»Stimmt etwas nicht?«, fragte Medivh, und Khadgar merkte plötzlich, wie der Blick des Meistermagiers wieder schwer auf ihm lastete. Wieder fühlte er sich wie ein Käfer, dieses Mal jedoch wie einer, der versehentlich über den Tisch eines Käfersammlers gekrochen war. Die Flammen hatten das Empfehlungsschreiben bereits zur Hälfte verschlungen. Das Wachssiegel schmolz und tropfte auf die Fliesen des Observatoriums.
Khadgar war sich darüber im Klaren, dass seine Augen und sein Mund weit offen standen, sein Gesicht blutlos und bleich war. Er versuchte, die Luft zu einer Antwort aus seinen Lungen zu zwingen, doch ihm gelang nur ein ersticktes Röcheln.
Die dunklen, schweren Brauen kräuselten sich amüsiert. »Bist du krank? Moroes, ist der Junge krank?«
»Etwas außer Atem vielleicht«, sagte Moroes in gelangweiltem Tonfall. »Es war ein langer Aufstieg.«
Schließlich gelang es Khadgar, seine Sinne genügend zu sammeln, um zu sagen: »Das Schreiben!«
»Ah«, sagte Medivh. »Ja. Danke, ich hatte es fast vergessen.« Er ging zu dem Kohlebecken hinüber und ließ das brennende Pergament hinein fallen. Ein blauer Feuerball explodierte spektakulär bis auf Schulterhöhe und sank dann zu einer normal aussehenden Flamme herab, die den Raum mit einem warmen, rötlichen Leuchten erfüllte. Von dem Empfehlungsschreiben und seinem roten Siegel – das Symbol der Kirin Tor – war nichts mehr zu sehen.
»Aber Ihr habt es nicht gelesen!«, sagte Khadgar, dann fing er sich. »Ich meine, Herr, bei allem gebührenden Respekt …«
Der Meistermagier lachte leise und ließ sich in einen großen Sessel aus Leinwand und dunklem, geschnitztem Holz nieder. Das Kohlebecken beleuchtete sein Gesicht und unterstrich die tiefen Falten, die sich zu einem Lächeln geformt hatten. Trotzdem konnte Khadgar sich nicht entspannen.
Medivh beugte sich in seinem Sessel vor und sagte: »Oh, Großer und Verehrter Magus Medivh, Meistermagier von Karazhan, ich entbiete Euch die Grüße der Kirin Tor, der Herren der gelehrtesten und mächtigsten aller magischen Akademien, Gilden und Gesellschaften, der Berater der Könige, der Lehrer der Gelehrten, der Enthüller der Geheimnisse … Das geht noch eine ganze Zeit lang so weiter, und mit jedem Satz blasen sie sich ein bisschen mehr auf. Und? Wie schlag ich mich bisher?«
»Das kann ich nicht sagen«, antwortete Khadgar. »Mir wurde aufgetragen …«
»… den Brief nicht zu öffnen«, beendete Medivh den Satz. »Aber du hast ihn trotzdem aufgemacht.«
Der Meistermagier blickte Khadgar direkt in die Augen, und dem jungen Mann stockte der Atem. In Medivhs Blick flackerte etwas, und Khadgar fragte sich, ob der Meistermagier die Macht besaß, Zauber zu wirken, ohne dass irgendjemand es bemerkte.
Khadgar nickte langsam und wappnete sich für die Antwort.
Medivh lachte laut. »Wann?«
»Auf der … auf der Reise von Lordaeron nach Kul Tiras«, sagte Khadgar, unsicher, ob die Worte seinen potenziellen Mentor amüsieren oder verärgern würden. »Wir lagen für zwei Tage in einer Flaute und …«
»… die Neugier ging mit dir durch«, beendete Medivh wieder seinen Satz. Er lächelte, und es war ein reines, weißes Lächeln unter dem ergrauenden Bart. »Ich hätte den Brief wahrscheinlich schon geöffnet, sobald Dalarans Violette Zitadelle außer Sicht geraten wäre.«
Khadgar atmete tief ein und sagte: »Ich dachte auch darüber nach, aber ich fürchtete, sie würden Wahrsage-Zauber einsetzen, zumindest auf die kurze Entfernung.«
»Und du wolltest weit von jedem Zauber und jeder Nachricht entfernt sein, die dich hätte zurückrufen können, weil du den Brief geöffnet hast. Und du hast ihn wieder gut genug zusammengesetzt, um ein flüchtiges Auge zu täuschen. Du warst dir sicher, ich würde das Siegel sofort brechen und nicht bemerken, dass du daran herumgepfuscht hast.« Medivh erlaubte sich ein leichtes Lächeln, aber dann zog er sein Gesicht zu einem festen, konzentrierten Knoten zusammen. »Wie habe ich das gemacht?«, fragte er.
