Bis zu diesem Zeitpunkt war das größte Gebäude, das Khadgar jemals gesehen hatte, die Violette Zitadelle auf der Kreuzinsel vor den Toren der Stadt Dalaran gewesen. Die majestätischen Türme und großen Hallen der Kirin Tor, mit ihren Dächern aus dickem Schiefer in der Farbe von Lapislazuli, die der Zitadelle ihren Namen gaben, hatten Khadgar stets mit besonderem Stolz erfüllt, da auch er dort zuhause war. Nichts, nicht einmal Medivhs Turm, war bei all seinen Reisen durch Lordaeron und nach Azeroth auch nur annähernd dem ehrwürdigen Glanz der Zitadelle der Kirin Tor nahe gekommen.
Bis er nach Stormwind kam.
Wie zuvor waren sie die ganze Nacht hindurch geflogen, und dieses Mal war der junge Magier überzeugt, zwischenzeitlich geschlafen zu haben, während er auf seinem Greifen durch die frostige Nachtluft ritt. Welches Wissen Medivh auch immer in seinen Geist gepflanzt hatte, es funktionierte weiterhin, denn Khadgar war sich sicher in seiner Fähigkeit, das geflügelte Raubtier mit den Knien zu lenken, und fühlte sich auf dessen Rücken wie zuhause. Der Teil seines Gehirns, in dem das Wissen ruhte, fühlte dieses Mal keinen Schmerz, sondern nur ein leichtes Pochen, als sei das geistige Gewebe verheilt und habe eine kleine Narbe hinterlassen. Sein Verstand nahm das Wissen in seinem Innern auf, doch er empfand es noch immer als etwas Fremdes.
Er erwachte, als die Sonne am Horizont hinter ihm aufging, und geriet für einen Moment in Panik, was das große Flugtier dazu brachte, eine weiche Kurve zu fliegen, die es aus Medivhs »Kielwasser« fortzog. Aber Khadgar brachte es sofort wieder unter seine Kontrolle, und als er aufblickte, lag vor ihm Stormwind und leuchtete in der Morgensonne.
Die Stadt war eine Zitadelle aus Gold und Silber. Die Mauern glänzten im Frühlicht wie ein Kelch, den ein Kastellan gerade erst geputzt hatte, und schienen ein eigenes Strahlen zu besitzen. Die Dächer glitzerten als wären sie aus Silber gefertigt, und für einen Augenblick meinte Khadgar, sie seien mit unzähligen kleinen Edelsteinen besetzt.
Der junge Magier blinzelte und schüttelte den Kopf. Die goldenen Mauern wurden zu normalem Stein, der jedoch an einigen Stellen großartig schimmerte und an anderen mit komplexen Schnitzereien verziert war. Die silbernen Dächer waren nur dunkler Schiefer, und was er für Edelsteine gehalten hatte, war der morgendliche Tau, der die Sonne in allen Farben des Regenbogens zurückwarf.
Und doch war Khadgar weiterhin über die Größe der Stadt erstaunt. Sie war so gewaltig wie irgendeine Stadt in Lordaeron, wenn nicht noch größer, und aus der Höhe betrachtet breitete sie sich in ihrer ganzen Herrlichkeit vor ihm aus. Er zählte drei Ringe von Mauern, die sich wie Bänder um die zentrale Burg zogen, und kleinere Wälle, die unterschiedliche Bezirke abtrennten. Wohin auch immer er blickte, stets breitete sich noch mehr Stadt unter ihm aus.
Selbst jetzt, in den Morgenstunden, gab es wimmelnde Bewegung darin. Rauch stieg von Feuern auf, und die Menschen sammelten sich bereits auf den offenen Marktplätzen und dem Gemeindeland. Große Wagen rumpelten aus den Stadttoren und brachten Bauern zu den gepflegten, ordentlich wirkenden Feldern, die sich vor den Mauern der Stadt ausbreiteten und fast bis zum Horizont erstreckten.
Khadgar konnte die Hälfte der Gebäude nicht identifizieren. Große Türme mochten, so weit er es beurteilen konnte, Universitäten oder Kornspeicher sein. Eine brandende Fluss-Kaskade wurde von gewaltigen Wasserrädern genutzt, doch zu welchem Zweck, war nicht zu ersehen. Eine plötzliche Flamme schoss weit zu seiner Rechten auf und mochte von einer Gießerei, einem gefangenen Drachen oder irgendeinem schweren Unfall rühren. Es war ihm ein Rätsel.
Stormwind war die größte Stadt, die Khadgar jemals gesehen hatte, und in ihrem Herzen lag Llanes Burg.
