4 Monster und Menschen

Die Luft wurde aus Khadgars Lungen getrieben, als er auf dem Boden aufschlug. Die Erde war sandig unter seinen Fingern. Er musste auf einer niedrigen Düne am Rand der Insel gelandet sein.

Voll Unbehagen kam der junge Magier auf die Beine. Aus der Luft hatte die Insel wie ein Waldfeuer ausgesehen. Hier am Boden bot sich ihm der Anblick eines Tors zur Hölle.

Die Wagen waren jetzt fast vollkommen vom Feuer verschlungen, und ihr zerstörter Inhalt lag brennend über die Insel verteilt. Kleider hatten sich im Schmutz entrollt, eingeschlagene Fässer leckten, und Früchte waren von schweren Füßen zerdrückt und in die Erde gestampft worden. Und überall lagen Leichen, reglose menschliche Gestalten in leichten Rüstungen. Gelegentlich blitzte ein Helm oder ein Schwert auf. Das mussten die Wachleute der Karawane sein, die bei ihrer Aufgabe versagt hatten.

Khadgar bewegte seine schmerzende Schulter, aber er schien nur Prellungen und blaue Flecken davongetragen zu haben. Nichts war gebrochen. Selbst unter Berücksichtigung des Sandes hätte er eigentlich härter aufschlagen müssen. Er schüttelte den Kopf. Was auch immer an Unannehmlichkeit von Medivhs Zauber geblieben war, jetzt wurde es von größeren Schmerzen, über den ganzen Körper verteilt, überlagert.

Plötzlich bemerkte Khadgar eine Bewegung unter den Trümmern und kauerte sich nieder. Stimmen brüllten in einer unbekannten Sprache, die Khadgar als kehlig und blasphemisch empfand. Sie suchten nach ihm, hatten gesehen, wie er von seinem Reittier gestürzt war.

Khadgar sah zu, wie gebeugte Gestalten durch die Trümmer schlurften und massige Silhouetten bildeten, wenn sie vor einem der Feuer vorbeistrichen.

Etwas regte sich in seinem Geist, aber er konnte es nicht genau bestimmen. Stattdessen begann er, sich von der Lichtung fort zu schleichen, und er hoffte, die Dunkelheit würde ihn vor den Kreaturen verbergen.

Doch dem sollte nicht so sein. Hinter sich hörte er das Brechen eines Zweiges. Stiefel raschelten über Laub. Khadgar wusste, dass er nicht allein war. Er wandte sich um und sah …

… eines der Monster aus seiner Vision. Die Karikatur einer menschlichen Gestalt in Grün und Schwarz.

Das Ungeheuer war nicht so groß wie die Kreaturen in seiner Vision, und es war auch nicht so breit, aber trotzdem schien es einem Alptraum entwichen zu sein. Sein schwerer Unterkiefer wurde von nach oben ragenden Fängen dominiert, seine Augen waren klein und blickten finster. Zum ersten Mal bemerkte Khadgar die großen, spitz zulaufenden Ohren dieses Volkes. Das Wesen hatte ihn wahrscheinlich gehört, bevor es ihn sehen konnte.

Seine Rüstung war schwarz, aber sie war aus Leder, nicht aus dem Metall von Khadgars Traum. Das Monster hielt eine Fackel in der Hand, deren Licht über seine Gesichtszüge flackerte und sie noch monströser erscheinen ließ. In der anderen Hand hielt es einen Speer, der mit einer Kette kleiner, weißer Objekte dekoriert war. Entsetzt erkannte Khadgar, dass es menschliche Ohren waren, Trophäen des Massakers, das hier gerade stattgefunden hatte.

All dies wurde Khadgar in dem Moment klar, da sich Mensch und Monster gegenüber standen. Die Bestie richtete den grausig dekorierten Speer auf ihn und stieß einen lauten, herausfordernden Schrei aus.