Khadgar blinzelte. »Was gemacht, Herr?«
»Wie habe ich gewusst, was in dem Brief stand?«, fragte Medivh mit herabgezogenen Mundwinkeln. »Der Brief, den ich gerade verbrannt habe, erklärt, dass ich von dem Spürsinn und der Intelligenz des jungen Khadgar zutiefst beeindruckt sein werde. Beeindrucke mich.«
Khadgar blickte Medivh an, und das joviale Lächeln, das nur wenige Sekunden zuvor seinen Mund umspielte, hatte sich vollkommen aufgelöst. Das freundliche Gesicht war jetzt dem Antlitz einer primitiven Stein-Gottheit gewichen, streng und nachtragend. Die Augen, in denen gerade noch Humor blitzte, schienen nun nur mit Mühe eine versteckte Wut verbergen zu können. Die Brauen ballten sich zusammen wie die dunkle Sturmfront eines Gewitters.
Khadgar stammelte für einen Augenblick sinnlos, dann sagte er: »Ihr habt in meinem Geist gelesen.«
»Ein naheliegender Gedanke«, sagte Medivh. »Aber nein. Du bist im Augenblick ein brodelnder Eintopf von Nerven, und das macht es unmöglich, deinen Geist zu lesen. Einmal falsch.«
»Ihr habt diese Art von Schreiben schon früher bekommen«, sagte Khadgar. »Von den Kirin Tor. Ihr wisst, welche Art von Briefen sie schreiben.«
»Auch möglich«, sagte der Meistermagier. »Da ich solche Briefe erhalten habe und sie dazu neigen, sich in Selbstbeweihräucherung zu suhlen. Aber du kennst die genauen Worte genau so gut wie ich. Ein guter Versuch und der offensichtlichste, aber erneut hast du Unrecht. Zweimal falsch.«
Khadgars Mund formte sich zu einer straffen Linie. Sein Geist raste, und sein Herz hämmerte in seiner Brust. »Sympathetische Magie«, sagte er schließlich.
Medivhs Augen ließen nicht erkennen, was hinter ihnen vorging, und seine Stimme blieb ruhig. »Erkläre.«
Khadgar nahm einen tiefen Atemzug. »Eine der wesentlichen Formen von Magie. Wenn jemand einen Gegenstand berührt, dann lässt er einen Teil seiner eigenen magischen Aura oder Schwingung darin zurück. Da die Auren von Mensch zu Mensch verschieden sind, ist es möglich, sich mit dem einen zu verbinden, indem man das andere beeinflusst. Auf diese Art kann man die Haarlocke einer Person verwenden, um einen Liebeszauber auf sie zu legen, oder man kann eine Münze zu ihrem ursprünglichen Besitzer zurückverfolgen.«
Medivhs Augen verengten sich leicht, und er strich sich mit einem Finger über das bärtige Kinn. »Fahre fort.«
Khadgar hielt für einen Moment inne und fühlte das Gewicht von Medivhs Blick, der auf ihn drückte. Das war alles, was er aus Vorlesungen wusste. Er hatte den halben Weg zum Ziel zurückgelegt. Aber wie hatte Medivh die sympathetische Magie genutzt, um herauszufinden …
»Je mehr jemand einen Gegenstand benutzt, desto stärker die Resonanz«, sagte Khadgar schnell. »Also erlangt ein Gegenstand, der viel verwendet wird und viel Aufmerksamkeit erfährt, eine stärkere Sympathie.« Die Worte sprudelten jetzt konzentrierter und schneller aus ihm hervor. »Also besitzt ein Dokument, das jemand geschrieben hat, mehr Aura als ein leeres Pergament. Die Person konzentriert sich auf das, was sie schreibt, also …« Khadgar gab seinen Gedanken einen Augenblick Zeit, um seine Zunge einzuholen. »Ihr habt in einem Geist gelesen, aber nicht in dem meinen – sondern in dem Geist des Schreibers dieses Briefes zu dem Zeitpunkt, als er ihn schrieb! Ihr habt seine Gedanken aufgefangen, die die Worte verstärkten.«
»Ohne den Brief tatsächlich öffnen zu müssen«, sagte Medivh, und das Licht blitzte wieder in seinen Augen. »Also, wie könnte dieser Trick einem Gelehrten nützen?«
Khadgar blinzelte für einen Moment und sah von dem Meistermagier weg. Er versuchte, dessen stechendem Blick zu entgehen. »Man könnte Bücher lesen, ohne sie lesen zu müssen.«
»Sehr nützlich für einen Forscher«, sagte Medivh. »Du gehörst zu einer Gemeinschaft von Gelehrten. Warum tut ihr das nicht?«
»Weil … weil …« Khadgar dachte an den alten Korrigan, der in seiner Bibliothek alles finden konnte, selbst die kleinste Randnotiz. »Ich glaube, wir tun es, aber nur die älteren Mitglieder des Konklaves.«
Medivh nickte. »Und das ist so, weil …?«
Khadgar dachte einen Moment nach, dann schüttelte er den Kopf.
»Wer würde noch schreiben, wenn alles Wissen mit einem geistigen Trick – mit einem Aufflammen von Magie – aufgesaugt werden könnte?«, schlug Medivh vor. Er lächelte, und Khadgar erkannte, dass er den Atem angehalten hatte. »Du bist nicht schlecht. Wirklich nicht schlecht. Kennst du deine Gegenzauber?«
»Bis zur fünften Stufe«, erklärte Khadgar.
