15 Unter Karazhan

Die Unterhaltung auf Burg Stormwind war nicht gut verlaufen, und nun kreisten sie auf einem Greifen um Medivhs Turm. Unter ihnen wirkte Karazhan in der Abenddämmerung leer und gewaltig. Kein Licht war in den Fenstern zu sehen, und auch das Observatorium in der Spitze des Turms war dunkel. Unter einem mondlosen Himmel wirkten selbst die hellen Steine des Turms schwarz und abweisend.

Am Abend zuvor war es in den Privatgemächern des Königs zu einer hitzigen Diskussion gekommen. Khadgar und Garona waren beteiligt, obwohl die Halb-Ork in Gegenwart Seiner Majestät Lothar ihr Messer abgeben musste. Der Champion des Königs war ebenfalls anwesend und außerdem eine Gruppe von Beratern und Höflingen, die sich um König Llane scharte. Khadgar witterte keinen einzigen Zauberer in der Versammlung und schloss daraus, dass diejenigen, die Medivhs Wüten überlebt hatten, entweder auf dem Schlachtfeld kämpften oder in Sicherheit gebracht worden waren.

Der König war nicht mehr der junge Mann, den er in seinen Visionen gesehen hatte. Er war erwachsen geworden. Seine breiten Schultern und scharf geschnittenen Gesichtszüge beugten sich nur langsam den Veränderungen, die das mittlere Lebensalter mit sich brachte. Von allen Anwesenden war er am festlichsten gekleidet und seine blauen Gewänder ließen ihn aus der Gruppe herausragen. Neben seinem Stuhl lag ein großer Helm mit weißen Flügeln, als erwarte er, jeden Moment auf das Schlachtfeld gerufen zu werden.

Khadgar fragte sich, ob Llane nicht genau diesen Ruf herbeisehnte. Das hätte zu dem starrsinnigen Jugendlichen aus der Troll-Vision gepasst. Ein direkter Kampf auf offenem Feld, wo der Sieg seiner Truppen niemals wirklich in Zweifel stand.

Er fragte sich, wie viel von dieser Sicherheit aus der Überzeugung kam, dass der Magus schon beizeiten eingreifen würde. Tatsächlich schienen beide Dinge zusammenzugehören: Der Magus würde Stormwind immer unterstützen, und Stormwind würde aufgrund der Unterstützung des Magus niemals fallen.

Die Heiler hatten sich um Garonas aufgerissene Lippe gekümmert, aber ihre Laune konnten sie nicht verbessern. Khadgar zuckte einige Male zusammen, wenn sie undiplomatisch ihre Ork-Meinung, den Geisteszustand des Meistermagiers betreffend, darlegte, über die Bleichgesichter im Allgemeinen und Llanes Truppen im Besonderen lamentierte.

»Die Orks sind unerschütterlich«, sagte sie. »Sie werden nicht aufgeben. Sie werden zurückkommen.«

»Sie sind nicht auf Pfeilentfernung an die Mauern herangekommen«, konterte Llane. Khadgar hatte den Eindruck, dass Seine Majestät eher amüsiert als besorgt über Garonas undiplomatische Warnungen und ihr direktes Auftreten war.

»Sie sind nicht auf Pfeilentfernung an die Mauern herangekommen«, wiederholte Garona. »Dieses Mal. Nächstes Mal werden sie es tun. Und das übernächste Mal werden sie über die Mauern kommen. Ich glaube nicht, dass Ihr die Orks ernst genug nehmt, Sire

»Du kannst sicher sein, ich nehme sie sehr ernst«, versetzte Llane. »Aber ich bin mir auch der Stärke von Stormwind bewusst. Seiner Mauern, seiner Armeen, seiner Verbündeten und seiner Entschlossenheit. Wenn du dies sehen könntest, würde dich die Macht der Orks vielleicht auch nicht mehr so beeindrucken.«

Llane war sich ebenso sicher, was den Magus anging. Khadgar legte alles vor den Ratgebern dar und wurde dabei von Garona unterstützt. Die Visionen aus der Vergangenheit, das ungewöhnliche Verhalten, die Visionen, die keine waren, sondern Hinweise auf Sargeras’ Anwesenheit in Karazhan … Und er sprach über Medivhs Rolle beim Angriff auf Azeroth.