Doch dieser Schrei fand ein jähes, ersticktes Ende, als der junge Magier ein Wort der Macht murmelte, eine Hand hob und einen Blitz in den Bauch der Kreatur fahren ließ. Die Bestie sank in sich zusammen.

Ein Teil von Khadgars Geist war erstaunt über das, was er gerade getan hatte, der andere Teil erinnerte sich daran, dass er in der Vision von Karazhan gesehen hatte, wozu diese Kreaturen fähig waren.

Das Monster hatte mit seinem Schrei die anderen Mitglieder seiner Einheit gewarnt, und jetzt erhob sich ein gewaltiges Kriegsgeheul über dem Lager. Zwei … vier … zehn … zwölf der Kreaturen rannten auf ihn zu. Und noch weitere Schreie erklangen aus dem Sumpf!

Khadgar wusste, dass er nicht die Kraft hatte, sie alle abzuwehren. Die Beschwörung schon eines mystischen Blitzes hatte gereicht, dass er sich schwach fühlte und seine Beine unter ihm nachgeben wollten. Ein weiterer, und er lief Gefahr, ohnmächtig zu werden. Vielleicht sollte er versuchen zu fliehen?

Doch die Monster kannten dieses dunkle Moor wahrscheinlich besser als er. Wenn er sich auf der sandigen Insel hielt, würden sie ihn aufspüren. Wenn er in den Sumpf flüchtete, würde vermutlich nicht einmal Medivh ihn mehr finden können.

Khadgar sah zum Himmel hinauf, aber dort war keine Spur des Magus oder der Greifen zu erkennen. War Medivh irgendwo gelandet und schlich sich jetzt an die Monster heran? Oder war er zu der menschlichen Streitmacht im Süden zurückgekehrt, um sie hierher zu führen?

Oder, dachte Khadgar grimmig, hatte Medivhs quecksilbrige Laune sich mal wieder gewendet, und er hatte vergessen, dass er bei seinem Flug jemanden bei sich gehabt hatte?

Der Junge spähte schnell in die Finsternis, dann zurück zum Schauplatz des Hinterhalts. Dort waren weitere Schatten zu erkennen, die sich um das Feuer bewegten, und das Heulen war lauter geworden.

Khadgar hob den grausigen Trophäenspeer auf und trat festen Schrittes auf das Feuer zu. Er mochte nicht in der Lage sein, mehr als einen oder zwei mystische Blitze zu verschießen, aber die Monster wussten das nicht.

Vielleicht waren sie ja so dumm wie sie aussahen. Und ebenso unerfahren mit Zauberern, wie er es mit ihnen war.

Er überraschte sie. Sie hatten nicht damit gerechnet, dass ihre Beute, das Opfer, das von dem geflügelten Tier gestürzt war, plötzlich vor ihnen im Lichtschein des Feuers auftauchen würde, den Trophäenspeer eines der ihren fest in der Hand.

Khadgar warf den Speer seitwärts auf das Feuer. Er ließ einen Regen von Funken aufstieben, als er landete.

Der junge Magier beschwor ein paar Flammen, einen kleinen Ball, und hielt ihn in seiner Hand. Er hoffte, seine Gesichtszüge wurden jetzt ebenso dramatisch und bedrohlich beleuchtet wie zuvor die des Monsters. Wenn nicht, hatte er ein Problem.

»Verlasst diesen Ort«, brüllte Khadgar und betete, dass ihm seine angespannte Stimme nicht versagte. »Verlasst diesen Ort oder sterbt!«

Einer der größeren Kerle trat zwei Schritte auf ihn zu, und Khadgar murmelte ein Wort der Macht. Die mystischen Energien sammelten sich um seine flammende Hand. Er schleuderte die geballte Kraft und traf den grünen Nichtmenschen voll ins Gesicht. Die Bestie hatte gerade genug Zeit, eine klauenartige Hand zu ihrer brennenden Fratze zu heben, dann stürzte sie nieder.