»Kannst du einen mystischen Blitz erzeugen?«, schoss Medivh sofort hinterher.
»Einen oder zwei, aber es kostet mich viel Kraft«, antwortete der junge Mann, der plötzlich das Gefühl hatte, dass das Gespräch wieder eine ernste Wendung nahm.
»Und deine primären Elemente?«
»Am stärksten in der Flamme, aber ich kenne sie alle.«
»Natur-Magie?«, fragte Medivh. »Reifen, Pflücken, Ernten? Kannst du einem Samen die Jugend entziehen, bis er zu einer Blume wird.«
»Nein, Herr. Ich wurde in einer Stadt trainiert.«
»Kannst du einen Homunkulus herstellen?«
»Die Doktrin mag das nicht, aber ich verstehe die Prinzipien«, sagte Khadgar. »Wenn Ihr neugierig seid …«
Medivhs Augen leuchteten für einen Moment auf, und er sagte: »Du bist von Lordaeron aus übers Meer gefahren? Welche Art von Boot?«
Khadgar fühlte sich einen Augenblick von der plötzlichen Wendung des Gesprächs überrumpelt. »Äh … ähm … ein tirassianischer Segler, die Freundliche Brise«, antwortete er.
»Aus Kul Tiras«, schloss Medivh. »Menschliche Besatzung?«
»Ja.«
»Hast du überhaupt mit der Mannschaft gesprochen?«
Wieder fühlte Khadgar, wie er von einem Gespräch in ein Verhör glitt.
»Ein wenig«, sagte er. »Ich glaube, sie fanden meinen Akzent lustig.«
»Die Mannschaften der Schiffe von Kul Tiras finden alles Mögliche lustig«, sagte Medivh. »Irgendwelche Nichtmenschen an Bord?«
»Nein, Herr«, sagte Khadgar. »Die Tirassianer erzählten Geschichten von Fischleuten. Sie nannten sie Murlocs. Gibt es die wirklich?«
»Ja«, sagte der Magus, »es gibt sie. Welchen anderen Völkern bist du begegnet? Abgesehen von Menschen.«
»In Dalaran waren mal ein paar Gnome«, sagte Khadgar. »Ich habe Kunstwerker der Zwerge in der Violetten Zitadelle getroffen. Ich kenne Drachen aus den Legenden. In einer der Akademien habe ich einmal einen Drachenschädel gesehen.«
»Was ist mit Trollen oder Kobolden?«, fragte Medivh.
»Trolle«, sagte Khadgar. »Vier bekannte Rassen von Trollen. Vielleicht gibt es eine fünfte.«
»Das ist wahrscheinlich der Unsinn, den Alonda lehrt«, murmelte Medivh, aber er gab Khadgar mit einer Handbewegung zu verstehen, dass er weitersprechen sollte.
»Trolle sind wild, größer als Menschen. Sehr, sehr groß, sehr drahtig. Mit langgestreckten Gesichtern. Äh …« Er dachte einen Moment nach. »Stammesorganisation. Leben fast vollkommen abgeschieden von den zivilisierten Ländern. Fast ausgestorben in Lordaeron.«
»Kobolde?«
»Viel kleiner, eher die Größe von Zwergen. Genau so einfallsreich, aber auf eine zerstörerische Art. Furchtlos. Ich habe gelesen, dass alle Kobolde wahnsinnig sind.«
»Nur die intelligenten«, sagte Medivh. »Du weißt von Dämonen?«.
»Natürlich, Herr«, antwortete Khadgar schnell. »Ich meine, aus den Legenden, Herr. Und ich kenne die richtigen Gegen- und Schutzzauber. Alle Magier, die in Dalaran erzogen werden, lernen das vom ersten Tag an.«
»Aber du hast noch nie einen beschworen«, sagte Medivh. »Oder warst dabei, wenn jemand anderes einen beschworen hat.«
Khadgar blinzelte. War diese Frage ein Trick? »Nein, Herr. Das würde ich mir nicht einmal im Entferntesten einfallen lassen.«
»Daran zweifle ich nicht«, sagte der Magus, und in seiner Stimme lag ein Hauch von Schärfe. »Weißt du, was ein Wächter ist?«
»Ein Wächter?« Khadgar hatte das Gefühl, dass das Gespräch schon wieder eine vollkommen unerwartete Wendung nahm. »Ein Wachmann? Ein Hüter? Vielleicht ein fremdes Volk? Ist es eine Art von Monster? Vielleicht ein Beschützer gegen Monster?«
Jetzt lächelte Medivh und schüttelte den Kopf. »Mach dir keine Sorgen. Du sollst es gar nicht wissen. Das gehört mit zum Trick.« Dann blickte er auf und sagte: »Also. Was weißt du über mich?«
Khadgar warf einen Blick auf Moroes, den Kastellan … wollte einen Blick werfen, musste aber plötzlich erkennen, dass der Diener verschwunden war, sich wieder in Schatten aufgelöst hatte. Der Junge stotterte für einen Moment. »Die Magier der Kirin Tor schätzen Euch sehr«, gelang es ihm schließlich, diplomatisch hervorzubringen.
»Offensichtlich«, sagte Medivh schroff.