Es konnte keine andere sein. Hier schienen die Mauern tatsächlich aus Gold zu bestehen, und die Fenster waren mit Silber beschlagen. Das Dach war mit blauem Schiefer gedeckt, der tief und luxuriös wie ein Saphir anmutete, und auf den Myriaden von Türmen konnte Khadgar Flaggen mit dem Löwenkopf von Azeroth erkennen, dem Zeichen von König Llanes Hofstaat und Symbol des Reiches.
Der Burg-Komplex schien eine eigene Stadt in der umgebenden Metropole zu sein, mit zahllosen Seitengebäuden, Türmen und Hallen. Schmale Brücken spannten sich zwischen hohen Gebäuden und waren so lang, dass Khadgar überzeugt war, sie müssten durch Magie gestützt werden.
Vielleicht konnte eine solche Struktur wirklich nur von Magie geschaffen sein, dachte er und erkannte, dass dies möglicherweise der Hauptgrund dafür war, dass Medivh hier so sehr geschätzt wurde.
Der ältere Magier hob eine Hand und kreiste um einen bestimmten Turm, dessen oberstes Stockwerk eine Plattform ohne Brüstung bildete. Medivh zeigte nach unten. Einmal. Zweimal. Ein drittes Mal. Er wollte, dass Khadgar zuerst landete.
Khadgar griff auf seine vernarbten Erinnerungen zu und brachte den großen Greif elegant nach unten. Das große, adlerköpfige Tier warf seine Schwingen zurück wie ein großes Segel und verlangsamte den Flug, bis es sanft landete.
Auf dem Turm wartete bereits eine Delegation. Eine Gruppe von Dienern in blauer Livree kam angelaufen, um die Zügel zu nehmen und dem Kopf des Greifen eine schwere Mütze überzuziehen. Die fremden Erinnerungen sagten Khadgar, dass diese Mütze etwas Ähnliches wie die Kappe eines Falkners war und die Sicht des Raubvogels einschränkte. Ein anderer Diener brachte einen Eimer mit warmen Kuh-Innereien und stellte ihn vorsichtig vor dem schnappenden Schnabel des Greifen ab.
Khadgar glitt vom Rücken des Tiers und wurde herzlich von Lord Lothar persönlich begrüßt. Der stattliche Mann wirkte in seiner prunkvollen Robe, über der ein ziselierter Brustharnisch lag, sogar noch größer als sonst. Ein filigran verzierter Umhang hing über seinen Schultern.
»Schüler!«, rief Lothar und verschlang Khadgars Hand regelrecht mit seiner großen, fleischigen Pranke. »Gut zu sehen, dass du es noch immer bei ihm aushältst!«
»Mylord«, sagte Khadgar und versuchte unter dem schmerzhaften Händedruck des größeren Mannes keine Miene zu verziehen. »Wir sind die ganze Nacht hindurch geflogen. Ich …«
Der Rest von Khadgar Satz wurde von einem aufgeregten Geflatter und dem panischen Kreischen eines Greifen übertönt. Medivhs Reittier stürzte vom Himmel, und der Magus landete weit weniger elegant als sein Schüler zuvor. Der mächtige Greif glitt über die ganze Breite des Turms und stürzte beinahe auf der anderen Seite wieder hinunter. Medivh riss hart an den Zügeln. Die großen Vorderklauen des Tieres umklammerten die Turmmauer, und der ältere Magier kippte fast über die Seite.
Khadgar wartete keinen Kommentar Lord Lothars ab, sondern stürzte vor, während ihm die Menge der blaugekleideten Diener folgte. Lothar rumpelte schwerfällig hinter ihnen her.
Medivh war bereits abgestiegen, als sie bei ihm ankamen, und reichte die Zügel an den ersten der Diener weiter, der ihn erreichte. »Verdammter Seitenwind!«, fluchte der Magus. »Ich habe immer gesagt, dass dies genau der falsche Ort für ein Aviarium ist, aber hier hört ja niemand auf Zauberer. – Gute Landung, Junge«, fügte er mit einem Blick auf Khadgar hinzu, während die Diener seinen Greif umschwärmten und versuchten, das Tier zu beruhigen.
»Med«, sagte Lothar und hielt ihm eine Hand zum Gruß entgegen. »Es ist gut, dass du kommen konntest.«
Medivh blickte ihn nur verdrießlich an. »Ich kam so schnell ich konnte«, schnaubte er und reagierte offenbar auf irgendeinen Affront, der Khadgar vollkommen entgangen war. »Manchmal müsst ihr schon ohne mich klarkommen, weißt du.«
Wenn Lothar über Medivhs Laune überrascht war, so ließ er sich nichts anmerken. »Jedenfalls gut, dich zu sehen. Seine Majestät …«
»… wird warten müssen«, beendete Medivh den Satz für ihn. »Bring mich jetzt in die fragliche Kammer. Nein, ich kenne den Weg selbst. Du hast gesagt, es waren Huglar und Hugarin. Hier entlang also.« Und mit diesen Worten schritt der Magus bereits davon, auf die Seitentreppe zu, die sich zum eigentlichen Turm hinab wand. »Fünf Ebenen tiefer, dann eine Verbindungsbrücke, dann drei Ebenen hinauf! Scheußlicher Ort für ein Aviarium!«
Khadgar blickte Lothar an. Der größere Mann rieb sich mit der fleischigen Hand über den kahlen Schädel und schüttelte den Kopf. Dann folgte er dem Zauberer, und auch Khadgar zog hinter ihm her.