»Wenn ich eine Silbermünze für jeden Mann bekommen hätte, der behauptete, Medivh sei wahnsinnig, wäre ich noch reicher als ich es ohnehin schon bin«, sagte Llane. »Er hat einen Plan, junger Mann. So einfach ist das. Er hat sich schon oft in irgendein irrsinniges Unterfangen gestürzt, und Lothar hat sich jedes Mal die allergrößten Sorgen gemacht. Doch stets hatte er am Ende Recht. Das letzte Mal, als er hier war, hat er sich doch auf die Jagd nach diesem Dämon gemacht und ihn nach ein paar Stunden zurückgebracht. Würde jemand, der von einem Dämon besessen ist, einen seiner eigenen Leute köpfen?«

»Wenn er damit seine Unschuld vortäuschen könnte, warum nicht?«, antwortete Garona. »Niemand hat gesehen, wie er den Dämon mitten in der Stadt tötete. Vielleicht hat er ihn beschworen, getötet und dann als Sündenbock präsentiert.«

»Haltlose Spekulation«, knurrte der König. »Ich glaube euch, dass ihr all das gesehen habt. Auch diese Visionen aus der Vergangenheit. Aber ich denke, dass der Magus verschlagen wie ein Fuchs und dass all das Teil eines großen Plans ist. Er spricht doch immer von Plänen und großen Zyklen.«

»Bei allem Respekt«, sagte Khadgar. »Der Magus hat vielleicht einen Plan, aber die Frage ist, ob Stormwind und Azeroth darin einen Platz haben.«

So ging es den ganzen Abend. König Llane hatte klare Ansichten zu allen Streitpunkten. Er war der Meinung, dass Azeroth die Ork-Horden mit seinen Verbündeten vernichten oder zurück in ihre Heimatwelt treiben würde; dass Medivh einen Plan verfolgte, den niemand außer ihm verstand; und dass Stormwind jedem Angriff widerstehen würde, so lange »entschlossene Männer auf den Mauern stehen und auf dem Thron sitzen«.

Lothar schwieg meistens, stellte nur ab und zu eine Frage und schüttelte den Kopf, wenn Khadgar oder Garona ihm unverblümt antworteten. Schließlich sprach er.

»Llane, lass dich nicht von deinen Überzeugungen blenden«, sagte er. »Wenn wir uns nicht auf Magus Medivh als Verbündeten verlassen können, sind wir geschwächt. Wenn wir die Orks unterschätzen, sind wir verloren. Hör dir an, was sie zu sagen haben.«

»Ich höre sie an«, sagte Llane. »Aber ich höre nicht nur mit meinen Ohren, sondern auch mit meinem Herzen. Wir haben viele Jahre mit dem jungen Medivh verbracht, vor und nach seinem Schlaf. Er erinnert sich an seine Freunde. Und wenn er seinen Plan enthüllt, wirst sogar du erkennen, was für ein getreuer Freund der Magus ist.«

Der König stand auf, entließ sie alle und versprach, genau über alle Angelegenheiten nachzudenken. Garona fluchte leise vor sich hin, und Lothar gab ihnen Zimmer ohne Fenster und mit Wachen vor den Türen, um auf Nummer Sicher zu gehen.

Khadgar versuchte zu schlafen, aber er war so frustriert, dass er einen Großteil der Nacht auf und ab ging. Schließlich, als die Erschöpfung ihn gerade in den Schlaf gezwungen hatte, klopfte es an der Tür.

Es war Lothar in voller Rüstung. Er trug eine Uniform über dem Arm. »Du schläfst wie ein Stein, oder?« Er reichte ihm lächelnd eine Uniform. »Zieh das an und triff uns in fünfzehn Minuten in der Turmspitze. Beeil dich, Junge.«

Khadgar zog die Kleidung an, die aus einer Hose, schweren Stiefeln, einer blauen Jacke mit dem Löwen von Azeroth darauf und einem Langschwert bestand. Er wollte das Schwert zuerst nicht mitnehmen, band es sich dann aber doch über den Rücken. Vielleicht konnte es ihm noch nützlich sein.

Sechs Greife hockten auf den Türmen und schüttelten aufgeregt die großen Schwingen. Lothar war dort und Garona ebenfalls. Sie trug die gleiche Kleidung wie er und war ebenfalls mit einem Schwert bewaffnet.

»Sag kein Wort«, zischte sie.

»Der Löwe von Azeroth steht dir sehr gut«, sagte er. »Er passt zu deinen Augen.«

Garona schnaufte. »Lothar sagte das Gleiche. Er hat versucht mich damit zu überzeugen, dass du ebenfalls diese Kleidung trägst. Und er sagte, er wolle sicherstellen, dass niemand von den anderen auf mich schießt, weil er mich für einen Gegner hält.«

»Anderen?«, fragte Khadgar und sah sich um. Im Morgenlicht waren die anderen Greife gut zu erkennen. Das Licht der aufgehenden Sonne färbte ihre Flügel rosa. Er hatte nicht gewusst, dass es so viele dressierte Greife auf der Welt gab, geschweige denn in Stormwind. Lothar musste mit den Zwergen gesprochen haben. Die Luft war kühl und scharf wie ein Dolchstoß.

