»Das ist sehr wichtig«, sagte Medivh. Er taumelte leicht, als er vom Rücken des Greifs stieg, wirkte erschöpft. Khadgar nahm an, dass ihm der Kampf gegen den Dämon schwerer gefallen war, als Medivh zu erkennen geben wollte.
»Ich werde für einige Tage … nicht erreichbar sein«, fuhr der ältere Magier fort. »Sollten während dieser Zeit Boten eintreffen, musst du auf meine Korrespondenz achten.«
»Das ist kein Problem«, sagte Khadgar.
»Das ist ein Problem«, sagte Medivh, während er die Stufen hinabging. »Deshalb muss ich dir erklären, wie man die Briefe mit dem Purpursiegel liest. Ein Purpursiegel steht für Angelegenheiten des Ordens.«
Khadgar schwieg und nickte.
Medivh rutschte auf den Stufen aus, stolperte und fiel nach vorne. Khadgar wollte nach ihm greifen, aber der ältere Mann stützte sich bereits an der Wand ab und zog sich nach oben. Ohne merkliche Unterbrechung fuhr er fort: »In der Bibliothek gibt es eine Schriftrolle, die ›Das Lied von Aegwynn‹ heißt. Darin wird vom Kampf zwischen meiner Mutter und Sargeras berichtet.«
»Das ist die Schriftrolle, von der Guzbah eine Kopie wollte«, sagte Khadgar. Er musterte den Magier besorgt, während dieser vor ihm die Stufen hinabschlurfte.
»Genau die«, sagte Medivh. »Deshalb kann er sie nicht bekommen – wir benutzen sie als Verschlüsselung für die Botschaften des Ordens. Sie ist der Hauptschlüssel. Jedes Mitglied des Ordens besitzt eine identische Schriftrolle. Wenn man das Standardalphabet nimmt, muss man einfach nur alle Buchstaben nach unten schieben, sodass der erste zum vierten oder zehnten oder zwanzigsten wird. Es ist ein einfacher Schlüssel. Verstehst du das?«
Khadgar wollte antworten, dass er es verstand, aber Medivh ließ ihm keine Zeit, schien es eilig mit seinen Erklärungen zu haben.
»Die Schriftrolle ist der Schlüssel«, wiederholte er. »Am Anfang der Botschaft befindet sich etwas, das wie ein Datum aussieht. Es ist aber keins. Es ist der Hinweis auf den Absatz, die Zeile und das Wort, mit dem du beginnst. Der erste Buchstabe des Worts wird zum ersten Buchstaben des Alphabets in der Verschlüsselung. Von da an geht es normal weiter. Der nächste Buchstabe in der Reihenfolge ist also der zweite Buchstabe des Alphabets und so weiter.«
»Ich verstehe.«
»Nein, das tust du nicht«, sagte Medivh gehetzt und müde. »Das ist nur die Verschlüsselung für den ersten Satz. Wenn du am Punkt ankommst, musst du zum zweiten Buchstaben des Worts übergehen. In diesem Satz steht er für den ersten Buchstaben des Alphabets. Die Satzzeichen bleiben wie sie sind. Zahlen ebenso, aber die Regel besagt, dass man sie ausschreiben soll. Da ist noch mehr, aber es fällt mir nicht ein.«
Sie hatten Medivhs persönliches Quartier erreicht. Moroes war bereits dort. Er trug eine Robe über einen Arm gehängt. Eine mit einem Deckel versehene Schüssel stand auf einem kunstvoll verzierten Tisch. Selbst in der Tür stehend konnte Khadgar die Suppe riechen, die sich in dem Gefäß befand.
»Was mache ich, wenn ich die Nachricht entschlüsselt habe?«, fragte er.