Medivh war verschwunden, als sie den Fuß der Wendeltreppe erreichten, doch eine Litanei von Beschwerden und gelegentlichen Flüchen war von weit vor ihnen zu hören und wurde langsam leiser.
»Er befindet sich ja in einer ziemlich schlechten Laune«, sagte Lothar. »Ich bringe dich zur Kammer der Magier. Dort werden wir ihn finden.«
»Er war letzte Nacht sehr unruhig«, sagte Khadgar, um sich für seinen Meister zu entschuldigen. »Er war fort gewesen, und offenbar erreichte Euer Ruf den Turm kurz nachdem er zurückgekehrt war.«
»Hat er dir erzählt, worum es bei diesem ganzen Ärger geht, Schüler?«, fragte Lothar. Khadgar musste verneinen.
Der Champion Anduin Lothar runzelte die Stirn. »Zwei der großen Zauberer von Azeroth sind tot, ihre Körper fast zur Unkenntlichkeit verbrannt, ihre Herzen aus der Brust gerissen. Sie wurden in ihrer Kammer ermordet, und es gibt Indizien …« Lord Lothar zögerte einen Moment, als suche er nach den richtigen Worten. »Es gibt Indizien, die auf dämonische Aktivität hinweisen. Darum sandte ich meinen schnellsten Boten, um den Magus zu holen. Vielleicht kann er uns sagen, was hier geschehen ist.«
»Wo sind die Leichen?«, schrie Medivh, als Lothar und Khadgar ihn schließlich einholten. Sie befanden sich hoch oben in einem anderen Turm der Burg, und die Stadt breitete sich hinter einem großen offenen Fenster aus, das gegenüber der Tür lag.
Der Raum war ein einziges Chaos und wirkte, als sei er von Orks durchsucht worden – von schlampigen Orks! Jedes Buch war aus dem Regal gerissen worden, alle Schriftrollen lagen aufgerollt über die Kammer verteilt, viele von ihnen zerfetzt. Alchemistische Geräte waren zerschmettert, Pulver und Salben über den Boden verstreut worden.
Im Zentrum des Raumes befand sich ein Symbol der Macht, und eine Inschrift war in den Boden selbst eingegraben. Der Ring bestand aus zwei konzentrischen Kreisen, zwischen denen magische Worte zu lesen waren. Die Einschnitte im Boden waren tief und mit einer klebrigen, dunklen Flüssigkeit gefüllt. Es gab zwei riesige Brandflecken auf dem Boden, jeder so groß wie ein Mann. Sie befanden sich zwischen dem Ring und dem Fenster.
Solche eingeschnittenen Kreise dienten nur einem Zweck, das wusste Khadgar. Der Bibliothekar der Violetten Zitadelle hatte ihn stets vor ihnen gewarnt.
»Wo sind die Leichen?«, wiederholte Medivh, und Khadgar war froh, dass er nicht derjenige war, der diese Frage beantworten musste. »Wo sind die Überreste von Huglar und Hugarin?«
»Wir haben sie kurz, nachdem wir sie fanden, entfernt«, erklärte Lothar ruhig. »Es wäre unziemlich gewesen, sie hier zu lassen. Wir wussten nicht, wann du kommen würdest.«
»Ihr wusstet nicht, ob ich kommen würde, willst du wohl sagen«, schnappte Medivh. »In Ordnung. In Ordnung. Wir können immer noch etwas retten. Wer war in diesem Raum?«
»Die Zauberer-Lords Huglar und Hugarin …«, begann Lothar.
»Natürlich«, zischte Medivh scharf. »Sie müssen ja hier gewesen sein, sonst hätten sie nicht hier sterben können. Wer noch?«
»Einer ihrer Diener hat sie gefunden«, fuhr Lothar fort. »Dann wurde ich gerufen. Und ich brachte ein paar Wachleute mit, um die Leichen hinauszutragen. Sie sind noch nicht bestattet worden – wenn du sie untersuchen willst …«
Medivh war bereits tief in Gedanken versunken. »Hmm. Egal. Darum können wir uns später kümmern. Also ein Diener, du selbst und ungefähr vier Wachleute, würdest du sagen? Und jetzt ich und mein Schüler. Sonst niemand?«
»Niemand, der mir einfiele«, sagte Lothar.
