Ritter sollten ihnen beibringen, in Formationen zu kämpfen.

Wenn sie bis zum Frühling durchhielten, dann würde er aus diesem Sauhaufen eine richtige Armee machen, dessen war Volker sich sicher. Doch vielleicht blieb ihnen nicht so viel Zeit. Der Spielmann hatte Kundschafter ausgeschickt, um über Ricchars Vorbereitungen für das nächste Frühjahr informiert zu werden. Doch keiner der Waldläufer, den er geschickt hatte, war zurückgekehrt. Es gab Gerüchte, daß der Graf irgendwo an der oberen Mosel war und Truppen sammelte.

Fast zwanzig Männer hatte Volker in den letzten beiden Wochen als Späher ausgeschickt. Sie alle waren verschwunden. Angeblich hatte Ricchar sächsische Söldner angeworben... Es gab auch Gerüchte, daß er eine Streitmacht von fast tausend Mann gesammelt hatte. Doch das konnte nicht stimmen. Er würde niemals mitten im Winter eine Armee aufstellen. Das verstieß gegen alle Regeln der Kriegskunst. Man konnte im Winter keinen Feldzug führen! Wenn es allerdings einen Feldherrn auf dieser Welt gab, der dieses Risiko einging, dann war es Ricchar. Deshalb mußte Volker wissen, was der Frankenfürst unternahm. Das war der Grund, warum der Spielmann sich auf den Weg zum Bergdorf des Ebers gemacht hatte. Der Gesetzlose und seine Truppe verwegener Halsabschneider waren die einzigen, von denen er noch hoffte, daß sie ihm Kunde über Ricchar verschaffen konnten.

Volker fluchte leise. Er hätte sich nicht allein auf den Weg zum Eber machen sollen. Es gab genug Männer, die sich hier in den Bergen auskannten. Aber um seiner Legende willen hatte er die Einsamkeit gesucht. Die ersten zwei Tage waren auch ganz gut gelaufen. Doch heute morgen hatte er im hohen Schnee den Weg verloren. Es hatte wieder zu schneien begonnen. Die Sicht reichte kaum dreißig Schritt weit. Er stand inmitten eines Waldes, umgeben von kahlen schwarzen Bäumen, deren Äste unter der Last des Schnees knarrten. Alle Pfade, von denen man ihm erzählt hatte, lagen unter der Schneedecke verborgen, und der graue, wolkenverhangene Himmel machte es unmöglich, sich zu orientieren.

Volker trug eine Fellweste und pelzgefütterte Stiefel. Seine Hände steckten in Fäustlingen aus Leder, unter denen er noch wollene Handschuhe angezogen hatte. Doch nichts mochte die eisige Kälte der Berge zu bannen. Der Winter nagte an seinen Kräften. Langsam hatte der Frost sich durch all diese Kleidungsschichten hindurchgefressen. Wie ein Widergänger raubte die Kälte ihm die Kräfte. Nicht mehr lange, und es wäre vorbei...

Er mußte sich zwingen, noch weiter zu gehen. Bei jedem Schritt sank er fast bis zu den Knien durch die verharschte Schneedecke. Wie einfach wäre, es sich fallen zu lassen. Er war müde. Der Schnee wirkte wie ein großes, sauberes Leintuch... Wenn er sich nur für ein paar Augenblicke hinstrecken würde, um auszuruhen, dann würden seine Kräfte wiederkehren. Er würde sicher schnell einschlafen, so erschöpft, wie er war. Wenn er dann erwachte, wäre er erholt und könnte seinen Weg fortsetzen, um...

»Sei kein Narr!« Seine Stimme hallte von den Bergen auf der anderen Seite des Tals wider, so laut hatte er in die Einsamkeit geschrien. Er durfte sich nicht solch trügerischen Tagträumen hingeben! Wenn er sich hier schlafen legte, würde er nie wieder erwachen. Er mußte sich wach halten! Vielleicht sollte er eines seiner alten Lieder singen. Als er noch sehr jung war, hatte er einmal etwas über die Heldentaten Theoderichs gedichtet. Wenn er sich anstrengte, konnte er sich vielleicht noch erinnern. Stockend begann er die Verse aufzusagen.


»Da suchte der Herr Dietrich selbst seine Rüstung.

Ihm half Meister Hildebrand, sich zu waffnen.