»Ihr seid ein mächtiger, unabhängiger Magier. Man sagt, Ihr seid ein Berater von König Llane von Azeroth.«
»Wir kennen uns schon lange«, bestätigte Medivh mit einem Nicken.
»Abgesehen davon …« Khadgar zögerte und fragte sich, ob der Magier wirklich seine Gedanken lesen konnte.
»Ja?«
»… nichts Genaues, das das hohe Ansehen erklären würde …« sagte Khadgar.
»Und die Furcht«, fügte Medivh hinzu.
»… und den Neid«, beendete Khadgar den Satz. Er fühlte sich von den Fragen unter Druck gesetzt und war sich nicht sicher, wie er antworten sollte. Er fügte schnell hinzu: »Nichts Genaues, das den tiefen Respekt erklären würde, den die Kirin Tor für Euch empfinden.«
»Und so soll es sein«, fauchte Medivh gereizt und rieb sich die Hände über den Kohlebecken. »So soll es sein.« Khadgar konnte nicht verstehen, wie dem Meistermagier kalt sein konnte. Er selbst fühlte, wie ihm vor Nervosität Schweiß den Rücken hinablief.
Schließlich blickte Medivh auf, und der sich zusammenbrauende Sturm lag wieder in seinen Augen. »Aber was weißt du über mich?«
»Nichts, Herr«, sagte Khadgar.
»Nichts?« Medivh hob seine Stimme, und sie schien durch das Observatorium zu hallen. »Nichts? Du bist den ganzen weiten Weg für nichts gekommen? Du hast dir nicht einmal die Mühe gemacht, etwas herauszufinden? Vielleicht war ich nur eine Entschuldigung für deine Meister, um dich loszuwerden. Sie hofften wohl, dass du auf der Reise sterben würdest. Es wäre nicht das erste Mal, dass jemand das versucht hätte.«
»Es gab nicht sehr viel herauszufinden. Ihr habt nicht so viel getan«, antwortete Khadgar heftig, fast wütend. Dann zog er tief den Atem ein und erinnerte sich daran, mit wem er hier sprach, und was er sagte. »Ich meine, nicht viel, was ich herausfinden konnte. Ich meine …«
Er erwartete einen Wutausbruch, doch Medivh kicherte nur. »Und was hast du herausgefunden?«, fragte er.
Khadgar seufzte. »Ihr stammt aus einer Familie von Zauberern. Euer Vater war ein Magier in Azeroth, ein Nielas Aran. Eure Mutter war Aegwynn, was vielleicht ein Titel ist und kein Name, da er seit mindestens acht Jahrhunderten immer wieder auftaucht. Ihr seid in Azeroth aufgewachsen und kennt König Llane und Lord Lothar seit Eurer Kindheit. Darüber hinaus …« Khadgar ließ seine Stimme verklingen. »… nichts.«
Medivh blickte in das Kohlebecken und nickte. »Nun, das ist etwas. Mehr, als die meisten Leute herausfinden.«
»Und Euer Name bedeutet, Bewahrer der Geheimnisse«, fügte Khadgar hinzu. »Auf Hoch-Elfisch. Das habe ich auch herausgefunden.«
»Nur zu wahr«, sagte Medivh, der plötzlich sehr müde wirkte. Er starrte für eine Weile in das Kohlebecken. »Aegwynn ist kein Titel«, sagte er schließlich. »Es ist nur der Name meiner Mutter.«
»Dann gab es mehrere Aegwynns, wahrscheinlich ein Familienname«, meinte Khadgar.
»Nur eine«, erwiderte Medivh ernst.
Khadgar lachte nervös auf. »Aber dann wäre sie …«
»… mehr als siebenhundertfünfzig Jahre alt gewesen, als ich geboren wurde«, sagte Medivh mit einem Schnauben. »Sie ist viel älter. Ich kam spät in ihrem Leben. Was vielleicht mit ein Grund dafür ist, dass die Kirin Tor sich so dafür interessieren, was ich in meiner Bibliothek aufbewahre. Was der Grund dafür ist, dass sie dich geschickt haben. Um dies herauszufinden.«
»Herr«, sagte Khadgar so ernsthaft, wie es ihm möglich war. »Um ehrlich zu sein, jeder Magier bis auf die allerhöchsten unter den Kirin Tor will, dass ich etwas über Euch herausfinde. Ich werde ihnen gefällig sein, so gut ich kann, doch wenn es Material gibt, das Ihr beschränkt oder verborgen halten möchtet, so kann ich dies vollkommen verstehen …«
»Wenn ich glauben würde, dass das nicht so wäre, dann hättest du es nicht durch den Wald bis hierher geschafft«, sagte Medivh mit fester Stimme. »Ich brauche zunächst einmal jemanden, um die Bibliothek zu sortieren und zu organisieren, dann arbeiten wir in den alchemistischen Laboren. Ja, ich denke, man kann dir trauen. Du siehst, ich kenne die Bedeutung deines Namens ebenso gut wie du die Bedeutung des meinen. Moroes!«
»Hier, Herr«, sagte der Diener, der sich plötzlich aus den Schatten manifestierte. Khadgar sprang erschreckt in die Höhe.