Der Magus schloss die Augen und murmelte ein paar Worte in seinen Bart. Es mochte ein Fluch oder ein Zauber sein. Dann sprangen seine Augen wieder auf. »Interessant. Mein Vertrauen!«
Khadgar zog tief den Atem ein. »Lord Magus.«
»Ich brauche deine Jugend und Unerfahrenheit. Meine abgestumpften, alten Augen sehen vielleicht nur das, was sie zu sehen erwarten. Ich brauche frische Augen. Hab jetzt keine Angst, Fragen zu stellen. Komm hierher. Stell dich in die Mitte der Kammer. Nein, geh nicht über den Ring. Wir wissen nicht, ob ihm noch ein Zauber anhaftet. Stell dich hierhin. Jetzt. Was spürst du?«
»Ich sehe den zerstörten Raum«, begann Khadgar.
»Ich sagte nicht ›Sehen‹«, tadelte ihn Medivh. »Ich sagte ›Spüren‹!«
Khadgar atmete tief ein und wob einen kleinen Zauber, der dazu diente, die Sinne zu schärfen und normalerweise half, verlorene Dinge zu finden. Es war ein einfacher Wahrsage-Zauber, wie er ihn Hunderte Male in der Violetten Zitadelle benutzt hatte. Er eignete sich besonders gut dafür, Dinge zu finden, die andere verborgen halten wollen.
Doch schon bei den ersten Worten seines Zauber-Gesangs fühlte Khadgar, dass hier etwas anderes war. Die Magie in diesem Raum besaß eine seltsame Trägheit. Oft strahlte Magie ein Gefühl der Leichtigkeit und Energie aus, aber diese hier fühlte sich dickflüssig an, beinahe fest, und legte sich schwer und erstickend auf die Lungen des jungen Zauberers. Khadgar hatte so etwas noch nie zuvor gespürt und fragte sich, ob es an den Symbolen der Macht lag oder an den Kräften und Beschwörungen der nun toten Zauberer.
Es war ein miefiges Gefühl, wie abgestandene Luft in einem Raum, der jahrelang verschlossen war. Khadgar versuchte, die Energien zusammenzuziehen, aber sie schienen sich zu wehren, folgten seinen Wünschen nur mit größtem Widerwillen.
Khadgars Gesicht wurde hart, als er versuchte, mehr von der Macht dieses Raumes, von seinen magischen Energien, in sich selbst zu ziehen. Der Zauber, den er anwandte, war von einfacher Natur. Wenn überhaupt, so hätte er an einem Ort wie diesem, wo Beschwörungen alltäglich waren, einfacher zu wirken sein sollen.
Und plötzlich spülte die dicke, übel riechende Magie über den jungen Zauberer hinweg. Sie war auf ihm und überall um ihn herum, als habe er den Stein ganz unten herausgezogen und damit die ganze Wand über sich zum Einsturz gebracht. Sie begrub ihn unter sich. Die Macht der dunklen, schweren Magie fiel auf ihn wie eine erstickende Decke, zertrümmerte den Zauber unter sich und stieß Khadgars Körper auf die Knie. Er schrie.
Medivh war sofort an seiner Seite und half ihm wieder auf die Beine. »Ganz ruhig«, sagte der Magus. »Du hast größeren Erfolg gehabt, als ich es erwartete. Guter Versuch. Exzellente Arbeit.«
»Was ist das?«, gelang es Khadgar hervorzupressen. »So etwas habe ich noch nie gefühlt. Schwer. Widerlich. Erstickend.«
»Das ist gut«, sagte Medivh. »Gut, dass du es gefühlt hast. Gut, dass du durchgehalten hast. Die Magie ist an diesem Ort grauenhaft pervertiert, ein Fluch dessen, was früher hier geschehen ist.«
»Ihr meint, wie ein Spuk?«, fragte Khadgar. »Selbst in Karazhan habe ich niemals …«
»Nein, nicht so«, sagte Medivh. »Etwas viel Schlimmeres. Die beiden toten Zauberer haben Dämonen beschworen. Es ist dieser Fluch, den du spürst, diese Schwere der Magie. Ein Dämon war hier. Das hat Huglar und Hugarin getötet, diese armen Narren.«
Für einen Augenblick herrschte drückende Stille in der Kammer. Dann sagte Lothar: »Dämonen? In den Türmen des Königs? Ich kann nicht glauben, dass …«
»Oh, glaub es ruhig«, sagte Medivh. »Egal, wie gelehrt ein Zauberer ist, wie weise und wundervoll, wie mächtig und stark, es gibt immer noch einen Splitter der Macht, ein Mehr an Wissen, ein weiteres Geheimnis, das jeder Magier herausfinden will. Ich glaube, Huglar und Hugarin sind in diese Falle getappt und haben Mächte von der anderen Seite des Großen Dunklen Jenseits beschworen. Und dafür mussten sie den Preis bezahlen. Narren. Sie waren Freunde und Kollegen, aber sie waren, was das angeht, törichte Narren.«