»Flieht!«, schrie Khadgar und versuchte seine Stimme so tief klingen zu lassen, wie es ihm nur möglich war. »Flieht, oder euch erwartet das gleiche Schicksal!« Sein Bauch fühlte sich an wie Eis, und er versuchte, nicht auf die brennende Kreatur zu blicken.

Ein Speer schoss aus der Finsternis, und mit seiner letzten Energie beschwor Khadgar ein Wind, gerade stark genug, um den Speer sichtbar zur Seite zu drücken. Während er die Beschwörung wirkte, fühlte er sich einer Ohnmacht nahe. Das war sein letzter Zauber. Er war vollkommen ausgelaugt. Jetzt war es langsam an der Zeit, dass sein Bluff Wirkung zeigte.

Die ihn umstehenden Kreaturen, von denen er etwa ein Dutzend erkennen konnte, traten einen Schritt zurück. Dann einen weiteren. Noch ein Schrei, schätzte Khadgar, und sie würden zurück in den Sumpf flüchten und ihm ausreichend Zeit geben, selbst zu fliehen. Er hatte bereits entschieden, sich in Richtung Süden zu wenden, um das Armee-Lager zu erreichen.

Stattdessen erklang ein hohes, gackerndes Lachen, das Khadgar das Blut gefrieren ließ. Die Ränge der grünen Krieger teilten sich, und eine weitere Gestalt schlurfte vor. Sie war dünner und gebeugter als die anderen und trug eine Robe in der Farbe geronnenen Blutes. Die Farbe des Himmels aus Khadgars Vision. Die Gesichtszüge des Monsters waren ebenso grün und grotesk wie die der anderen, aber in seinen Augen leuchtete eine barbarische Intelligenz.

Es hielt eine Hand hoch. Dann nahm es einen Dolch und stach sich mit dessen Spitze in die Handfläche. Rötliches Blut sammelte sich in der klauenartigen Pranke.

Die Bestie in der Robe sprach ein Wort, das Khadgar noch nie zuvor gehört hatte, ein Wort, das in seinen Ohren schmerzte. Das Blut explodierte in Flammen.

»Mensch will spielen?«, fragte das robenbekleidete Monster. Es gelang ihm, grob die menschliche Sprache zu imitieren. »Will Zauberei spielen? Nothgrin kann spielen!«

»Geht jetzt!«, versuchte es Khadgar noch einmal. »Geht oder sterbt!«

Doch die Stimme des jungen Magiers schwankte nun, und die Gestalt in der Robe lachte nur. Khadgar studierte die Umgebung. Er suchte nach dem besten Ort, um wegzulaufen – und fragte sich, ob er eines der Schwerter der Wachleute packen konnte, die am Boden lagen. Und er fragte sich auch, ob Nothgrin ebenso bluffte, wie er, Khadgar, es getan hatte.

Nothgrin trat einen Schritt auf Khadgar zu, als zwei der Bestien zur Rechten des Zauberers plötzlich schrien und in Flammen aufgingen. Es geschah mit einer Plötzlichkeit, die jeden erschreckte, auch Khadgar. Nothgrin wirbelte zu den brennenden Ungeheuern herum und musste sehen, wie zwei weitere Monster sich ihnen anschlossen und wie trockener Zunder Feuer fingen. Auch sie brüllten, ihre Knie gaben nach, und sie stürzten zu Boden.

Wo gerade noch die Kreaturen gestanden hatten, erhob sich jetzt Medivh. Er schien aus sich selbst heraus zu leuchten und überstrahlte sogar das Feuer der brennenden Wagen und die Flammen der Leichen am Boden, als sauge er ihr Licht in sich auf. Er schien ruhig und entspannt. Er lachte die versammelten Kreaturen an, und es war ein wildes, brutales Lachen.