»Genau!«, antwortete Medivh, als habe er eine wichtige Erkenntnis gewonnen. »Verzögerung. Verzögern ist vor allem anderen geboten. In ein oder zwei Tagen sollte ich mich wieder selbst darum kümmern können. Lass dir etwas einfallen, um sie zu vertrösten. Ich bin geschäftlich unterwegs, werde bald zurückkehren. Benutze die gleiche Verschlüsselung, aber achte darauf, dass du sie als Datum kennzeichnest. Wenn alles andere scheitert, delegiere. Sage dem Briefschreiber, wer auch immer es sein mag, er möge nach eigenem Gutdünken handeln und dass ich ihm so bald wie möglich helfen werde. Das gefällt ihnen immer. Sage nicht, dass es mir nicht gut geht – das letzte Mal, als ich diesen Fehler beging, tauchte eine ganze Horde von Möchtegern-Klerikern auf, um sich um meine Bedürfnisse zu kümmern. Einige silberne Löffel sind seit diesem Besuch nie wieder aufgetaucht.«
Der alte Magier holte tief Luft und stützte sich schwer am Türrahmen ab. Moroes bewegte sich nicht, aber Khadgar trat einen Schritt vor.
»Der Kampf gegen den Dämon …«, sagte er. »Es war schlimm, oder?«
»Es gab Schlimmere. Dämonen! Krummschultrige, hammelköpfige Schläger. Zu gleichen Teilen Schatten und Feuer. Mehr Bestie als Mensch und widerwärtiger als beide. Gefährliche Krallen. Auf die Krallen muss man aufpassen.« Khadgar nickte. »Wie habt Ihr ihn besiegt?«
»Die Lebensessenz wird normalerweise durch schwere Verletzungen vernichtet«, sagte Medivh. »In diesem Fall habe ich ihm den Kopf abgeschlagen.« Khadgar blinzelte. »Ihr hattet kein Schwert.« Medivh lächelte schwach. »Sagte ich, dass ich ein Schwert brauche? Genug. Weitere Fragen, sobald es mir besser geht.« Mit diesen Worten betrat er das Zimmer, und der ewig loyale Moroes schloss vor Khadgar die Tür. Das letzte Geräusch, das der junge Magier hörte, war das erschöpfte Stöhnen des alten Mannes, der sich endlich ausruhen konnte.
Eine Woche verging, doch Medivh war nicht wieder aus seinem Quartier heraus gekommen. Jeden Tag schlurfte Moroes mit einer Schüssel voll Suppe nach oben. Schließlich hatte Khadgar genügend Mut gesammelt, um selbst nach Medivh zu sehen. Der Verwalter protestierte nicht, reagierte auf seine Gegenwart nur mit einem knappen Grunzen.
Medivh sah aus wie ein Geist. Hinter seinen geschlossenen Lidern war kein Leben, und sein Gesicht wirkte völlig regungslos. Er trug ein langes Nachthemd und wurde von Kissen gestützt. Sein Mund war offen, die Haut blass. Sein Körper wirkte ausgemergelt und dünn. Moroes fütterte ihn mit einem Löffel. Medivh schluckte, ohne zu erwachen. Der Verwalter wechselte jeden Abend das Bettzeug, bevor er sich zur Nachtruhe zurückzog.
Khadgar dachte darüber nach, ob es in Medivhs Jugend genauso gewesen war, damals, als seine Macht erstmals auftrat und Lothar sich um ihn kümmerte. Er fragte sich, wie lange der Magus in diesem Zustand verharren würde, und wie viel Energie er tatsächlich beim Kampf gegen den Dämon verloren hatte.
Normale Nachrichten, die in lesbarer Schrift und klarer Sprache verfasst waren, trafen ein. Einige wurden von Greifenreitern übermittelt, andere zu Pferde, doch die meisten kamen mit den Versorgungswagen der Händler, die Moroes’ Vorratskeller füllen wollten. Ihr Inhalt war meist unspektakulär – Schiffsbewegungen und Truppenübungen. Bereitschaftsberichte. Gelegentliche Ausgrabungen uralter Gräber oder vergessener Artefakte oder Entdeckungen vergessener Legenden. Berichte über Wasserhosen, große Meeresschildkröten oder eine Springflut. Zeichnungen von Tieren, die dem Beobachter unbekannt waren, aber bereits in den Lexika vermerkt, die sich in der Bibliothek befanden.