Da klagte der kraftvolle Mann so sehr...«


Volker versagte die Stimme. Deutlich erinnerte er sich jetzt an den Tag, an dem er diese Verse gedichtet hatte. Es war nach einem Traum gewesen, von einer großen Halle, in der Flammen nach gewappneten Helden leckten. Gunther war dort gewesen und auch Hagen. Und er selbst. Ein alter Mann mit grimmigen Augen war ihm entgegengetreten...

»Du bist es also, der sich einen Narren nennt! Wohl gesprochen, Volker!«

Erschrocken blickte der Spielmann auf. Er hatte immer einen Fuß vor den anderen gesetzt, ohne noch darauf zu achten, wohin sein Weg ihn führte. Der Wald endete vor einer Klippe, die knapp fünf Schritt hoch sein mochte. Wie eine Mauer zog sie sich um die Bergflanke. Fast genau über ihm, am Rand des Felsens stand eine Gestalt in schwarzem Umhang und mit bleichem Gesicht.

Die Morrigan! Das mußte die Stunde seines Todes sein, und sie war gekommen, um ihn zu sich zu holen. Er kniff die Augen zusammen. Dann blickte er wieder nach oben, um sicher zu sein, daß er in seiner Erschöpfung nicht schon Trugbilder sah. Die Gestalt stand noch immer am Rand der Klippe. Eine Locke roten Haares lugte unter ihrer Kapuze hervor.

»Du?« Er traute seinen Augen kaum. »Wie kann das sein? Weiche von mir, du Teufel, der du mir erschienen bist, um meine Seele zu verwirren!«

»Mit Worten allein wirst du mich diesmal nicht vertreiben! Ich bin hier, um dir deine Toten zu zeigen. Narr hast du selbst dich genannt. Und es ist wahr, du bist ein Narr! Gehe fünfzig Schritt nach links! Dort wirst du eine Felsspalte finden, in der ein Weg hier hinaufführt. Versuche nicht noch einmal, deinem Schicksal davonzulaufen. Es ist dir bestimmt, der Auserwählte zu sein, auch wenn dein Herz kälter als der grimme Winterfrost ist!« Die Gestalt trat zurück und verschwand aus Volkers Gesichtsfeld.

Diese verfluchte Bardin! Was machte sie hier? Und was sollte dieser Auftritt. »Komm heraus und zeige dich! Belliesa! Wie kommst du hierher?«

Wütend stampfte der Spielmann die Klippe entlang, bis er die Felsspalte erreichte. Der Weg hinauf war steil und vereist. Immer wieder rutschte er ab und schlitterte hinunter. Es waren nur ein paar Schritt, und doch schien eine Ewigkeit zu vergehen, bis es ihm endlich gelang, sich bis nach oben zu kämpfen.

Suchend blickte er sich um. Die Bardin war nirgends mehr zu sehen. Es war, als habe sie der Erdboden verschluckt.

»Belliesa!«

»Belliesa... Belliesa...« Fast höhnisch klang das Echo, das die Berge zurückwarfen. Dann war es wieder still. Dort, wo die Bardin gestanden hatte, war ein Loch in der Schneedecke. Der Wind, der über das Felssims wehte, verhinderte, das der Schnee hier höher als nur ein paar Zoll lag.

Etwas hatte den Schnee schmelzen lassen. Es gab keine Asche. Ein Feuer hatte hier nicht gebrannt! Das Schmelzwasser war am Grund der flachen Mulde wieder zu Eis erstarrt und...

Volker kniete nieder. Inmitten des Eises schimmerte es rot. Er zog seinen Dolch und begann wie von Sinnen auf die spiegelnde Fläche einzustechen, bis er endlich in Händen hielt, was dort im Eis gefangen war. Eine leuchtend rote Feder! Der Feuervogel! Er war hiergewesen. Er war...

Volker hatte das Gefühl, ein faustgroßer Stein rutsche seine Kehle hinab. Der Feuervogel! Der Schnee hatte die Eisfläche noch nicht wieder zugeweht. Es mochten höchstens ein oder zwei Stunden vergangen sein, seit der Vogel dort gelandet war. Und er... Er hatte ihn verpaßt. Das konnte nicht sein. Warum...

Er schluchzte leise. »Belliesa...« Was hatte die Bardin damit gemeint, sie wolle ihm seine Toten zeigen?