Lothar kam zu ihnen und rückte Khadgars Schwert zurecht, damit er auf dem Greif sitzen konnte.

»Seine Majestät«, knurrte Lothar, »hat einen unerschütterlichen Glauben an die Stärke der Menschen von Azeroth und an die Dicke der Mauern von Stormwind. Es ist gut, dass er auch Leute um sich hat, die sich kümmern, wenn er einmal falsch liegt.«

»Damit meint Ihr wohl uns«, sagte Khadgar grimmig.

»Damit meine ich uns«, erwiderte Lothar. Er sah Khadgar scharf an und fügte hinzu: »Ich hatte dich gefragt, wie es ihm geht, du erinnerst dich.«

»Ja«, antwortete Khadgar. »Und ich sagte Euch die Wahrheit, oder das, was ich dafür hielt. Ich war loyal.«

»Ich verstehe«, sagte Lothar. »Und ich bin ihm auch loyal. Ich will nur, dass du die Wahrheit sagst. Aber ich will auch, dass du tust, was getan werden muss, wenn es so weit kommen sollte.«

Khadgar nickte. »Ihr glaubt mir doch, oder?«

Lothar nickte grimmig. »Vor langer Zeit, als ich in deinem Alter war, pflegte ich Medivh. Er lag damals im Koma, in diesem langen, tiefen Schlaf, der ihm so viel von seiner Jugend nahm. Ich hielt es damals für einen Traum, aber ich könnte schwören, dass mir gegenüber ein anderer Mann saß und den Magus betrachtete. Er sah aus, als bestünde er aus Messing. Über seinen Augen saßen große Hörner, und sein Bart bestand aus Feuer.«

»Sargeras«, sagte Khadgar.

Lothar stieß den Atem aus. »Ich dachte, ich wäre eingeschlafen und hätte geträumt, dachte, dass er es nicht wirklich sein könnte. Weißt du, auch ich war ihm loyal ergeben. Aber ich habe nie vergessen, was ich sah. Und als die Jahre vergingen, begann ich zu begreifen, dass ich einen Zipfel der Wahrheit gesehen hatte, und dass es vielleicht so weit kommen würde, wie es nun gekommen ist. Vielleicht können wir Medivh noch retten, aber vielleicht sitzt die Dunkelheit bereits zu tief. Dann müssen wir etwas Furchtbares, Schreckliches und absolut Notwendiges tun. Die Frage ist, ob du dazu bereit und in der Lage bist?«

Khadgar dachte einen Moment lang nach und nickte dann. Sein Magen fühlte sich wie ein Klumpen Eis an. Lothar hob die Hand. Auf sein Kommando hin erhoben sich die Greife in die Luft, während hinter ihnen die Sonne aufging und ihre Schwingen golden färbte.

Das kalte Gefühl in Khadgars Magen ließ auf dem ganzen langen Flug nach Karazhan nicht nach. Garona ritt hinter ihm, aber sie schwiegen beide, während der Boden unter ihnen vorbeizog.

Das Land veränderte sich unter ihren Schwingen. Aus den großen Feldern wurden verbrannte Flächen, von zerstörten Gebäuden unterbrochen. Wälder waren gefällt worden, um die Kriegsmaschinerie anzutreiben. Das hatte große Narben in die Landschaft gerissen. Offene Krater gähnten, die Erde war verwundet und aufgeworfen worden, um an das Erz zu gelangen. Rauchschwaden stiegen auf und zogen über den Horizont, aber ob sie von Schlachtfeldern oder von Schmieden stammten, konnte Khadgar nicht sagen. Sie flogen durch den Tag, und die Sonne sank langsam am Horizont.

Karazhan stieg wie ein dunkler Schatten in der Mitte eines Kraters auf. Er zog die letzten Strahlen des Tages an sich und gab nichts davon wieder her. Kein Licht war im Turm oder in einem der Fenster zu sehen. Die Fackeln, die brannten, ohne ihre Substanz zu verzehren, waren gelöscht worden. Khadgar fragte sich, ob Medivh entkommen war.

Lothar zwang seinen Greif nach unten, und Khadgar folgte, glitt vom Rücken des geflügelten Tiers. Er hatte kaum wieder Boden unter den Füßen, als sich der Greif auch schon erneut in die Lüfte erhob. Er stieß ein Kreischen aus und wandte sich nach Norden.