Auch Orks wurden immer häufiger erwähnt, vor allem im Osten rund um den Schwarzen Morast tauchten sie auf. Die Bewachung der Karawanen wurde verstärkt, es gab Berichte über Ork-Lager, Überfälle und unter mysteriösen Umständen Verschwundene. Immer mehr Flüchtlinge suchten den Schutz der mit Mauern gesicherten Orte und Städte. Überlebende fertigten Zeichnungen der Wesen mit breiten Augenbrauen und kräftigen Kiefern an. Darunter waren auch detaillierte Darstellungen der Muskeln, die, wie Khadgar schaudernd begriff, bei der Obduktion eines solchen Wesens gewonnen worden sein mussten.
Khadgar begann dem Zauberer die Briefe vorzulesen, während er schlief, vor allem die interessanten oder komischen Stellen. Der Magus spornte den jungen Magier nicht an, verbot es ihm aber auch nicht.
Der erste Brief mit Purpursiegel traf ein, und Khadgar verlor sofort den Überblick. Einige der Buchstaben ergaben Sinn, aber andere ließen sich zu keinem vernünftigen Wort zusammensetzen. Zuerst geriet der junge Magier in Panik, war sich sicher, dass er eine der Anweisungen falsch verstanden hatte. Nachdem er einen Tag lang Notizen in seinem Zimmer verstreut hatte, begriff Khadgar jedoch, was er falsch gemacht hatte. Der Abstand zwischen zwei Worten galt als Buchstabe in der Verschlüsselung des Ordens, sodass die Buchstaben sich um eine weitere Stelle verschoben. Nachdem er das verstanden hatte, ließ sich der Rest rasch entschlüsseln.
Der Inhalt war nun, da er ihn verstand, weit weniger beeindruckend als die Verschlüsselung. Es war ein Bericht aus dem tiefen Süden, von der Halbinsel Ulmat Thondr. Er besagte, dass die Lage ruhig sei, dass man keinen Hinweis auf Orks gefunden habe (allerdings seien seit kurzem verstärkt Urwald-Trolle aufgetaucht), und dass es einen neuen Kometen am südlichen Himmel gebe. Die detaillierten Angaben zu diesem Komet wurden in Worten, nicht in Zahlen geschrieben. Es war keine Antwort nötig, also legte Khadgar den Brief und die Übersetzung zur Seite.
Khadgar fragte sich, weshalb der Orden keine magische Verschlüsselung oder einen Zauberspruch verwendete. Vielleicht waren nicht alle Mitglieder des Ordens von Tirisfal Magier. Oder sie versuchten es vor den anderen Zauberern zu vertuschen, so wie Guzbah. In diesem Fall hätte ein Zauberspruch die Neugier geweckt und Aufmerksamkeit angezogen wie Licht die Motten. Am wahrscheinlichsten, beschloss Khadgar, war jedoch, dass Medivh die anderen Ordensmitglieder aus reiner Bosheit gezwungen hatte, ein Gedicht zu verwenden, in dem seine Mutter gepriesen wurde.
Von Lothar traf ein Paket ein. Darin waren die bis dahin gemeldeten Ork-Sichtungen und -Angriffe gesammelt und auf eine große Karte übertragen worden. Es schien, als würden die Ork-Armeen aus dem Sumpfgebiet des Schwarzen Morasts stammen.
Wieder wurde um keine Antwort gebeten. Khadgar spielte mit dem Gedanken, Lothar über Medivhs Zustand zu informieren, entschied sich jedoch letztlich dagegen. Der Champion konnte nichts tun, außer sich Sorgen machen. Also schickte er ihm nur eine kurze Notiz, in der er ihm für die Information dankte und Lothar bat, ihn weiter auf dem Laufenden zu halten.
Eine zweite Woche verging, und eine dritte begann. Noch immer lag der Meister im Koma, während sein Schüler suchte. Khadgar, der jetzt über den richtigen Schlüssel verfügte, ging die älteren Briefe durch, von denen einige immer noch mit dem Purpursiegel verschlossen waren. Als er die alten Dokumente las, begann Khadgar zu verstehen, warum Medivh mit zwiespältigen Gefühlen auf den Orden reagierte.