Direkt hinter dem Eis waren Spuren von schmalen Füßen im Schnee. Sie war hier gewesen! Die Sängerin mußte die Feder gesehen haben. War der Feuervogel vielleicht ihretwegen gekommen? Und wohin waren die zwei jetzt?

Suchend sah Volker sich um. Ein paar Schritt hinter der Klippe erhob sich ein sanft ansteigender Berghang. Graue Buchenstämme ragten dort zum Himmel, und mitten zwischen ihnen klaffte ein finsteres Loch. Eine Höhle! Ob Belliesa dorthin gegangen war? Funkelnde Eiszapfen hingen am Eingang hinab. Fast wie die Reißzähne eines Raubtieres!

Der Spielmann mußte an die Geschichte denken, die der Märchenerzähler vor so langer Zeit an einem warmen Sommertag in Worms erzählt hatte. An den Ritter, der auf seiner Suche in den Bergen in einer Höhle erfroren war. Plötzlich erschien ihm die Höhle wie ein Maul, das der Berg geöffnet hatte, um ihn zu verschlingen. Er durfte dort nicht hinein! Dort wartete der Tod auf ihn!

»Belliesa?« Volkers Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.

Er sollte der Spur der Bardin folgen! Sie führte auf dem Felssims entlang, fort von der Höhle. Das war ein Omen! Sie verhieß ihm das Leben... Wenn er sie nur finden könnte? Ob sie womöglich den Felsen hinabgestürzt war und irgendwo ohnmächtig im Schnee lag. Warum sonst antwortete sie nicht auf seine Rufe?

Die Augen fest auf die Spuren geheftet, ging er knapp am Steilabsturz entlang. Hier lag fast gar kein Schnee, und es kostete ihn weniger Kraft, voranzukommen.

Der Weg wand sich um einen Felsvorsprung, führte in eine Senke und traf schließlich wieder auf den schwarzen Wald. Noch immer starrte Volker auf die Fußspuren. Es war, als läge ein Zauberbann auf ihm. Eigentlich war er längst am Ende seiner Kräfte. Dennoch setzte er einen Fuß vor den anderen. Das Bild der Bardin stand vor seinen Augen und dann die Morrigan. Dieser Weg würde ihn letztlich zu seiner Geliebten führen. Er durfte nur nicht schwach werden! Er mußte ihn bis zum Ende gehen! Egal, wohin immer er auch führen mochte!

War da eine fremde Stimme in seinem Kopf? Waren das wirklich noch seine Gedanken? Waren die Bäume nicht riesige rauchgeschwärzte Knochenhände? Hatte der Tod seine dürren Finger nach ihm ausgestreckt?

Volker strauchelte. Eine Wurzel... Stöhnend richtete er sich wieder auf. Die Wurzel! Eine schwarze zur Kralle erstarrte Hand ragte aus dem Schnee. Er kniff die Augen zusammen. Das war ein Alptraum. Die Visionen, die er vor dem Sturz gehabt hatte... Sie verfolgten ihn. Ganz langsam öffnete er die Augen wieder. Die Hand! Sie war noch immer dort! Sie gehörte einem Mann in einem braunen Wollumhang, der halb vom Schnee begraben war. Sein Gesicht war grau. Die Lippen zu einem gräßlichen Grinsen zurückgezogen. Seine Augen waren weit offen. Die Angst vor dem Tod in ihnen gefroren.

Voller Panik rutschte Volker von der Leiche weg. Überall ringsherum lagen Tote im Schnee, nur halb vom eisigen Leichentuch des Winters bedeckt.

»Ich werde nicht sterben!« Taumelnd kam er auf die Beine. Er würde nicht das Schicksal der anderen auf diesem eisigen Friedhof teilen!

Wie von Wölfen gehetzt, begann er zu laufen, stolperte über Äste und Steine, die unter dem Schnee verborgen lagen, und richtete sich sofort wieder auf. Die Spur... Noch immer konnte er die Fußabdrücke im Schnee vor sich sehen. Wohin führten sie? Warum hatte Belliesa ihn auf dieses Leichenfeld gebracht? Ich bin hier, um dir deine Toten zu zeigen. Die Worte der Bardin hallten wie ein fernes Echo in seinen Gedanken. Er hatte den Mann, den er dort im Schnee gefunden hatte, noch nie zuvor gesehen. Warum hatte Belliesa ihn an diesen Ort geführt?