Der Champion von Azeroth war bereits an der Treppe angekommen. Seine breiten Schultern waren angespannt, seine kräftige Gestalt bewegte sich mit der lautlosen Eleganz einer Raubkatze. Seine Klinge war gezogen. Garona schlich ebenfalls vor und zog ihren langen Dolch unter der Bluse hervor. Die schwere Klinge aus Stormwind schlug gegen Khadgars Hüfte, und neben den anderen beiden fühlte er sich wie ein ungeschicktes Ding aus Stein. Hinter ihm landeten die anderen Greife und setzten ihre Krieger ab.

Das Observatorium war leer, das Arbeitszimmer des Meistermagiers hingegen zwar verlassen, aber nicht völlig ausgeräumt. Überall lagen Werkzeuge herum, und die Überreste des zertrümmerten Astrolabiums ruhten auf dem Kaminsims. Wenn der Turm wirklich verlassen wurde, war dies überstürzt erfolgt.

Oder aber … er war nicht verlassen worden.

Fackeln wurden entzündet, und die Gruppe stieg die endlos scheinende Treppe hinab. Lothar, Garona und Khadgar übernahmen die Führung. Einst waren Lothar diese Mauern vertraut, ein Zuhause und die Treppen eine tägliche Herausforderung gewesen. Doch nun waren die Fackeln an den Wänden mit ihren eisblauen Flammen gelöscht worden, und der sich bewegende Fackelschein der Eindringlinge warf dunkle Schatten über die Mauern und verlieh ihnen ein fremdes, beinahe alptraumhaftes Aussehen. Das Gemäuer selbst schien böse geworden zu sein, und Khadgar erwartete hinter jedem dunklen Eingang einen tödlichen Angriff.

Doch es passierte nichts. Die Galerien waren leer, die Speisesäle verlassen, die Gastquartiere zwar möbliert, aber unbewohnt. Khadgar untersuchte seine eigene Unterkunft. Nichts war verändert worden.

Das Licht der Fackeln warf seltsame Schatten über die Eisenstangen der Regale in der Bibliothek. Die Bücher waren unberührt, und selbst Khadgars letzte Notizen lagen immer noch auf dem Tisch. Hielt Medivh so wenig von seiner Bibliothek, dass er kein einziges Buch mitgenommen hatte?

Khadgar entdeckte einige Papierfetzen und ging zu dem Regal, in dem die epischen Gedichte untergebracht waren. Die Überreste einer zerrissenen Schriftrolle lagen dazwischen. Khadgar nahm einen größeren Fetzen, las einige Worte und nickte.

»Was ist das?«, fragte Lothar. Er schien zu erwarten, dass die Bücher jeden Moment zum Leben erwachten und ihn angriffen.

»Das Lied von Aegwynn«, sagte Khadgar. »Ein episches Gedicht über seine Mutter.«

Lothar grunzte verstehend, aber Khadgar dachte nach. Medivh war hier gewesen, nachdem sie den Turm verlassen hatten. Wieso hatte er die Schriftrolle zerstört? Waren es die dunklen Erinnerungen an den Streit mit seiner Mutter? Waren es Rachegelüste nach Aegwynns Sieg über Sargeras? Oder symbolisierte die Zerstörung der Schriftrolle, des Schlüssels, den der Wächter von Tirisfal verwendet hatte, seine Ablehnung und den letzten Betrug an dieser Gruppe?

Khadgar riskierte einen einfachen Zauberspruch – mit dem man magische Präsenz feststellen konnte –, fand jedoch nichts außer den normalen Reaktionen, die durch die magischen Bücher entstanden. Wenn Medivh hier einen Spruch gewoben hatte, war er so gut getarnt, dass er Khadgars Forschen entging.

Lothar bemerkte, dass der junge Magier Zeichen in die Luft malte, und als er endete, sagte er: »Du solltest deine Kraft aufsparen, bis wir ihn gefunden haben.«

Khadgar schüttelte den Kopf und fragte sich, ob sie den Magus überhaupt je finden würden.

Stattdessen entdeckten sie Moroes im untersten Stockwerk in der Nähe des Eingangs zu Küche und Vorratskammer. Er war mitten im Gang zusammengebrochen. Blut war neben ihm in einem Viertelkreis geronnen. Seine Augen waren weit geöffnet, aber sein Gesicht wirkte gefasst. Selbst der Tod schien den Verwalter nicht überrascht zu haben.

Garona ging in die Küche und kehrte kurz darauf wieder zurück. Ihr Gesicht war blasser als sonst, und in einer Hand hielt sie eine zerbrochene rosafarbene Brille. Khadgar nickte.

Die Leichen steigerten die Nervosität der Soldaten, und sie traten vorsichtig durch das Tor in den Burghof. Medivh war nirgendwo zu sehen, und es gab nur wenige Hinweise darauf, dass er hier vorbeigekommen war.