»Mein Schüler hat euch gesagt, ihr sollt gehen«, sagte Medivh. »Ihr hättet seinen Befehlen gehorchen sollen.«

Eine der Bestien stieß ein Brüllen aus, und der Meistermagier brachte sie mit einer knappen Handbewegung zum Schweigen. Etwas Hartes und Unsichtbares traf das Monster mitten ins Gesicht, und es gab ein feuchtes Krachen, als sich sein Kopf vom Rumpf löste und nach hinten rollte. Er schlug nur wenige Augenblicke vor dem Torso auf dem Boden auf.

Die übrigen Kreaturen stolperten einen Schritt zurück, dann flohen sie alle in die Nacht. Nur der Anführer, der in eine Robe gekleidete Nothgrin, gab nicht nach, und seine übergroßen Kiefer standen vor Überraschung offen.

»Nothgrin kennt dich, Mensch«, zischte er. »Du bist der, der …«

Was auch immer die Kreatur sonst noch sagen wollte, ging in einem Schrei unter, als Medivh mit einer Hand gestikulierte und das Monster von einer gewaltigen Explosion von den Füßen gerissen wurde. Kreischend wurde es in die Luft geschleudert, bis schließlich seine Lungen unter dem Druck nachgaben. Überreste seines verbrannten Körpers schwebten wie schwarze Schneeflocken herab.

Khadgar sah Medivh an, und der Magus zeigte in einem selbstzufriedenen Grinsen die Zähne. Doch das Grinsen verschwand, als er in Khadgars aschfahles Gesicht blickte.

»Geht es dir gut, Junge?«, fragte er.

»Gut«, sagte Khadgar, doch er fühlte, wie das Gewicht der Erschöpfung über ihn hereinbrach. Er versuchte zu stehen, aber seine Beine gaben unter ihm nach, und er stürzte auf die Knie, sein Geist ermattet und leer.

Medivh war sofort zur Stelle und ließ eine Handfläche an der Stirn des Jungen vorbeigleiten. Khadgar versuchte, die Hand fortzustoßen, aber ihm fehlte die Kraft.

»Ruh dich aus«, sagte Medivh. »Finde deine Stärke wieder. Das Schlimmste ist vorüber.«

Khadgar nickte blinzelnd. Er blickte auf die Monster-Leichen, die um das Feuer verstreut lagen. Medivh hätte ihn in der Bibliothek mit der gleichen Leichtigkeit töten können. Was hatte ihn dort zurückgehalten? Hatte er Khadgar doch irgendwie erkannt? Hatte sich eine vage Erinnerung oder ein wenig Menschlichkeit in ihm geregt?

Der junge Magier bemühte sich zu sprechen. »Diese … Wesen.« Seine Zunge war schwer. »Was waren das für …?«

»Orks«, sagte der Magus. »Das waren Orks. Aber jetzt erst mal keine weiteren Fragen mehr.«

Im Osten wurde der Himmel heller. Im Süden ertönte der Ruf heller Hörner. Hufschlag näherte sich.

»Die Kavallerie«, seufzte Medivh. »Zu laut und zu spät, aber sag ihnen das nicht. Sie können sich um die geflüchteten Orks kümmern. Ruh dich jetzt aus.«


Die Patrouille donnerte ins Lager. Die Hälfte der Männer stieg ab, die andere ritt weiter die Straße entlang. Die Reiter begannen, die Leichen zu untersuchen. Ein Kommando wurde abgestellt, um die Opfer der Karawane zu begraben. Die wenigen toten Orks, die Medivh nicht hatte in Flammen aufgehen lassen, wurden eingesammelt und auf das Hauptfeuer geworfen. Ihre Kleidung verkohlte, ihr Fleisch verwandelte sich in Asche.