Der Spielmann blickte zum Kamm des Hügels hinauf. Der Himmel war mit grauschwarzen Wolken verhangen. Er mußte sich beeilen! Bald würde es wieder schneien, und die Spur würde ausgelöscht. Aus den Augenwinkeln sah er eine Bewegung. Ein Stück Stoff... Ein Kapuzenmantel! Jemand kauerte mit dem Rücken gegen einen der schwarzen Baumstämme.

»Belliesa?«

Keine Antwort. Was sollte das? Warum narrte die Bardin ihn? Wütend stapfte er in ihre Richtung. Der Zorn verlieh ihm neue Kräfte. Was konnte er dafür, daß diese Menschen im Schnee gestorben waren! Ihn traf keine Schuld!

»Belliesa!« Er stand jetzt hinter der Gestalt im schwarzen Umhang. Rede mit mir! Er legte seine Hand auf ihre Schulter und zog sie zu sich herum. Der Körper sank ihm entgegen. Er starrte in ein blasses Gesicht voller Sommersprossen. Rotes Haar quoll unter der Kapuze hervor. Fassungslos starrte der Spielmann die junge Frau an. Sie war nicht Belliesa. Jetzt erkannte er auch, daß der schwarze Mantel dem der Bardin nur ähnlich sah.

»Wer bist du?«

Er strich ihr sanft über die Wangen. Das Gesicht der Fremden war kalt. Vorsichtig schob er ihren Wollschal zur Seite und tastete er nach ihrem Hals. Es war kein Pulsschlag mehr zu spüren. Volker zog das kurze Jagdmesser aus seinem Gürtel und hielt der Frau die blanke Klinge vor die Lippen. Doch kein Atemhauch legte sich als grauer Schleier auf den Stahl. Sie war tot. Tot wie all die anderen dort im Wald!

Es konnten nur wenige Augenblicke verstrichen zu sein, seit sie gestorben war. Der Schal und ihr Hals waren noch warm. Woher war sie gekommen? Was hatte sie über ihn und Belliesa gewußt?

Sein Blick blieb an einem länglichen roten Fleck im Schnee haften. Eine Feder! Der Feuervogel! Er war hiergewesen und... Volker sprang auf und sah zum Himmel. Wo! Wo war er? Hatte der Zaubervogel neben der Sterbenden gekauert. War ihr die Flammengestalt erschienen, damit sie bei ihrem letzten Atemzug nicht allein war?

Es begann wieder zu schneien. Am anderen Ende des Tals ragte ein Turm auf einem Hügel. Niedrige Häuser kauerten sich um die Wehranlage. Das Dorf des Ebers! Noch zwei oder drei Meilen, und er wäre gerettet.

Er blickte zu der jungen Frau hinab. Hatte sie gewußt, daß dort das Dorf lag?

»Danke«, murmelte er leise. »Ich weiß nicht, wie du geheißen hast oder woher du gekommen sein magst, aber du wirst für immer in meinen Gebeten sein.«

Schnell zogen von Westen her dunkle Wolken auf. Es würde einen Sturm geben. Er mußte sich beeilen, wenn er noch rechtzeitig das Dorf erreichen wollte. Im Freien würde er das Unwetter nicht überleben!



Golo war verzweifelt. Bevor Volker in die Berge gegangen war, hatte der Spielmann ihm das Kommando über die Armee übertragen. Warum zum Henker hatte er das nur getan? Golo hatte protestiert. Es war nicht seine Sache, Männer anzuführen. Er wollte sie lieber erst gar nicht kennenlernen. Wenn der Krieg gegen Ricchar erst einmal begann, würden ohnehin die meisten der Freiwilligen sterben. Sicher waren sie mutig, doch um eine diszipliniertere Armee zu schlagen, brauchte man mehr als nur Mut.

An dem Tag, an dem Volker gegangen war, hatte ihre Armee tausenddreihundertfünfzehn Mann gezählt. Auf Befehl des Spielmanns waren sie in Trupps von jeweils zwanzig eingeteilt worden. Doch täglich kamen neue Freiwillige hinzu, und es mußten neue Einheiten aufgestellt werden.