»Hat er einen zweiten Unterschlupf?«, fragte Lothar. »Einen Ort, an dem er sich verstecken kann?«

»Er war häufig weg«, sagte Khadgar. »Manchmal tauchte er nach tagelanger Abwesenheit ohne jede Erklärung wieder auf.«

Etwas bewegte sich entlang des Balkons über dem Eingangstor. Es war nur ein leichtes Zittern der Luft. Khadgar starrte lange auf diesen Punkt, aber das Phänomen kehrte nicht zurück.

»Vielleicht ist er zu den Orks gegangen, um sie anzuführen«, schlug der Champion vor.

Garona schüttelte den Kopf. »Sie würden nie einen menschlichen Anführer akzeptieren.«

»Er kann sich doch nicht in Luft aufgelöst haben!«, polterte Lothar los. Zu den Soldaten sagte er: »Macht euch bereit. Wir kehren um.«

Garona ignorierte den Champion und sagte: »Das hat er nicht. Zurück in den Turm.«

Sie ging durch die Gruppe der Soldaten, als wäre sie ein Boot, das die Wellen teilt. Sie verschwand im Inneren des Turms. Lothar sah Khadgar an, doch dieser hob nur die Schultern und folgte der Frau, die zur Hälfte Ork war.

Moroes hatte sich nicht bewegt, lag immer noch in seinem Blut bei der Wand. Garona berührte die Wand, als wolle sie etwas daran erfühlen. Sie runzelte die Stirn, fluchte und schlug gegen die Mauer, die sehr massiv klang.

»Sie muss hier sein«, sagte sie.

»Was muss hier sein?«, fragte Khadgar.

»Eine Tür«, sagte die Halb-Ork.

»Es gab hier nie eine Tür«, sagte Khadgar.

»Wahrscheinlich gab es hier immer eine Tür«, widersprach Garona. »Du hast sie nur nie gesehen. Schau hin. Moroes ist hier gestorben.« Sie trat mit dem Fuß neben der Wand auf. »Dann wurde sein Körper zur Seite bewegt, wodurch der Viertelkreis der Blutspur entstand. So haben wir ihn gefunden.«

Lothar grunzte zustimmend und begann ebenfalls mit den Händen über die Mauer zu streichen.

Khadgar betrachtete die scheinbar fugenlose Wand. Er war fünf- bis sechsmal pro Tag daran vorbeigegangen. Auf der anderen Seite hätte es nichts außer Stein und Mörtel geben dürfen. Und dennoch …

»Geht zur Seite«, sagte der junge Magier. »Lasst mich etwas ausprobieren.«

Der Champion und die Halb-Ork traten einen Schritt zurück, und Khadgar sammelte die Energien für einen Spruch. Er hatte ihn bereits bei verschlossenen Türen und Büchern angewendet, aber dies war das erste Mal, das er ihn bei einer Tür verwendete, die er nicht einmal wahrnehmen konnte. Er versuchte sich die Tür vorzustellen, wie groß sie sein musste, um Moroes’ Körper so zur Seite zu drücken, wie es geschehen war – wo ihre Scharniere lagen, wo der Rahmen und wo man die Schlösser angebracht hatte, um sie zu sichern.

Er stellte sich die Tür vor und warf dem unsichtbaren Rahmen ein wenig Magie entgegen, um das versteckte Schloss zu öffnen. Überrascht sah er, wie sich die Wand bewegte und ein senkrechter Spalt entstand. Er war kaum zu sehen, reichte aber, um die Tür erahnen zu lassen, die es einen Moment zuvor noch nicht gegeben hatte.

»Öffnet sie mit euren Schwertern«, knurrte Lothar, und die Soldaten machten sich an die Arbeit. Die steinerne Tür widerstand ihrem Ansturm einige Augenblicke, bis ein Mechanismus darin hörbar zerbrach und die Tür nach außen schwang. Sie streifte Moroes’ Leichnam und gab den Blick auf eine Treppe frei, die in die Tiefe führte.

»Er hat sich also nicht in Luft aufgelöst«, sagte Garona grimmig. »Er ist hier geblieben, nur an einem Ort, den niemand außer ihm kennt.«

Khadgar betrachtete den toten Moroes. »Fast niemand. Ich frage mich nur, was er sonst noch vor uns versteckt hat.«

Sie stiegen die Treppe hinunter, und Khadgar begann sich zunehmend unwohler zu fühlen. Die oberen Stockwerke wirkten einfach nur verlassen, aber hier unten herrschte eine Aura des Bösen. Die rau behauenen Mauern und der Boden waren feucht, und im Licht der Fackeln schien alles zu zucken wie lebendiges Fleisch.