Khadgar hatte in seiner Benommenheit nicht mitbekommen, dass Medivh ihn verlassen hatte, aber dann kehrte der Magus mit dem Kommandanten der Patrouille zurück. Der Befehlshaber war ein stämmiger, älterer Mann mit wettergegerbtem Gesicht. Sein Bart war bereits stark ergraut, und nur ein dünner Haarkranz zog sich um seinen Kopf. Er war ein großer Mann, der in seiner Rüstung und dem weiten Umhang noch beeindruckender wirkte. Über einer Schulter konnte Khadgar ein riesiges Schwert erkennen, dessen Griff mit Juwelen besetzt war.

»Khadgar, dies ist Lord Anduin Lothar«, stellte Medivh vor. »Lothar, darf ich dir meinen Schüler vorstellen? Khadgar von den Kirin Tor.«

Khadgar wurde schwindelig. Er kannte diesen Namen. Lord Lothar. Der Champion des Königs. Jugendfreund von König Llane und auch von Medivh. Die Klinge auf seinem Rücken musste das Große Königliche Schwert sein, das Azeroth gegen seine Feinde verteidigte, und …

Hatte Medivh gerade gesagt, Khadgar sei sein Schüler?

Lothar ließ sich auf ein Knie herab, um dem jungen Mann direkt in die Augen zu blicken. Er lächelte ihn an. »Also hast du endlich einen Lehrling. Musstest zur Violetten Zitadelle gehen, um einen zu finden, was, Med?«

»Einen mit angemessenen Fähigkeiten, ja«, sagte Medivh.

»Und wenn sich unsere Wald- und-Wiesen-Zauberer jetzt vor Enttäuschung in den Allerwertesten beißen, umso besser, was? Oh, sieh mich nicht so an, Medivh. Was hat der hier getan, das jemanden wie dich beeindrucken konnte?«

»Ach, das Übliche«, sagte Medivh und bleckte seine Zähne in einem wilden Grinsen. »Meine Bibliothek organisiert. Einen Greif beim ersten Versuch gezähmt. Hat es allein mit einer Horde Orks aufgenommen. Und einem Hexer!«

Lothar ließ ein lautes Pfeifen vernehmen. »Er hat deine Bibliothek organisiert? Ich bin beeindruckt.« Ein Lächeln blitzte unter seinem ergrauenden Schnurrbart auf.

»Lord Lothar«, gelang es Khadgar schließlich herauszubringen, »Euer Geschick mit dem Schwert ist selbst in Dalaran berühmt.«

»Ruh dich aus, Junge«, sagte Lothar und legte eine große Hand auf die Schulter des jungen Magiers. »Wir schnappen uns den Rest dieser Kreaturen.«

Khadgar schüttelte den Kopf. »Das werdet ihr nicht. Nicht, wenn ihr auf der Straße bleibt.«

Der Champion des Königs blinzelte überrascht, und Khadgar war sich nicht sicher, ob dies wegen seiner Anmaßung oder wegen seiner Worte war.

»Der Junge hat Recht, fürchte ich«, sagte Medivh. »Die Orks sind in den Sumpf gelaufen. Sie scheinen den Schwarzen Morast besser zu kennen als wir, und das macht sie hier so effektiv. Wir bleiben auf den Straßen, und sie halten uns zum Narren.«

Lothar kratzte sich mit seiner schweren Pranke am Hinterkopf. »Vielleicht könnten wir ein paar Greife ausleihen, um Kundschafter auszusenden.«

»Die Zwerge, die sie trainiert haben, reagieren wenig begeistert, wenn jemand anderes ihre Tiere ausleihen will«, erklärte Medivh. »Aber vielleicht kannst du ja mit ihnen reden. Und auch mit den Gnomen. Sie haben ein paar Flugmaschinen, die vielleicht besser fürs Kundschaften geeignet sind.«

Lothar nickte und rieb sich das Kinn. »Woher wusstest du, dass sie hier sein würden?«

»Ich bin einem ihrer Späher in der Nähe meines Gebiets begegnet«, erklärte Medivh so ruhig, als spräche er über das Wetter. »Es gelang mir, aus ihm herauszubekommen, dass eine große Gruppe unterwegs war, um entlang der Sumpfstraße Karawanen zu überfallen. Ich hatte gehofft, noch rechtzeitig einzutreffen, um die Leute zu warnen.« Er blickte auf die Verwüstung, die ihn umgab.