»Bring den Jungen nach unten in sein Quartier und sorg dafür, dass er was isst. Er hat einen langen Tag hinter sich.«
»Natürlich, Herr«, sagte Moroes.
»Ein Frage, Meister« sagte Khadgar, nachdem er sich wieder gefangen hatte. »Ich meine, Lord Magus, Herr.«
»Du kannst mich Medivh nennen. Ich höre auch auf ›Bewahrer der Geheimnisse‹ und ein paar andere Namen, die nicht alle bekannt sind.«
»Was habt Ihr gemeint, als Ihr sagtet, Ihr kennt meinen Namen?«, fragte Khadgar.
Medivh lächelte, und der Raum schien plötzlich wieder warm und behaglich zu werden. »Du sprichst kein Zwergisch«, bemerkte er.
Khadgar schüttelte den Kopf.
»Mein Name bedeutet ›Bewahrer der Geheimnisse‹ auf Hoch-Elfisch. Dein Name bedeutet ›Vertrauen‹ in der alten Zwergensprache. Also werde ich mich an deinen Namen halten, mein junger Khadgar, mein Vertrauen.«
Moroes brachte den Jungen in sein Quartier, das auf halbem Wege den Turm hinab lag, und spulte mit seiner geisterhaften Stimme Erklärungen ab, während er die Stufen hinunter schlurfte. Das Essen in Medivhs Turm war eine einfache Angelegenheit – Haferbrei und Wurst zum Frühstück, ein kaltes Mittagessen und ein großes, herzhaftes Abendessen, normalerweise ein Eintopf oder ein Braten, der mit Gemüse serviert wurde. Köchin zog sich nach dem Abendessen zurück, aber es gab immer Reste für eine späte Mahlzeit. Medivh pflegte einen Arbeits- und Lebensrhythmus, den man nachsichtig »launenhaft« bezeichnen konnte, und Moroes und Köchin hatten schon vor langer Zeit gelernt, wie man ihm mit einem minimalen Maß an Unannehmlichkeiten für die eigene Person gefällig war.
Moroes informierte den jungen Khadgar, dass er – der er Assistent war und nicht Diener – diesen Luxus nicht genießen würde. Von ihm würde man erwarten, dem Meistermagier zur Verfügung zu stehen, wann immer dieser es für nötig erachtete.
»Als Schüler erwarte ich nichts anderes«, erklärte Khadgar.
Moroes wandte sich mitten in einem Schritt um (sie gingen gerade eine Galerie entlang, die einen Raum überblickte, der wie eine Empfangshalle oder ein Ballsaal aussah). »Noch kein Schüler, Junge«, schnaufte der Greis. »Noch lange nicht.«
»Aber Medivh sagte …«
»Dass du die Bibliothek sortieren kannst«, sagte Moroes. »Die Arbeit eines Assistenten, nicht die eines Schülers. Schon andere sind hier Assistenten gewesen. Keiner von ihnen wurde Schüler.«
Khadgars runzelte die Stirn und fühlte, wie die Hitze eines Errötens sein Gesicht überzog. Er hatte nicht erwartet, dass es in der Hierarchie des Magiers eine Ebene unter dem Schüler gab. »Wie lange, bis ich …?«
»Kann ich nicht sagen, wirklich nicht«, keuchte der Diener. »Niemand hat es bisher so weit geschafft.«
Khadgar lagen zwei Fragen gleichzeitig auf der Zunge, aber er zögerte. Dann fragte er: »Wie viele andere ›Assistenten‹ hat es gegeben?«
Moroes trat an das Geländer der Galerie, und seine Augen blickten ins Leere. Khadgar fragte sich, ob der Diener nachdachte, oder ob ihn die Frage aus der Fassung gebracht hatte. Der Saal unter ihnen war spartanisch eingerichtet. Ein schwerer Tisch in der Mitte, um ihn herum ein paar Stühle. Es war überraschend ordentlich, und Khadgar vermutete, dass Medivh nicht sehr viele Bankette gab.
»Dutzende«, sagte Moroes schließlich. »Mindestens. Die meisten von ihnen aus Azeroth. Ein Elfling. Nein, zwei Elflinge. Du bist der erste von den Kirin Tor.«
»Dutzende«, wiederholte Khadgar tonlos, und ihm rutschte das Herz in die Hose, als er sich fragte, wie oft Medivh schon einen jungen Möchtegern-Magier in seinem Dienst willkommen geheißen hatte.
Er stellte die andere Frage. »Wie lange haben sie durchgehalten?«
Dieses Mal schnaufte Moroes und sagte: »Tage. Manchmal Stunden. Ein Elf hat es nicht einmal die Turmstufen hinauf geschafft.« Er tippte an seine rechte Scheuklappe. »Sie sehen Dinge, weißt du?«
Khadgar dachte an die Gestalt auf dem Balkon und nickte nur.