Khadgar brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass die Stufen zwar noch immer abwärts führten, aber die Richtung gewechselt hatten und jetzt auf der anderen Seite des Turms verliefen. Sie schienen ein Spiegelbild der oberen Treppe zu sein.

Tatsächlich setzte sich dieser Eindruck fort. Wo sich im Turm ein leerer Versammlungsraum befunden hatte, gab es hier einen Kerker mit unbenutzten Eisenketten. Der Raum, der oben als Speisesaal diente, war hier voller mystischer Kreise und Schutt. Die Luft schmeckte schwer und war drückend, genau wie im Turm von Stormwind, als Huglar und Hugarin getötet wurden. Hier war der Dämon beschworen worden, der sie ermordet hatte.

Als sie das Stockwerk erreichten, das der Bibliothek entsprach, fanden sie zwei mit Eisenriegeln verschlossene Türen. Die Stufen führten weiter nach unten, aber die Gruppe blieb vor der Tür stehen und betrachtete die rätselhaften Symbole, die tief in das Holz geritzt worden und mit bräunlichem Blut versehen waren. Es sah aus, als würde das Holz selbst bluten. Zwei große Eisenringe hingen an den Türen.

»Das ist dann also die Bibliothek«, sagte Khadgar.

Lothar nickte. Ihm waren die Ähnlichkeiten zwischen dem Turm und diesem Bereich ebenfalls aufgefallen. »Mal sehen, was sich im Inneren befindet, wenn alle Bücher oben sind.«

Garona sagte: »Sein Arbeitszimmer ist in der Spitze des Turms mit dem Observatorium. Wenn er sich wirklich hier irgendwo auffällt, müsste das also eher ganz da unten sein. Wir sollten weitergehen.«

Aber ihre Worte kamen zu spät. Khadgar berührte die Eisenringe, und Funken sprühten von seiner Handfläche zur Tür. Es war ein Hinweis auf eine magische Falle. Khadgar fluchte, als die Türflügel aufsprangen und den Blick auf die dunkel daliegende Bibliothek freigaben …

… die sich als Zwinger entpuppte. Sargeras hatte kein Bedürfnis nach Wissen, also hatte er das Zimmer seinen Haustieren überlassen. Die Kreaturen lebten in selbstgewählter Finsternis. Ätzender Rauch quoll in den Gang.

Es gab Augen im Inneren. Augen und brennende Tatzen und Körper, die aus Schatten und Feuer bestanden. Sie schlichen heran und knurrten.

Khadgar zeichnete Symbole in die Luft, bündelte die Energie in seinem Kopf und versuchte die Tür zu bewegen. Soldaten drückten gegen die großen Eisenringe, aber weder Magie noch Muskelkraft vermochten sie zu bewegen.

Die Bestien lachten fauchend und duckten sich zum Sprung.

Khadgar hob die Hände, um einen weiteren Spruch zu versuchen, aber Lothar schlug sie zur Seite.

»Das soll uns nur Zeit und Energie kosten«, sagte er. »Wir sollen aufgehalten werden. Geh nach unten und suche Medivh.«

»Aber sie sind …«, begann Khadgar, doch dann sprang die erste Dämonenbestie vor.

Lothar machte zwei Schritte und traf die im Sprung befindliche Kreatur mit seinem Schwert. Er zog die Klinge nach oben, und die Runen, die tief in das Metall graviert waren, begannen gelb zu leuchten. Für eine Sekunde sah Khadgar Angst in den Augen der Dämonenbestie.

Und dann bohrte sich die Klinge auch schon tief in das Fleisch des Ungetüms. Lothars Klinge trat im Nacken der Kreatur aus und durchtrennte den vorderen Teil des Rumpfs. Einen Moment lang heulte die Bestie schmerzerfüllt, dann traf die Klinge den Kopf. Die qualmenden Überreste der Dämonenbestie fielen vor Lothars Füße. Sie weinten Feuer und bluteten Schatten.

»Geht!«, donnerte der Champion. »Wir kümmern uns um den Rest und kommen dann nach.«

Garona packte Khadgar und zog ihn die Treppe hinunter. Hinter ihnen zogen die Soldaten ihre Schwerter, und die Runen tanzten feurig, während sie von den Schatten tranken. Der junge Magier und die Halb-Ork gingen die gewundenen Stufen nach unten, während sie hinter sich die Schreie der Sterbenden – aus menschlichen und dämonischen Kehlen – hörten.

Sie stiegen tiefer in die Dunkelheit hinab. Garona hielt den Dolch in der einen, die Fackel in der anderen Hand. Khadgar bemerkte, dass die Wände leicht phosphoreszierend leuchteten. Es war eine rötliche Farbe, wie die einiger Nachtpilze tief in den Wäldern. Es wurde wärmer, und Schweiß lief über seine Stirn.