Das Sonnenlicht tat wenig, um das Bild der Zerstörung abzumildern. Die kleineren Feuer waren niedergebrannt, und die Luft roch nach verschmortem Ork-Fleisch. Eine bleiche Wolke hing über dem Ort des Massakers.

Ein junger Soldat, nur wenig älter als Khadgar, eilte auf sie zu. Sie hatten einen Überlebenden gefunden. Er befand sich in einem sehr schlechten Zustand, aber er lebte. Ob der Magus ihm helfen könne?

»Kannst du bei dem Jungen bleiben?«, bat Medivh Lord Lothar. »Er ist noch ziemlich mitgenommen von den Ereignissen.« Und dann schritt der Meistermagier über den verbrannten, blutgetränkten Boden davon. Seine lange Robe flatterte wie ein Banner.

Khadgar versuchte, aufzustehen und ihm zu folgen, aber der Champion des Königs legte seine schwere Hand auf die Schulter des Jungen und hielt ihn unten. Khadgar wehrte sich nur für einen Moment, dann setzte er sich wieder hin.

Lothar betrachtete Khadgar lächelnd. »Also hat der alte Eigenbrötler endlich einen Assistenten gefunden.«

»Schüler«, sagte Khadgar schwach, doch er fühlte, wie sich der Stolz in seiner Brust erhob. Das Gefühl brachte seinem Geist und seinen Gliedern neue Stärke. »Er hat schon viele Assistenten gehabt. Sie haben alle nicht lange durchgehalten. Das habe ich jedenfalls gehört.«

»Aha«, sagte Lothar. »Ich habe ein paar von diesen Assistenten vermittelt, und sie kehrten mit Geschichten von einem verfluchten Turm und einem verrückten, anspruchsvollen Zauberer zurück. Was hältst du von ihm?«

Khadgar blinzelte. In den letzten zwölf Stunden hatte Medivh ihn angegriffen, Wissen in seinen Kopf gebrannt, ihn auf einem Greifen durchs halbe Land geschleppt und es ihn allein mit einer Hand voll Orks aufnehmen lassen, bevor er zu seiner Rettung erschienen war. Andererseits hatte er Khadgar zu seinem Schüler gemacht, zu seinem Lehrling.

Khadgar hüstelte und sagte: »Er ist mehr, als ich erwartet hatte.«

Lothar lächelte wieder, und es lag ehrliche Wärme auf seinem Gesicht. »Er ist mehr, als irgendjemand erwartet hatte. Das ist eine seiner guten Seiten.« Lothar dachte einen Augenblick nach und sagte dann: »Das war eine sehr kluge und höfliche Antwort.«

Khadgar gelang ein schwaches Lächeln. »Lordaeron ist ein sehr kluges und höfliches Land.«

»Das habe ich auch vom König gehört. Ich zitiere: ‚Die Botschafter von Dalaran können gleichzeitig Ja und Nein sagen und außerdem noch überhaupt nichts.‘ Womit ich dich nicht beleidigen will.«

»Ich bin nicht beleidigt, Mylord«, sagte Khadgar.