Häufig wurde in den Briefen nur etwas verlangt – ein Zauber, eine Information. Oder sie befahlen fast unverblümt, sofort zu kommen, weil ihre Kühe nicht fraßen oder die Milch sauer geworden war. Die freundlicheren Briefe verbargen ihre Bitten hinter Lobhudeleien. In anderen befand sich nichts außer pedantischen Ratschlägen, in denen detailliert darauf eingegangen wurde, weshalb ein bestimmter Kandidat einen perfekten Schüler abgeben würde (die meisten dieser Briefe waren ungeöffnet). Und es gab ständig Berichte über nichts und wieder nichts, Feststellungen über keine Veränderungen, keine besonderen Vorkommnisse.
Dies wiederum fand sich in den neueren Botschaften nur noch selten. Zwar waren sie alle nicht mit einem Datum versehen, aber eine Kontinuität ließ sich an der Vergilbung der Seiten und der Dringlichkeit des Tonfalls erkennen, mit dem um Taten und Ratschläge ersucht wurde. Nach dem plötzlichen Auftauchen der Orks klangen die Briefe merklich höflicher, vor allem nachdem die Orks mit den Überfällen auf Karawanen begonnen hatten. Doch der Strom der Bittstellungen riss nicht ab, nahm sogar zu.
Khadgar sah den alten Mann im Bett an und fragte sich, warum er diesen Leuten so oft half.
Und dann gab es die rätselhaften Briefe – gelegentliche Dankesschreiben, der Hinweis auf einen uralten Text, eine Antwort auf eine unbekannte Frage – Ja, Nein oder Natürlich das Emu. Während seiner Wache an Medivhs Seite traf ein weiterer mysteriöser Brief ohne Unterschrift ein. Darin stand: Bereite die Quartiere vor. Der Abgesandte wird bald eintreffen.
Am Ende der dritten Woche trafen eines Abends zwei Briefe mit einem fahrenden Händler ein. Einer trug ein Purpursiegel, der andere ein rotes und war an Khadgar adressiert. Beide stammten aus der Violetten Zitadelle der Kirin Tor.
Der Brief an Khadgar war in krakeliger Handschrift verfasst. Wir müssen dir bedauerlicherweise vom plötzlichen und unerwarteten Tod deines Lehrers Guzbah Kenntnis geben. Wie wir wissen, hast du mit dem verstorbenen Magier korrespondiert, und wir teilen dein Mitgefühl und deine Trauer. Solltest du über Briefe, Geld oder Informationen verfügen, die Guzbah zustehen, oder solltest du Besitztümer von ihm erhalten haben (insbesondere geliehene Bücher), bitten wir um eine Zustellung dieser Gegenstände, Dokumente oder Informationen an die unten genannte Adresse.
Am Ende des Briefes war eine Reihe von Zahlen in einer unleserlichen Handschrift hinzugefügt worden.
Khadgar fühlte sich wie taub. Guzbah war tot? Er drehte den Brief zwischen den Fingern, aber es fielen keine weiteren Informationen heraus. Benommen griff er nach der Rolle mit dem Purpursiegel. Das Schreiben war in der gleichen krakeligen Schrift verfasst, enthielt jedoch nach seiner Entschlüsselung weitaus mehr Informationen.
Guzbah war am Abend des Festes der Schriftgelehrten ermordet in der Bibliothek aufgefunden worden. Er hatte anscheinend gerade Dembrawns Kommentare zum »Lied von Aegwynn« überarbeitet. Khadgar fühlte sich plötzlich schuldig, weil er seinem ehemaligen Lehrer die Schriftrolle nicht geschickt hatte. Er war wohl von einer Bestie überrascht worden (die vermutlich beschworen wurde), die ihn auseinander riss. Sein Tod musste schnell gekommen, aber schmerzhaft gewesen sein – und die Anmerkungen über den Zustand seines Leichnams und den der Bibliothek waren eindeutig zu detailfreudig. Die Beschreibung ließ darauf schließen, dass die »beschworene Bestie« ein Dämon war, der jenem ähnelte, den Medivh in Stormwind bekämpft hatte.