»Aber wie?«, fragte Lothar. »Sicher gab es Schutzvorkehrungen. Abwehrzauber. Dies hier auf dem Boden ist ein mystisches Symbol der Macht.«
»Und leicht durchschlagen worden, leicht durchbrochen«, sagte Medivh und beugte sich über den Ring, auf dem das getrocknete Blut der beiden Magier glitzerte. Er griff hinab und hob einen dünnen Strohhalm auf, der über den erkalteten Steinen gelegen hatte. »Aha! Ein Halm von einem Besen. Wenn der hier lag, als sie ihre Beschwörung begannen, dann konnten alle Beschwörungen und Amulette der Welt sie nicht schützen. Für den Dämon war der Kreis nicht mehr als ein Bogen, ein Tor in diese Welt. Er trat mit brennendem Höllenfeuer heraus und griff die armen Narren an, die ihn in diese Welt geholt hatten. Ich habe so etwas schon früher gesehen.«
Khadgar schüttelte den Kopf. Die dicke Finsternis, die von allen Seiten auf ihm zu lasten schien, wich ein wenig, und er konnte seinen Geist wieder sammeln. Er blickte sich in der Kammer um. Sie war bereits ein Katastrophengebiet – der Dämon hatte bei seinem Angriff alles zerstört. Wenn es einen Besen-Halm gegeben und dieser den Kreis durchbrochen hatte, wäre er sicher während des Kampfes an einen anderen Platz bewegt worden.
»Wie wurden die Leichen gefunden?«, fragte Khadgar.
»Was?«, zischte Medivh mit einer Schärfe, die Khadgar beinahe zusammenzucken ließ.
»Es tut mir Leid«, entschuldigte sich Khadgar schnell. »Ihr sagtet, ich solle Fragen stellen.«
»Ja, ja, natürlich«, sagte Medivh, aber der hitzige Ton seiner Stimme kühlte nur wenig ab. Zum Champion des Königs sagte er: »Nun, Anduin Lothar, wie wurden die Leichen gefunden?«
»Als ich hereinkam, lagen sie auf dem Boden. Der Diener hatte sie nicht bewegt«, sagte Lothar.
»Mit den Gesichtern nach oben oder nach unten?«, fragte Khadgar so ruhig er nur konnte. Er spürte den eisigen Blick des Magus. »Die Köpfe dem Kreis zugewandt oder dem Fenster?«
Lothars Gesicht verdüsterte sich, als er an den grauenhaften Anblick zurückdachte. »Dem Kreis zugewandt. Und mit den Gesichtern nach unten. Ja, ich bin mir sicher. Sie waren am ganzen Körper schwer verbrannt, und wir mussten sie umdrehen, um sicherzugehen, dass es sich um Huglar und Hugarin handelte.«
»Worauf willst du hinaus, mein Vertrauen?«, fragte der Magus, der jetzt am offenen Fenster saß und sich den Bart strich.
Khadgar blickte auf die beiden Brandflecken zwischen dem gescheiterten Schutzkreis und dem Fenster und versuchte, von ihnen als Leichen zu denken und nicht als einst lebende Zauberer. »Wenn man jemanden von vorne trifft, fällt er nach hinten. Wenn man jemanden von hinten trifft, fällt er nach vorne. War das Fenster offen, als Ihr hier eingetroffen seid?«
Lothar blickte auf das offene Fenster. Die große Stadt, die dahinter ausgebreitet lag, war für einen Augenblick vergessen. »Ja. Nein. Ja, ich glaube schon. Aber es könnte von dem Diener geöffnet worden sein. Hier herrschte ein schrecklicher Gestank. Das hatte zuerst die Aufmerksamkeit des Dieners auf sich gezogen. Ich kann ihn fragen.«
»Nicht nötig«, sagte Medivh. »Das Fenster stand wahrscheinlich offen, als dein Diener eintrat.« Der Magus erhob sich und trat zu den Brandflecken. »Also glaubst du, mein Vertrauen«, sagte er, »dass Huglar und Hugarin hier standen und den magischen Kreis beobachteten, während etwas durch das Fenster hereinkam und sie von hinten traf.« Zur Untermalung dieser These schlug er sich selbst mit der offenen Handfläche auf den Hinterkopf. »Sie fielen nach vorne und verbrannten in dieser Position.«
»Ja, Herr«, sagte Khadgar. »Ich meine, es ist eine Theorie.«
»Eine gute«, sagte Medivh. »Aber eine falsche, fürchte ich. Zunächst einmal würden die beiden Magier dort stehen und auf überhaupt nichts blicken, es sei denn, sie behielten den magischen Kreis im Auge. Also beschworen sie einen Dämon. Solch ein Ring wird zu keinem anderen Zweck benutzt.«
»Aber …«, begann Khadgar, doch der Magus erstickte die Worte mit einem durchdringenden Blick.