Lothar blickte ihn an. »Wie alt bist du, Junge?«

Khadgar blickte den älteren Mann an. »Siebzehn, warum?«

Lothar schüttelte den Kopf und grunzte. »Das könnte einen Sinn ergeben.«

»Wie Sinn ergeben?«

»Med … ich meine, Lord Magus Medivh war ein junger Mann, viel jünger als du, als er sehr krank wurde. Aus diesem Grund hatte er niemals sehr viel Kontakt mit Menschen deines Alters.«

»Krank?«, fragte Khadgar. »Der Magus wurde krank?«

»Sehr, sehr krank«, sagte Lothar. »Er fiel in einen tiefen Schlaf, ein Koma nannten sie es. Llane und ich brachten ihn in die Northshire-Abtei, und die heiligen Brüder dort fütterten ihn mit Brühe, damit er nicht starb. Jahrelang lag er in diesem Schlaf, dann – schnapp! – wachte er auf, gesund wie ein Fisch im Wasser. Oder fast.«

»Fast?«, fragte Khadgar.

»Nun, er verlor einen großen Teil seiner Jugendjahre und noch ein paar Jahrzehnte mehr. Er schlief als Junge ein und erwachte als erwachsener Mann. Ich habe mir stets Sorgen gemacht, wie ihn das geprägt haben muss.«

Khadgar dachte an das quecksilbrige Temperament des Meistermagiers, seine plötzlichen Stimmungsschwankungen und die kindliche Freude, mit der er sich in den Kampf gegen die Orks gestürzt hatte. Wenn Medivh ein jüngerer Mann gewesen wäre, hätte sein Handeln dann mehr Sinn ergeben?

»Sein Koma«, sagte Lothar und schüttelte das kahle Haupt bei der Erinnerung daran. »Es war unnatürlich. Med nennt es ein ›Nickerchen‹, als sei es etwas vollkommen Normales gewesen. Aber wir haben niemals herausfinden können, warum es geschehen ist. Vielleicht hätte es der Magus in Erfahrung bringen können, aber er hat niemals ein Interesse an diesem Rätsel gezeigt, selbst wenn ich ihn danach fragte.«

»Ich bin Medivhs Schüler«, sagte Khadgar. »Warum erzählt Ihr mir das?«

Lothar seufzte tief und blickte über die vom Kampf Versehrte Insel hinaus. Khadgar erkannte, dass der Champion des Königs im Grunde ein ehrlicher Mann war, der es in Dalaran nicht einen Tag ausgehalten hätte. Seine Gefühle lagen klar sichtbar auf seinem verwitterten Gesicht.

Lothar biss sich auf die Lippen und sagte: »Um ehrlich zu sein, ich mache mir Sorgen um ihn. Er ist ganz allein in seinem Turm …«

»Er hat einen Kastellan. Und dann ist da noch Köchin«, warf Khadgar ein.

»… allein mit all seiner Magie«, fuhr Lothar fort. »Es scheint mir so einsam, wie er dort zurückgezogen in den Bergen lebt. Ich mache mir Sorgen um ihn.«

Khadgar nickte und fügte für sich selbst hinzu: Und das ist der Grund, dass Ihr versucht habt, Schüler aus Azeroth zu ihm zu bringen. Um Euren Freund auszuspionieren. Ihr macht Euch Sorgen um ihn, aber Ihr macht Euch auch Sorgen wegen seiner Macht. Laut sagte Khadgar: »Ihr macht Euch Sorgen, ob es ihm gut geht.«

Lothar zuckte mit den Schultern und enthüllte damit, wie sehr er sich Sorgen machte – und wie sehr er versuchte, so zu tun, als sei dem nicht so.

»Was kann ich tun, um zu helfen?«, fragte Khadgar. »Ihm zu helfen. Euch zu helfen.«

»Behalte ihn im Auge«, sagte Lothar. »Wenn du sein Schüler bist, wird er wahrscheinlich mehr Zeit mit dir verbringen. Ich will nicht, dass er …«

»Wieder in ein Koma fällt?«, fragte Khadgar. Zu einer Zeit, wo diese Orks plötzlich überall sind. Lothar antwortete mit einem weiteren Schulterzucken.