Als sie zu einem der Speisesäle kamen, hob sich Khadgars Magen plötzlich, und mit einem Mal waren sie an einem anderen Ort. Die Bewegung war plötzlich, wie die Böe eines Sommersturms.

Sie befanden sich in der Spitze eines der großen Türme von Stormwind. Um sie herum stand die Stadt in Flammen. Rauch stieg von allen Seiten auf und bildete eine schwarze Decke, hinter der die Sonne verschwand. Eine ähnliche Schwärze umgab die Stadtmauern, doch sie stammte von Ork-Truppen. Von ihrem Aussichtspunkt aus konnten Garona und Khadgar sehen, wie sich die Armeen wie Käfer auf dem Leichnam ausbreiteten, der einst Stormwinds Felder gewesen war. Jetzt gab es dort nur noch Belagerungstürme und bewaffnete Soldaten, deren farbige Banner einen schaurigen Regenbogen bildeten.

Die Wälder waren ebenfalls verschwunden, hatten sich in Katapulte verwandelt, die Feuer auf die Stadt regnen ließen. Die Unterstadt brannte bereits, und Khadgar beobachtete, wie eine Sektion der Außenmauer zusammenbrach und kleine, grün und blau gekleidete Puppen sich gegenseitig auf dem Geröll bekämpften.

»Wie sind wir …?«, begann Garona.

»Eine Vision«, sagte Khadgar knapp, fragte sich jedoch, ob das ein zufälliger Effekt des Turms war oder eine weitere gezielte Verzögerungstaktik des Magus.

»Ich habe den König gewarnt. Ich habe ihn gewarnt, aber er wollte ja nicht auf mich hören«, murmelte sie. Zu Khadgar sagte sie: »Dies ist eine Vision aus der Zukunft, nicht wahr? Wie werden wir sie wieder los?«

Der junge Magier schüttelte den Kopf. »Wir werden sie nicht los, zumindest jetzt nicht. Früher kamen und gingen sie. Ein starker Schock reicht meistens aus, um sie zu beenden.«

En flammendes Trümmerstück, das Geschoss eines Katapults, flog am Turm vorbei. Khadgar spürte die Hitze, bevor es zu Boden fiel.

Garona sah sich um. »Wenigstens sind es nur Ork-Armeen«, sagte sie grimmig.

»Und das ist die gute Nachricht?« Seine Augen tränten vom Rauch, der über den Turm wehte.

»Ja, denn es befinden sich offenbar keine Dämonen in der Ork-Armee«, erwiderte sie. »Wenn Medivh bei ihnen wäre, würde es viel schlimmer aussehen. Vielleicht konnten wir ihn überreden, uns zu helfen.«

»Ich sehe Medivh aber auch nicht bei unseren Truppen«, sagte Khadgar und dachte für einen Moment nicht daran, mit wem er sprach. »Ist er tot? Konnte er fliehen?«

»Wie weit sind wir in der Zukunft?«, fragte Garona.

Hinter sich hörten sie verschiedene Stimmen. Die beiden drehten sich um und erkannten, dass sie vor den königlichen Audienzräumen standen, die während des Angriffs als Planungszentrum dienten. Ein kleines Modell der Stadt stand auf dem Tisch, und man hatte Spielzeugsoldaten, die wie Menschen und Orks aussahen, um es herum verteilt. König Llane und seine Berater saßen am Tisch und brüteten über dem Schlachtengemälde, während ständig neue Berichte eintrafen.

»Die Mauer im Handelsdistrikt wurde durchbrochen.«

»Weitere Brände in der Unterstadt!«

»Streitkräfte sammeln sich wieder am Haupttor. Sehen wie Zauberer aus.«

Khadgar bemerkte, dass all die früheren Höflinge von grimmig blickenden Männern in blauen Uniformen ersetzt worden waren. Lothar war nicht am Tisch zu sehen, aber Khadgar hoffte, dass er sich an der Front aufhielt und den Krieg zum Feind trug.