»Und«, fuhr Medivh fort, »während deine Theorie bei einem einzelnen Angreifer mit einem Stock oder einem Knüppel funktionieren würde, funktioniert sie nicht so gut bei den dunklen Energien der Dämonen. Hätte die Bestie Feuer geatmet, hätte sie die beiden Zauberer stehend erwischen können. Der Dämon hätte sie getötet, und während die Männer brannten, fielen ihre Körper nach vorne. Du hast gesagt, die Leichen seien vorne und hinten verbrannt gewesen?« Mit dieser Frage wandte er sich an Lothar.
»Ja«, sagte der Champion des Königs.
Medivh hielt eine Handfläche vor sich. »Dämon atmet Feuer. Verbrennt von vorne. Huglar – oder Hugarin – fällt nach vorne, Flammen breiten sich auf dem Rücken aus … Es sei denn, der Dämon trifft Hugarin – oder Huglar – in den Rücken, dreht die Leiche dann um, um sicherzustellen, dass auch die Vorderseite verbrannt wird, dreht sie dann wieder um. Sehr unwahrscheinlich. Dämonen gehen nicht so methodisch vor.«
Khadgar fühlte, wie sich die Wärme eines peinlichen Errötens auf sein Gesicht legte. »Es tut mir Leid. Es war nur eine Theorie.«
»Und eine gute«, wiederholte Medivh schnell. »Nur falsch, das ist alles. Du hast Recht. Und das Fenster steht offen, denn so hat der Dämon den Turm verlassen. Er ist jetzt frei in der Stadt unterwegs.«
Lothar unterdrückte einen Fluch und sagte: »Bist du dir sicher?«
Medivh nickte. »Absolut. Aber er wird sich wahrscheinlich für den Augenblick verstecken und zurückhalten. Auch wenn er zwei Narren wie Huglar und Hugarin überrascht hat und töten konnte, muss das die Kräfte eines normalen Dämons sehr erschöpft haben. Deshalb habt ihr auch bisher noch nichts Neues von ihm gehört.«
»Ich kann sofort Suchmannschaften organisieren«, erklärte Lothar.
»Nein«, sagte Medivh. »Ich will diese Sache selbst erledigen. Es nützt nichts, gute Leben den schlechten hinterher zu werfen. Aber ich muss natürlich die Leichen sehen. Dann weiß ich, womit wir es hier zu tun haben.«
»Sie liegen in einer kühlen Kammer des Weinkellers«, sagte Lothar. »Ich kann dich dorthin bringen.«
»Gleich«, sagte Medivh. »Ich will mich hier noch ein wenig umsehen. Kannst du mich und meinen Schüler für einen Augenblick allein lassen?«
Lothar zögerte einen Moment, dann sagte er: »Natürlich. Ich warte draußen vor der Tür.« Bei seinen letzten Worten blickte er Khadgar scharf an, dann ging er.
Der Riegel der Tür fiel zu, und es herrschte Schweigen in der Kammer. Medivh ging von Tisch zu Tisch und begutachtete die zerfledderten Bücher und zerrissenen Papiere. Er hielt einen Brief mit einem purpurnen Siegel hoch und schüttelte den Kopf. Langsam zerknüllte er das Pergament in seiner Hand.
»In zivilisierten Ländern«, sagte er mit leicht angespannter Stimme, »widersprechen Schüler ihren Meistern nicht. Zumindest nicht in der Öffentlichkeit.« Er wandte sich Khadgar zu, und der Junge erkannte im Gesicht des alten Mannes düstere Gewitterwolken.
»Es tut mir Leid«, sagte Khadgar. »Ihr sagtet, ich solle Fragen stellen, und die Position der Leichen schien zu diesem Zeitpunkt nicht richtig, aber jetzt, da ihr erklärt habt, wie die Körper verbrannt wurden …«
Medivh hob eine Hand, brachte Khadgar zum Schweigen. Dieser zögerte einen Moment, dann ließ er langsam den angehaltenen Atem heraus.