Khadgar schenkte ihm das beste Lächeln, zu dem er fähig war. »Es wäre mir eine Ehre, Euch beiden zu helfen, Lord Lothar. Wisst, dass meine Treue zuerst dem Meistermagier gelten muss, doch wenn es etwas gibt, das ein Freund wissen sollte, dann werde ich es weitergeben.«

Ein weiterer schwerer Klaps von Lothars Hand. Khadgar war erstaunt darüber, wie schlecht Lothar seine Besorgnis verbarg. Waren alle Menschen in Azeroth so offen und arglos? Khadgar erkannte, dass es noch etwas anderes gab, über das Lothar sprechen wollte.

»Es gibt noch etwas«, sagte Lothar.

Khadgar nickte höflich.

»Hat der Lord Magus mit dir über den Wächter gesprochen?«, fragte er.

Khadgar überlegte einen Augenblick, ob er so tun sollte, als wüsste er mehr, als es tatsächlich der Fall war – nur um diesem älteren, aufrechten Mann mehr zu entlocken. Doch noch während ihm der Gedanke durch den Kopf ging, verwarf er ihn. Es würde am Besten sein, sich an die Wahrheit zu halten.

»Ich habe den Begriff von Medivhs Lippen gehört«, sagte Khadgar. »Aber ich weiß keine Details.«

»Ah«, sagte Lothar. »Dann tu so, als hätte ich nichts zu dir gesagt.«

»Ich bin mir sicher, wir werden zu gegebener Zeit darüber sprechen«, erwiderte Khadgar.

»Zweifellos«, sagte Lothar. »Du scheinst ein vertrauenswürdiger junger Mann zu sein.«

»Ich bin schließlich erst seit ein paar Tagen sein Schüler«, erklärte Khadgar.

Lothar hob die Augenbrauen. »Seit ein paar Tagen? Wie lange genau bist du schon Medivhs Lehrling?«

»Wenn man bis morgen früh zählt?«, fragte Khadgar und erlaubte sich ein Lächeln. »Dann wäre es einer.«

Medivh wählte diesen Moment, um zurückzukehren. Er sah erschöpft aus. Lothar öffnete den Mund, um zu einer hoffnungsvollen Frage anzusetzen, aber der Magus schüttelte nur den Kopf. Lothar runzelte tief die Stirn, und nachdem sie ein paar Nettigkeiten ausgetauscht hatten, ging er fort, um den Rest der Aufräumarbeiten zu leiten. Der Teil der Patrouille, der auf der Straße weitergeritten war, kehrte zurück, aber die Männer hatten nichts gefunden.

»Kannst du reisen?«, fragte Medivh.

Khadgar zog sich auf die Füße, und die sandige Insel inmitten des Schwarzen Morasts erschien ihm wie ein Schiff, das von einer rauen See hin und her geworfen wurde.

»Ich denke schon«, sagte er. »Ich weiß aber nicht, ob ich schon wieder für einen Greifen bereit bin, selbst mit dem hier …« Er führte den Satz nicht zu Ende, sondern berührte nur seine Stirn.

»Das macht nichts«, sagte Medivh. »Dein Reittier wurde von den Pfeilen verschreckt und ist in Richtung Hochland davongeflogen. Wir werden zu zweit auf meinem Greif reiten müssen.« Er hob die runenverzierte Pfeife an seine Lippen und stieß ein paar kurze, scharfe Töne aus. Hoch über ihnen ertönte der Schrei eines Greifen, der am Himmel seine Kreise zog.

Khadgar sah auf und sagte: »Ich bin jetzt also Euer Schüler.«

»Ja«, sagte Medivh, das Gesicht eine starre Maske.

»Ich habe Eure Prüfungen bestanden«, sagte der Junge.

»Ja«, sagte Medivh.

»Ich fühle mich geehrt, Herr«, sagte Khadgar.

»Das freut mich«, erwiderte Medivh, und der Hauch eines Lächeln strich über sein Gesicht. »Denn jetzt beginnt der schwierige Teil.«

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