Schließlich trafen sie in Khadgars Quartier ein, das in einem Seitengang lag, nicht weit vom Bankettsaal entfernt. »Mach dich zurecht«, sagte Moroes und reichte Khadgar die Laterne. »Die Latrine liegt am Ende des Saals. Unter dem Bett steht ein Topf. Komm runter in die Küche. Köchin macht dir etwas Warmes.«
Khadgars Kammer war ein schmaler Keil des Turms, der eher für einen kontemplativen Klosterbruder geeignet schien als für einen Magier. Ein schmales Bett stand an einer Wand, ein ebenso schmaler Tisch, über dem ein leeres Regal hing, an der anderen. Außerdem gab es noch einen Schrank für seine Kleider. Khadgar warf seinen Rucksack in den Schrank und trat an das kleine Fenster.
Es bestand aus einer dünnen Scheibe verbleiten Glases, die senkrecht auf einem Drehzapfen in der Mitte angebracht war. Khadgar drückte gegen eine Hälfte, und das Fenster öffnete sich langsam. Öl sickerte aus dem Drehzapfen.
Die Aussicht zeigte ihm, dass er noch immer sehr hoch oben im Turm war. Die runden Hügel, die den Turm umgaben, lagen grau und kahl im Licht der Zwillingsmonde. Von dieser Höhe aus war klar zu erkennen, dass die Hügel einmal ein Krater gewesen waren, den die Zeitalter abgetragen hatten. War ein Berg aus diesem Ort gezogen worden wie ein verfaulter Zahn? Oder vielleicht war der Ring der Hügel gar nicht aufgestiegen, sondern der Rest der Berge war schneller gewachsen, während nur dieser Ort der Macht an seinem Platz verwurzelt blieb?
Khadgar fragte sich, ob Medivhs Mutter hier gewesen war, als das Land sich erhob. Oder sank. Oder von einem Fels aus dem Himmel getroffen wurde. Achthundert Jahre waren eine lange Zeit, selbst nach den Maßstäben eines Zauberers. Nach zweihundert Jahren, so lehrten die meisten der Musterbeispiele, wurde die Mehrzahl der menschlichen Magier tödlich dünn und gebrechlich. Siebenhundertfünfzig Jahre alt zu sein und ein Kind auf die Welt zu bringen! Khadgar schüttelte den Kopf und fragte sich, ob Medivh ihn damit auf den Arm hatte nehmen wollen.
Der Junge legte seinen Reisemantel ab und besuchte die Einrichtungen am Ende des Saals. Sie waren spartanisch, doch es gab eine Kanne mit kaltem Wasser und ein Waschbecken und einen guten, klaren Spiegel. Khadgar dachte daran, einen kleinen Zauber einzusetzen, um das Wasser zu erhitzen, aber er entschied sich, dass das kalte Wasser ihn stärken würde.
Das Wasser war tatsächlich belebend, und Khadgar fühlte sich besser, nachdem er sich umgezogen hatte und in weniger staubige Kleidung gewechselt war – ein bequemes Hemd, das ihm fast bis zu den Knien reichte und eine robuste Hose. Seine Arbeitskleidung. Er zog ein schmales Essmesser aus seinem Rucksack und ließ es, nachdem er einen Augenblick nachgedacht hatte, in einen Stiefel gleiten.
Er trat auf den Gang hinaus, und plötzlich wurde ihm klar, dass er nicht die geringste Ahnung hatte, wo eigentlich die Küche lag. Es hatte draußen beim Pferdestall keinen Küchenanbau gegeben, also lagen die Räumlichkeiten wohl im Turm. Wahrscheinlich im Erdgeschoss mit einer Pumpe, die zum Brunnen führte. Und einem direkten Weg zum Bankettsaal, egal ob dieser häufig genutzt wurde oder nicht.
Khadgar fand die Galerie über dem Bankettsaal ziemlich leicht wieder, aber er musste einige Zeit nach der Treppe suchen, die – sich eng um sich selbst windend – zu ihm hinunter führte. Vom Bankettsaal aus standen ihm mehrere Gänge zur Verfügung. Khadgar wählte den wahrscheinlichsten und endete in einer Sackgasse. Leere Räume, ähnlich seinem eigenen Quartier, säumten den Korridor. Seine zweite Wahl brachte ein ähnliches Ergebnis.
Die dritte führte den jungen Mann ins Herz einer Schlacht.
Er hatte es nicht erwartet. Er schritt gerade eine Treppe mit niedrigen Steinstufen hinunter und fragte sich, ob er eine Karte benötigen würde – oder eine Glocke oder ein Jagdhorn –, um in diesem Turm zu navigieren, und plötzlich öffnete sich die Decke über ihm zu einem leuchtenden Himmel in der Farbe frischen Blutes, und er sah sich von gepanzerten Männern umstanden, die sich auf eine Schlacht vorbereiteten.
Khadgar trat sofort zurück, aber der Gang hinter ihm war verschwunden. Dort lag jetzt eine unebene, öde Landschaft, wie er sie noch nie zuvor gesehen hatte. Die Männer schrien und zeigten auf etwas, aber obwohl sie direkt neben Khadgar standen, klangen ihre Stimmen undeutlich und verzerrt, als sprächen sie in einem seltsamen Reich unter dem Wasser.