Der Brief wurde in einem kalten analytischen Tonfall fortgesetzt, den Khadgar verstörend fand. Der Autor wies darauf hin, dass es sich um den siebten Todesfall eines Magiers der Violetten Zitadelle allein in diesem Jahr handelte, und dass dazu auch der Erzmagier Arrexis zähle. Weiterhin bemerkte er, dies sei der erste Todesfall dieser Art, der einen Magier betroffen habe, der nicht selbst Mitglied des Ordens war. Der Autor wollte wissen, ob Medivh in Kontakt mit Guzbah gestanden habe, entweder persönlich oder durch seinen Schüler. (Khadgar zuckte kurz zusammen, als er seinen eigenen Namen geschrieben sah.) Der unbekannte Autor fuhr fort darüber zu spekulieren, dass Guzbah ja kein Mitglied des Ordens gewesen sei und er vielleicht die Bestie selbst beschworen habe. In diesem Fall sollte Medivh nicht vergessen, dass Khadgar Guzbahs Schüler gewesen sei.
Khadgar spürte Ärger in sich hochsteigen. Wie konnte es dieser unbekannte Autor (er musste den oberen Rängen der Kirin-Tor-Hierarchie angehören, aber es gab keine Hinweise, wer es sein könnte) wagen, ihn und Guzbah anzuklagen? Khadgar war noch nicht einmal dort gewesen, als Guzbah starb. Vielleicht war der Autor selbst der Schuldige – oder jemand wie Korrigan. Schließlich stellte der Bibliothekar ständig Nachforschungen über Dämonenanbeter an. Wie konnte man nur solche Anschuldigungen aussprechen!
Khadgar schüttelte den Kopf und atmete tief durch. Nein, diese Spekulationen waren aus der Luft gegriffen und einzig das Resultat persönlicher Intrigen, wie so viele andere politische Schachzüge der Kirin Tor auch. Aus der Verärgerung wurde Traurigkeit, und mit ihr kam die Erkenntnis, dass selbst die mächtigen Magier der Violetten Zitadelle nicht in der Lage waren, die Mordserie zu stoppen. Sieben Zauberer (sechs von ihnen Mitglieder eines angeblich geheimen und mächtigen Ordens) waren gestorben, und diesem Autor fiel in seiner verzweifelten Hoffnung, die Todesfälle mögen endlich aufhören, nur eine solch haltlose Anschuldigung ein!
Khadgar dachte an Medivhs schnelle und entschlossene Reaktion in Stormwind und erkannte, dass es niemanden innerhalb seiner Gemeinschaft gab, der über vergleichbare Klugheit, Entschlossenheit und Intelligenz verfügte.
Der junge Magier nahm den verschlüsselten Brief und betrachtete ihn noch einmal im schwachen Kerzenlicht. Das Fest der Schriftgelehrten lag anderthalb Monate zurück. So lange hatte die Nachricht über Wasser und über Land benötigt. Anderthalb Monate. Sie war entstanden, bevor Huglar und Hugarin in Stormwind getötet wurden. Wenn der gleiche Dämon daran beteiligt war oder der gleiche Zauberer, musste er sich sehr schnell zwischen diesen beiden Orten bewegt haben. Einige der Dämonen in der Vision hatten Flügel besessen – war es denkbar, dass sie solche Distanzen überbrückten, ohne entdeckt zu werden?
Ein einzelner Windstoß fuhr plötzlich durch den Raum.
Die Haare in Khadgars Nacken sträubten sich. Als er aufblickte, sah er, wie sich eine Gestalt im Zimmer manifestierte.
Zuerst gab es nur Rauch, rot wie Blut, der aus einem winzigen Loch im Universum strömte. Er wallte auf und zog Schlieren wie Milch, die in Wasser aufsteigt. Schon bald bildete er eine wirbelnde Masse, durch die ein furchterregender Dämon trat.