»Genug. Du hast das Richtige getan«, sagte der Magus, »nicht mehr und nicht weniger, als das, worum ich dich gebeten hatte. Und wenn du nicht gesprochen hättest, so wäre mir nicht klar geworden, dass der Dämon wahrscheinlich den Turm hinab geklettert ist, und ich hätte unnütze Zeit damit vergeudet, den Burgkomplex zu durchsuchen. Aber du hast Fragen gestellt, weil du nicht viel über Dämonen weißt, und das ist Unwissenheit. Und Unwissenheit werde ich nicht tolerieren.«
Der ältere Magier blickte Khadgar an, aber es lag ein Lächeln auf seinen Mundwinkeln. Khadgar war sich sicher, dass der Sturm vorübergezogen war, und ließ sich auf einen Stuhl nieder. Er begann: »Lothar …«
»Wird warten«, sagte Medivh. »Das kann er gut, dieser Anduin Lothar. Also, was hast du in deiner Zeit in der Violetten Zitadelle über Dämonen gelernt?«
»Ich habe die Legenden gehört«, sagte Khadgar. »In den Ersten Tagen gab es Dämonen im Land, und die großen Helden erhoben sich, um sie zu vertreiben.« Er dachte an Medivhs Mutter, die die Dämonen in Stücke sprengte und sich deren Herrn stellte, aber er sagte nichts. Es war nicht nötig, Medivh wieder wütend zu machen, nachdem er sich gerade erst beruhigt hatte.
»Das sind die Grundlagen«, sagte Medivh. »Was wir dem gemeinen Volk erzählen. Was weißt du sonst noch?«
Khadgar zog tief den Atem ein. »Die offiziellen Lehren in der Violetten Zitadelle besagen, dass man die Dämonologie meiden, einen weiten Bogen um sie machen, ihr abschwören soll. Jeder Versuch, Dämonen zu beschwören, muss aufgespürt und sofort gestoppt werden, und jene, die sich solchen Aktivitäten widmen, müssen aus den Reihen der Kirin Tor verstoßen werden. Oder Schlimmeres. Es gab Geschichten unter den jungen Studenten …«
»Geschichten, die auf Tatsachen basieren«, sagte Medivh. »Aber du bist ein neugieriger Bursche. Du weißt mehr, nehme ich an?«
Khadgar neigte nachdenklich den Kopf und wählte seine Worte sorgfältig. »Korrigan, unser Bibliothekar, besitzt eine umfangreiche Sammlung von … Material.«
»Und er brauchte jemanden, der ihm half, dieses Material zu sortieren«, sagte Medivh trocken. Khadgar musste gezuckt haben, denn Medivh fügte hinzu: »Aber das ist nur eine Vermutung von mir, mein Vertrauen.«
»Das Material besteht zum größter Teil aus Volkssagen und Berichten örtlicher Behörden, die sich um Dämonen-Anbeter drehen. Die meisten Texte berichten von einzelnen Menschen, die böse Taten im Namen irgendeines alten Dämons aus den Legenden begehen. Es gibt nichts über tatsächliche Beschwörungen eines Dämons. Keine Zauber, keine arkanen Schriften.« Khadgar trat auf den Schutzkreis zu. »Keine Zeremonien.«
»Natürlich«, sagte Medivh. »Selbst Korrigan würde so etwas einem Studenten nicht zumuten. Wenn er solches Material besitzt, wird er es getrennt von den anderen Texten aufbewahren.«
»Angesichts dieser eher dürftigen Geschichten nimmt man allgemein an, dass die Dämonen besiegt und vollkommen aus dieser Welt vertrieben wurden. Sie wurden aus der Welt des Lichts und der Lebenden ausgestoßen und hausen in ihrem eigenen Reich.«
»Dem Großen Dunklen Jenseits«, sagte Medivh und betonte seine Worte wie ein Gebet.
»Sie sind noch immer dort. Das behaupten zumindest die Legenden«, sagte Khadgar. »Aber sie wollen wieder zurückkommen. Manche sagen, sie besuchen Menschen mit einem schwachen Willen im Schlaf und bringen sie dazu, alte Zauber zu finden und Opfer darzubringen. Manchmal geht es darum, ihnen einen Weg zu öffnen, damit sie wieder ganz zurückkommen können. Andere sagen, sie suchen Anbeter und Opfer, um die Welt wieder so zu machen, wie sie einst war, blutig und von Gewalt beherrscht. Und erst dann werden sie zurückkehren.«
Medivh schwieg einen Moment lang, strich sich über den Bart und sagte: »Sonst noch etwas?«
»Es gibt mehr. Details und einzelne Geschichten. Ich habe Schnitzereien von Dämonen gesehen, Bilder, Diagramme.« Wieder fühlte Khadgar das Bedürfnis in sich aufsteigen, Medivh von seiner Vision zu berichten, von der Dämonen-Armee, von Sargeras. Stattdessen sagte er: »Und es gibt ein altes Epos, das erzählt, wie Aegwynn in einem fernen Land gegen eine Horde von Dämonen gekämpft hat.«
Diese Erwähnung brachte ein sanftes, wissendes Lächeln auf Medivhs Gesicht. »Ah ja, ›Das Lied der Aegwynn‹. Man findet dieses Gedicht in den Quartieren vieler mächtiger Zauberer, musst du wissen.«
»Mein Lehrer Lord Guzbah war sehr daran interessiert«, sagte Khadgar.