Ein Traum?, dachte Khadgar. Hatte er sich für einen Augenblick hingelegt und war eingenickt, und all dies war nur ein nächtlicher Alpdruck, den seine eigenen Sorgen gezeugt hatten? Nein. Er spürte fast die Wärme der sterbenden Sonne auf seiner Haut. Und die leichte Brise des kühlen Windes. Und die schreienden Männer, die um ihn herum wimmelten.
Es war, als habe ihn etwas vom Rest der Welt gelöst und auf seine eigene kleine Insel geworfen, die nur die allerdürftigste Verbindung zu der Realität besaß, die ihn umgab. Es war, als sei er ein Geist geworden.
Und tatsächlich ignorierten ihn die Soldaten, als sei er nur ein Phantom. Khadgar streckte eine Hand aus, um einen der Männer an der Schulter zu berühren, und zu seiner großen Erleichterung sanken seine Finger nicht durch die zerschlagene Schulter-Platte. Es gab einen Widerstand, doch nur von amorpher Art. Er konnte die Rüstung fühlen, und wenn er sich konzentrierte, ertastete er die scharfen Grate des unebenen Metalls.
Diese Männer hatten gekämpft, erkannte Khadgar, schwer und erst vor kurzer Zeit. Nur ein Mann unter dreien trug nicht irgendeine Art von grobem Verband und wurde damit zum blutbefleckten Mahnmal des Krieges. Überall waren schmutzige Rüstungen und verbeulte Helme zu sehen. Auch die Waffen der Soldaten waren schartig, und Rot trocknete auf ihnen.
Der junge Mann begutachtete ihre Position. Sie befanden sich auf der Kuppe eines kleinen Hügels, einer winzigen Falte in der Ebene, die sich bis zum Horizont zog. Die spärliche Vegetation, die an diesem Ort existierte, war abgeholzt und für primitive Palisaden verwendet worden, die jetzt von Männern mit grimmigen Gesichtern bewacht wurden. Hier gab es keine sichere Zuflucht, keine Burg, kein Fort. Die Männer hatten diesen Ort zum Kampf gewählt, weil sie keinen anderen besaßen.
Die Soldaten traten auseinander, als sich ihr Anführer, ein großer, weißbärtiger Mann mit breiten Schultern, den Weg zwischen ihnen hindurch bahnte. Seine Rüstung war nicht weniger ramponiert als die seiner Männer, aber sie bestand aus einer Brustplatte, die über eine rote Gelehrten-Robe geschnallt war, wie sie auch unter den Kirin Tor nicht fehl am Platze gewesen wäre. Der Stoff des Gewands war mit Macht-Runen bestickt. Khadgar erkannte einige der Symbole, aber andere waren ihm fremd. Der schneeweiße Bart des Anführers reichte bis zur Taille hinab und verbarg einen Teil der Rüstung. Er trug eine rote Scheitelkappe mit einem einzelnen goldenen Edelstein auf der Stirn. In der einen Hand hielt er einen in ein Juwel auslaufenden Stab, in der anderen ein dunkelrotes Schwert.
Der Kommandant schrie die Soldaten mit jener undeutlichen Stimme an, die Khadgar an die wütende See erinnerte. Die Krieger schienen jedoch zu verstehen, was er sagte, denn sie formierten sich in geordneten Reihen entlang der Barrikaden.
Der schneebärtige Anführer strich an Khadgar vorbei, und dieser stolperte einen Schritt zurück, um ihm aus dem Weg zu gehen. Der alte Mann hätte ihn nicht bemerken sollen, genauso wenig wie die anderen blutbefleckten Krieger ihn bemerkt hatten.
Doch der Kommandant sah ihn. Seine Stimme zögerte für einen Moment, er stotterte, sein Fuß landete falsch auf dem unebenen Boden des felsigen Hügels, und er strauchelte beinahe. Aber er fing sich wieder und wandte sich um. Er betrachtete Khadgar.
Ja, er blickte Khadgar an, und es wurde dem jungen Möchtegern-Schüler klar, dass dieser alte Krieger-Zauberer ihn sah, dass er ihn genau sah. Die Augen des Kommandanten blickten tief in die seinen, und für einen Moment fühlte sich Khadgar wieder genau so, wie er sich gerade erst unter Medivhs sengenden Augen gefühlt hatte. Doch, wenn dies überhaupt möglich war, so war dieser Blick noch intensiver. Khadgar starrte in die Augen des Kommandanten.
Und was er sah, ließ ihn aufkeuchen. Er wandte sich ab und brach den festen Blick des Krieger-Zauberers.
Als Khadgar wieder hinsah, nickte der Kommandant ihm zu. Es war ein kurzes, beinahe abweisendes Nicken, und der Mund des alten Mannes war streng zusammengepresst. Dann wandte sich der schneebärtige Anführer wieder ab und schrie seine Krieger an, flehte sie inständig an, sich zu verteidigen.
Khadgar wollte ihm folgen, ihn einholen und herausfinden, wie er ihn sehen konnte, wenn alle anderen blind für ihn waren, und was er ihm sagen konnte – aber da explodierten Schreie um ihn, die Schreie müder Männer, die ein letztes Mal zur Pflicht gerufen wurden. Schwerter und Speere wurden zu einem Himmel erhoben, der die Farbe geronnenen Blutes hatte, und Arme zeigten auf die nahe gelegenen Kämme der düsteren Ebene.