Golo ging unruhig auf der Mauer der Stadt auf und ab und beobachtete dabei die Männer bei ihren Waffenübungen. Die Ritter, die Volker begleitet hatten, waren jeweils als Anführer einer Hundertschaft eingeteilt. Sie hatten versucht, die Rebellen nach Waffengattungen zu organisieren. Aber das war so gut wie unmöglich. Kaum einer besaß einen Schild, und wenn man alle ihre Krieger zusammennahm, dann würden sie nicht einmal zweihundert Schwerter aufbieten. Dafür gab es aufgerichtete Sicheln, Forken und Heugabeln, Bergarbeiter, die ihre Spitzhacken mitgebracht hatten, und Waldbauern mit Äxten. Abgesehen von den Rittern und Waffenknechten, hatte ihre Armee fast keine Reiter mehr, nachdem Marcellinus mit seinen Strauchdieben davongelaufen war. Auch Bogenschützen hatten sie viel zu wenige. Sie brauchten den Eber und seine Männer!

Golo seufzte. Ihre Hoffnung war, daß ihnen wenigstens noch bis zum Frühling Zeit blieb, aus diesem Haufen so etwas wie eine Armee zu machen. Sie saßen in einer Stadt voller Schmiede und hatten etliche Wagenladungen Erz zur Verfügung. Mit jedem Tag würde die Ausrüstung ihrer Armee besser werden. Volker hatte befohlen, vor allem Schildbuckel zu schmieden. Bis zum Frühjahr würden sie nicht einmal für alle Unterführer ihrer Armee Kettenhemden fertigen können, Schilde hingegen waren leichter herzustellen. Selbst wenn die Bauern nicht lernten, wie man mit ihnen im Nahkampf umging, so würden die Schilde ihnen zumindest Schutz vor dem Pfeilhagel gewähren, mit dem die Franken üblicherweise die Schlacht eröffneten.

Golo beobachtete einen jungen rothaarigen Bauern, der mit einem der Waffenknechte Speerkampfübungen durchführte. Die übrigen Männer der Einheit hatten sich im Halbkreis um die zwei aufgestellt und sahen ihnen zu. Mit nur zwei Finten brachte der Soldat den Bauern in eine ungünstige Stellung und stieß dem Rothaarigen dann die stumpfe Spitze des Holzspeers in den Leib. Noch zweimal wiederholte er das Spiel, ohne daß der Bauer auch nur ein einziges Mal Gelegenheit zu einem Gegenangriff hatte.

Golo seufzte. Das waren Lämmer, die sie zur Schlachtbank führten. Wenn sie mit dieser Armee gegen Ricchar bestehen wollten, dann brauchten sie wahrlich die Hilfe eines Erzengels. Unten vor der Stadtmauer begann der Waffenknecht eine neue Übungsrunde mit dem Rothaarigen. Wieder führte er einen Stich gegen den Leib des Mannes. Diesmal ließ der Bauer seinen Speer fallen. Geschickt griff er nach dem Schaft der Waffe des Soldaten und riß den Krieger mit einem Ruck auf sich zu, um ihm dann einen Kinnhaken zu versetzen. Die Männer im Halbkreis lachten. Taumelnd kam der Ausbilder wieder auf die Beine. Noch immer hielt er den Übungsspeer in Händen. Völlig überraschend versetzte er dem Bauern einen Stoß, der diesen wie vom Blitz gefällt in den Schnee stürzen ließ.

Golo biß sich auf die Lippen. Das Lachen unten war verstummt. Der Soldat wandte sich seinen Leuten zu und erklärte irgend etwas. Mit versteinerten Gesichtern hörten ihm die Männer zu. Zwei kümmerten sich um den Bewußtlosen. Golo konnte sich denken, was der Ausbilder jetzt sagte. Der Rothaarige hatte ihn zwar zu Boden geschlagen, aber die Gelegenheit dann nicht genutzt, ihm mit dem Holzspeer oder auf eine beliebige andere Art den Todesstoß zu versetzen. In einer Schlacht wäre das ein verhängnisvoller Fehler. Aber das hätte er den Bauern auch auf andere Art klarmachen können. Von jetzt an würde diese Gruppe ihren Ausbilder hassen. Er sollte den Mann gegen einen anderen austauschen. Es war nicht gut, wenn Krieger, die in die Schlacht zogen, heimlich dafür beteten, daß die Feinde ihren Anführer umbrachten. Golo fluchte. Er wünschte, er wäre mit Volker in den Bergen!


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