»Wirklich?«, sagte Medivh lächelnd. »Bei allem gebührenden Respekt, aber ich weiß nicht, ob Guzbah wirklich bereit ist für dieses Gedicht. Zumindest nicht in seiner wahren Form.« Er hob die Augenbrauen. »Was du gesagt hast, entspricht im Grunde der Wahrheit. Viele Menschen gießen sie in die Form von Legenden und Märchen, aber ich glaube, du weißt genauso gut wie ich, dass Dämonen real sind, und dass sie da draußen existieren, und ja, sie stellen tatsächlich eine Bedrohung für jene dar, die auf dieser von der Sonne beschienenen Welt wandeln. Und auch alle anderen Welten müssen sich vor ihnen furchten. Ich glaube jetzt, ich glaube fest, dass deine Welt mit dem roten Himmel ein solcher Ort war, eine andere Welt auf der anderen Seite des Großen Dunklen Jenseits. Das Jenseits ist ein Gefängnis für jene Dämonen, ein Ort ohne Licht, und sie sind sehr, sehr eifersüchtig auf uns und sehnen sich danach, wieder hierher zurückzukehren.«
Khadgar nickte, und Medivh fuhr fort: »Aber deine Annahme, dass ihre Opfer einen schwachen Willen haben, ist falsch, auch wenn es wieder ein gut gemeinter Irrtum ist. Es gibt mehr als genug eigennützige Bauern, die eine dämonische Kraft aus Rache gegen eine frühere Liebe anrufen, oder dumme Kaufleute, die die Rechnung eines Schuldners mit einer schwarzen Kerze verbrennen und dabei den alten Namen einer einst großen dämonischen Kraft in ihrem Mund böse verstümmeln. Aber nicht weniger häufig sind jene, die in vollem Bewusstsein in den Abgrund gehen, die sich für gelehrt halten und sicher fühlen, dass keine Verlockung oder Bedrohung ihnen etwas anhaben kann – dass sie stark genug sind, die dämonischen Energien zu bändigen, die jenseits der Mauern der Welt wüten. Sie sind viel gefährlicher als der Pöbel, denn wie du weißt, ist das Beinahe-Scheitern eines mächtigen Zauberers viel tödlicher als das vollkommene Scheitern eines Versagers.«
Khadgar konnte nur nicken und fragte sich wieder, ob Medivh die Macht hatte, in seinem Geist zu lesen. »Aber dies waren mächtige Magier – Huglar und Hugarin, meine ich.«
»Die mächtigsten in Azeroth«, sagte Medivh. »Die weisesten und besten Zauberer, magische Berater von König Llane. Angesehen, weise und gut versorgt!«
»Sicher hätten sie es besser wissen müssen?«, fragte Khadgar.
»Das sollte man meinen«, sagte Medivh. »Doch hier stehen wir in den Trümmern ihrer Kammer, und ihre dämonenverbrannten Leichen liegen im Weinkeller.«
»Warum haben sie es dann getan?« Khadgar runzelte die Stirn und versuchte, den Magus nicht durch eine dumme Frage zu beleidigen. »Wenn sie so viel wussten, warum haben sie dann einen Dämon beschworen?«
»Dafür kann es viele Gründe geben«, seufzte Medivh. »Vermessenheit, jener falsche Stolz, der vor dem Fall kommt. Übersteigertes Selbstvertrauen – in jedem Einzelnen von ihnen … und noch dadurch verdoppelt, dass sie zusammenarbeiteten. Und Furcht, nehme ich an, vor allem Furcht.«
»Furcht?« Khadgar blickte Medivh fragend an.
»Furcht vor dem Unbekannten«, sagte Medivh. »Furcht vor dem Bekannten. Furcht vor Dingen, die mächtiger sind als sie selbst.«
Khadgar schüttelte den Kopf. »Was könnte mächtiger sein als zwei der größten und weisesten Zauberer von Azeroth?«
»Ah«, machte Medivh, und ein winziges Lächeln erblühte in seinem Bart. »Das bin dann wohl ich. Sie haben sich selbst getötet, als sie einen Dämon riefen und mit Mächten spielten, die man besser in Ruhe lassen sollte, weil sie sich vor mir fürchteten.«
»Vor Euch?«, fragte Khadgar, und die Überraschung in seiner Stimme war größer als er es zeigen wollte. Einen Augenblick lang fürchtete er, er habe den Magus ein weiteres Mal beleidigt.
Aber Medivh atmete nur tief ein und ließ die Luft langsam wieder ausströmen. »Vor mir. Sie waren Narren, aber ich gebe auch mir selbst die Schuld. Komm, Junge. Lothar kann warten. Es ist an der Zeit, dass ich dir die Geschichte der Wächter und des Ordens von Tirisfal erzähle, der alles ist, was zwischen uns und der Finsternis steht.«