Seine Gestalt war kleiner als auf der verschneiten Ebene, auf der Khadgar ihn in seiner Vision gesehen hatte. Er war geschrumpft, um in das Zimmer zu passen. Seine Haut war immer noch bronzefarben, seine Rüstung bestand aus tiefschwarzem Eisen, und seine Haare waren voller Feuer. Gewaltige Hörner ragten aus seiner Stirn hervor. Er trug keine Waffen, aber er sah auch nicht so aus, als würde er Waffen benötigen, denn er bewegte sich mit der lässigen Eleganz eines furchtlosen Raubtiers.
Sargeras.
Khadgar schwieg entsetzt. Er war vor Angst wie gelähmt. Hätten die Schutzzauber, die Medivh gewoben hatte, eine solche Bestie nicht fernhalten sollen? Und doch hatte sie den Turm und sogar Medivhs eigenes Zimmer so problemlos betreten, wie ein Adliger die Hütte eines einfachen Bauern aufsuchen würde.
Der Herr der Brennenden Legion sah sich nicht um, sondern glitt zum Fuß des Bettes. Eine Weile stand er dort, während die Feuer in seinem Bart und in seinem Haar lautlos brannten, und betrachtete den bewusstlosen Magier.
Khadgar hielt den Atem an und warf einen Blick zum Arbeitstisch. Ein paar Bücher. Eine Kerze vor einem Spiegel, um das Licht zu verstärken. Ein Brieföffner, mit dem man die Purpursiegel brach.
Der junge Magier griff langsam nach dem Öffner, versuchte sich zu bewegen, ohne die Aufmerksamkeit des Dämons auf sich zu ziehen. Seine Finger schlossen sich fest um das Werkzeug, seine Knöchel traten weiß hervor.
Sargeras stand immer noch am Fußende des Bettes. Ein Moment verging, und Khadgar versuchte sich zu einer Bewegung zu zwingen. Entweder fliehen oder angreifen. Seine Muskeln waren wie aus Stein.
Medivh drehte sich in seinem Bett und murmelte etwas Unverständliches. Der Dämonenherrscher hob langsam eine Hand, als wolle er den leblosen Körper des Magiers segnen.
Khadgar schrie auf und sprang mit dem Brieföffner in der Hand von seinem Stuhl. Erst in diesem Moment begriff er, dass er den Öffner in der falschen Hand hielt.
Der Dämon sah in einer spielerisch eleganten Bewegung auf, als würde er schlafen oder befände sich unter Wasser. Er sah den Angreifer an, der ungeschickt mit einem kurzen scharfen Dolch fuchtelte.
Der Dämon lächelte. Medivh drehte sich im Schlaf und murmelte. Khadgar stieß dem Dämon den Brieföffner in die Brust …
… und durch dessen ganzen Körper hindurch. Der Schwung seines Stoßes trug ihn durch die Gestalt Sargeras’ hindurch bis zur gegenüberliegenden Wand. Er konnte nicht mehr abbremsen und prallte schwer dagegen. Der Brieföffner fiel klirrend auf den Steinboden.
Medivh öffnete weit die Augen und setzte sich auf. »Moroes? Khadgar? Seid ihr hier?«
Khadgar kam auf die Beine und sah sich um. Der Dämon war verschwunden wie eine Seifenblase, die man mit einer Nadel berührt. Er und Medivh waren allein im Zimmer.
»Was machst du auf dem Boden, Junge?«, fragte Medivh. »Moroes hätte dir ein Lager bereiten können.«
»Meister, Eure Schutzzauber!«, rief Khadgar. »Sie haben versagt. Da war …« Er zögerte für einen Moment, war sich nicht sicher, ob er preisgeben sollte, dass er wusste, wie Sargeras aussah. Medivh würde es auffallen, und er würde ihn nicht in Ruhe lassen, bis er enthüllte, woher er es wusste.