Khadgars Blick folgte den ausgestreckten Zeigefingern der Soldaten, und er sah eine grün-schwarze Woge, die über dem nächsten Hügel erschien. Der Junge glaubte einen Moment lang, er blicke auf einen Fluss, einen arkanen, farbenfrohen Schlamm-Strom, aber dann erkannte er, dass die Woge eine Armee war, die sich den Männern näherte. Schwarz war die Farbe ihrer Rüstungen und Grün die Farbe ihres Fleisches.
Es waren Alptraum-Wesen, groteske Karikaturen der menschlichen Gestalt. Ihre jadefarbenen Gesichter wurden von schweren, breiten Kiefern dominiert, die mit langen Fängen besetzt waren. Ihre Nasen waren flach und schnüffelten wie die von Hunden. Ihre Augen waren klein, rot und hasserfüllt, und ihre schwarzen Waffen und prunkvollen Rüstungen glänzten in der ewig sterbenden Sonne dieser Welt. Als sie die Spitze der Anhöhe erreichten, stießen sie bellende Schreie aus, die die Erde zum Beben brachten.
Die Männer, die Khadgar umstanden, erhoben ihren eigenen Schlachtruf, und als die grünen Monster sich dem Hügel näherten, ließen die Soldaten rotgefiederte Pfeile auf ihre Feinde herabregnen. Als die Frontlinie der grauenhaften Kreaturen ins Stolpern geriet und fiel, wurden die Ungetüme sofort von ihren eigenen Kameraden niedergetrampelt, die ihnen nachfolgten. Ein weiterer Pfeilhagel, und eine weitere Reihe unmenschlicher Monster fiel, doch auch sie wurden von der Flut, die ihnen folgte, untergepflügt.
Rechts von Khadgar begannen Blitze über die Erde zu zucken, und die Ungeheuer schrien, als das Fleisch von ihren Knochen gekocht wurde. Khadgar dachte an den Krieger-Zauberer, aber er erkannte auch, dass diese Blitze die vorstürmenden Horden nur spärlich ausdünnten.
Und dann waren die grünen Monster bei den Männern, und die Woge aus Ebenholz und Jade brandete gegen die primitiven Palisaden. Die gefällten Stämme waren nicht mehr als Zweige in diesem Sturm, und Khadgar sah, wie die Befestigung nachgab. Einer der Soldaten, die ihm am nächsten standen, stürzte. Ein großer, dunkler Speer ragte aus seinem Leib, und wo der Mann gerade noch gestanden hatte, erschien ein Alptraum aus grünem Fleisch und schwarzer Rüstung, der heulte, als er über die Leiche hinwegtrampelte.
Entsetzt trat Khadgar zwei Schritte zurück, dann wandte er sich um und rannte …
… und warf beinahe Moroes um, der im Gang stand.
»Du bist spät«, schnaufte Moroes gelassen. »Dachte schon, du hättest dich verirrt.«
Khadgar wirbelte ein weiteres Mal herum und sah hinter sich keine Welt mit rotem Himmel und keine grünen Monster, nur eine verlassene Kammer mit einem leeren Kamin und Sesseln, über die weiße Tücher gebreitet waren. Die Luft roch nach Staub, der gerade eben erst aufgerührt worden war.
»Ich war …«, keuchte Khadgar. »Ich sah … Ich war …«
»Am falschen Ort?«, schlug Moroes vor.
Khadgar schluckte, blickte sich um und nickte schweigend.
»Dein Abendessen steht bereit«, ächzte Moroes. »Verirr dich nicht wieder.«
Und der dunkelgekleidete Diener drehte sich um und glitt geräuschlos aus dem Raum.
Khadgar warf einen letzten Blick auf die Sackgasse, in die er gestolpert war. Hier gab es keine mystischen Torbögen oder magischen Türen. Die Vision (wenn es eine Vision gewesen war) hatte so plötzlich geendet, wie sie begann.
Hier waren keine Soldaten. Keine grünen Monster. Keine Armee, die kurz vor der Niederlage stand. Hier war nur eine Erinnerung, die Khadgar furchtbare Angst ins Herz jagte. Sie war real. Sie hatte sich real angefühlt. Sie hatte sich wahr angefühlt.
Nicht die Monster oder das Blutvergießen waren es gewesen, was ihm so große Angst eingeflößt hatte. Es war der Zauberer-Krieger, der schneehaarige Kommandant, der ihn sehen konnte, der ihm tief ins Herz geblickt und ihn als unzureichend befunden hatte.
Und das Schlimmste war, dass die weißbärtige Gestalt in Rüstung und Gewand Khadgars Augen gehabt hatte. Das Gesicht war alt, das Haar schneeweiß, die Ausstrahlung stark gewesen, aber der Kommandant hatte die gleichen Augen besessen, die Khadgar nur wenige Minuten (und ein ganzes Leben) zuvor in dem klaren Spiegel gesehen hatte.
Khadgar verließ die Kammer und fragte sich, ob es schon zu spät war, um ein Paar Scheuklappen zu ergattern.