»Ein Dämon«, stieß er hervor. »Hier war ein Dämon.«
Medivh lächelte. Er wirkte ausgeruht, und die Farbe kehrte in sein Gesicht zurück. »Ein Dämon? Wohl kaum. Warte.« Er schloss die Augen und nickte. »Nein, die Schutzzauber sind unbeschädigt. Ein Nickerchen reicht nicht aus, um ihnen die Energie zu entziehen. Was hast du gesehen?«
Khadgar schilderte das Auftauchen des Dämons aus der Wolke aus kochender blutiger Milch bis zu dem Punkt, wo er vor dem Bett gestanden und die Hand gehoben hatte.
Der Magus schüttelte den Kopf. »Ich glaube, das war wieder eine deiner Visionen«, sagte er schließlich. »Ein Stück Zeit hat sich losgerissen und ist in den Turm eingefallen, wo es ebenso schnell wieder verschwand.«
»Aber der Dämon …«, begann Khadgar.
»Der Dämon, den du beschrieben hast, gibt es in diesem Leben nicht mehr«, sagte Medivh. »Er wurde getötet und in den Ozean geworfen, bevor ich geboren wurde. Du hattest eine Vision von Sargeras aus ‚Das Lied von Aegwynn‘. Die Schriftrollen liegen vor dir. Du hast wohl die Nachrichten entschlüsselt. Vielleicht hat das den aus der Zeit gerissenen Geist in dieses Zimmer gelockt. Du solltest hier nicht arbeiten, während ich schlafe.«
Er zog die Augenbrauen zusammen, als sei er nicht sicher, ob er wütend werden sollte.
»Es tut mir Leid … Ich wollte Euch nicht allein lassen.« Khadgar klang unbeholfen.
Medivh erlaubte sich ein Lächeln. »Ich habe nicht gesagt, dass ich es verbiete, und ich glaube nicht, dass Moroes dich aufgehalten hätte. Schließlich musste er sich dann selbst etwas weniger um mich kümmern …« Er strich mit Daumen und Zeigefinger über Lippen und Bart. »Ich glaube, ich hatte genügend Suppe für den Rest meines Lebens. Und nur damit du dich sicherer fühlst, werde ich die mystischen Schutzzauber des Turms überprüfen. Ich werde dir zeigen, wie man sie anlegt. Ist abgesehen von Dämonenvisionen noch etwas in meiner Abwesenheit geschehen?«
Khadgar fasste die Nachrichten zusammen, die er erhalten hatte. Die sich häufenden Ork-Zwischenfälle. Lothars Karte. Die geheimnisvolle Nachricht über den Abgesandten. Und die Nachricht von Guzbahs Tod.
Medivh grunzte, als er hörte, wie Guzbah gestorben war und sagte: »Jetzt werden sie also Guzbah die Schuld in die Schuhe schieben, bis der nächste arme Narr zerfetzt wird.« Er schüttelte den Kopf und fügte hinzu: »Fest der Schriftgelehrten. Das war vor Huglars und Hugarins Tod.«
»Ungefähr anderthalb Wochen davor«, bestätigte Khadgar.
»Ein Dämon hätte genügend Zeit, um von Dalaran nach Stormwind zu fliegen.«
»Oder ein Mann auf dem Rücken eines Greifen«, sagte Medivh nachdenklich. »Es gibt nicht nur Dämonen und Magie in dieser Welt. Manchmal reicht auch eine einfachere Antwort aus. Sonst noch etwas?«
»Die Orks werden anscheinend immer zahlreicher und gefährlicher«, sagte Khadgar. »Lothar sagt, dass sie sich nicht mehr auf Karawanenüberfalle beschränken, sondern auch Siedlungen angreifen. Kleine Siedlungen, aber die Menschen zieht es deshalb nach Stormwind und in die anderen Städte.«
»Lothar macht sich zu viele Sorgen«, widersprach Medivh und schnitt eine Grimasse.
»Er ist besorgt, ja«, erwiderte Khadgar ruhig. »Niemand weiß, was als Nächstes geschehen wird.«
»Ganz im Gegenteil.« Medivh stieß einen tiefen Seufzer aus. »Wenn alles, was du erzählt hast, der Wahrheit entspricht, werden sich die Ereignisse genau so abspielen, wie ich es erwartet habe.«