Llane agierte mit einer Sicherheit, als würde die Stadt jeden Tag angegriffen. »Das vierte und fünfte Regiment soll die Mauer verstärken. Die Miliz soll Eimerketten bilden. Nehmt das Wasser aus den öffentlichen Bädern. Und wir brauchen zwei Einheiten Speerwerfer am Haupttor. Wenn die Orks angreifen, sollen sie zuschlagen. Dann werden sie den Angriff abbrechen müssen. Zwei Magier sollen sich aus der Straße der Goldschmiede zurückziehen. Sind sie dort fertig?«

»Der Angriff wurde abgewehrt«, war die Antwort. »Die Magier sind erschöpft.«

Llane nickte und sagte: »Dann sollen sie sich für eine Stunde ausruhen. Holt stattdessen die jüngeren Magier aus der Akademie. Schickt doppelt so viele, aber sagt ihnen, sie sollen vorsichtig sein. Borton, Eure Kräfte sollen sich an der Ostmauer sammeln. Dort würde ich als nächstes angreifen, wenn ich unser Feind wäre.«

Llane versah jeden Kommandanten mit einer Aufgabe. Es gab keinen Streit, keine Diskussionen und keine Vorschläge. Jeder Krieger nickte und ging. Schließlich blieben nur König Llane und das kleine Modell einer Stadt zurück, die vor seinem Fenster in Flammen aufging.

Der König beugte sich vor und stützte die Hände auf den Tisch. Sein Gesicht wirkte erschöpft und war alt geworden. Er sah auf und sagte: »Du kannst mir jetzt berichten.«

Die Vorhänge glitten zur Seite, als Garona vortrat. Die Halb-Ork neben Khadgar stieß einen überraschten Laut aus.

Die zukünftige Garona trug ihre übliche schwarze Hose und ebenfalls schwarze Seidenbluse, jedoch auch einen Umhang mit dem Löwenkopf von Azeroth. Ihr Blick flackerte wild. Die gegenwärtige Garona ergriff Khadgars Arm. Er spürte, wie sich ihre Nägel in sein Fleisch gruben.

»Schlechte Nachrichten, Sire«, sagte Garona und trat an den Tisch des Königs. »Die verschiedenen Clans arbeiten bei diesem Angriff zusammen und sammeln sich unter Blackhand, dem Zerstörer. Sie werden einander nicht hintergehen, bis Stormwind gefallen ist. Gul’dan bringt seine Magier nachts hierher. Bis dahin wird der Blackrock-Clan versuchen, die Ostmauer zu überwinden.« Khadgar bemerkte das Zittern in der Stimme der Halb-Ork.

Llane seufzte tief und sagte: »Das habe ich erwartet und Gegenmaßnahmen ergriffen. Wir werden diesen Angriff wie alle anderen davor zurückschlagen. Und wir werden aushalten, bis die Verstärkung eintrifft. So lange entschlossene Männer auf den Mauern stehen und auf dem Thron sitzen, wird Stormwind nicht fallen.«

Die zukünftige Garona nickte, und Khadgar sah, dass sich Tränen in ihren Augenwinkeln gesammelt hatten. »Die Ork-Anführer stimmen Eurer Einschätzung zu«, sagte sie, und ihre Hand griff unter die schwarze Bluse.

Khadgar und die reale Garona schrien gleichzeitig auf, als die zukünftige Garona den langen Dolch herauszog und dem König in die linke Brustseite stieß. Sie bewegte sich mit einer Schnelligkeit und Eleganz, auf die König Llane nur mit einem verwirrten Gesichtsausdruck reagierte. Seine Augen wurden groß, und einen Moment lang wurde er von der Klinge noch aufrecht gehalten.

»Die Ork-Anführer stimmen Eurer Einschätzung zu«, sagte sie noch einmal, und die Tränen liefen jetzt ungehemmt über ihr breites Gesicht. »Und haben einen Killer angesetzt, um den entschlossenen Mann vom Thron zu entfernen. Jemanden, den Ihr nahe an Euch heranlassen würdet. Jemanden, den Ihr allein treffen würdet.«

Llane, der König von Azeroth, der Herr von Stormwind, der Verbündete von Kriegern und Zauberern, sank zu Boden.

»Es tut mir Leid«, sagte Garona.

»Nein!«, schrie die gegenwärtige Garona, als sie selbst zu Boden fiel. Plötzlich standen sie wieder in dem falschen Speisesaal. Die Trümmer von Stormwind waren verschwunden und mit ihnen die Leiche des Königs. Die Tränen der Halb-Ork fanden sich jetzt in den Augen der echten Garona.

»Ich werde ihn umbringen«, sagte sie leise. »Ich werde ihn umbringen. Er hat mich gut behandelt und zugehört, wenn ich gesprochen habe, und ich werde ihn töten. Nein!«

Khadgar kniete neben ihr nieder. »Schon gut. Das muss so nicht kommen. Vielleicht passiert es nie. Es war eine Vision.«

»Es ist wahr«, sagte sie. »Ich sah es und wusste, dass es stimmt.«

Khadgar schwieg für einen Moment und dachte an seine eigene Vision, in der er Garonas Volk unter einem blutroten Himmel bekämpft hatte. Er hatte ebenfalls gewusst, dass es die Wahrheit war, als er es schaute. »Wir müssen gehen«, sagte er, aber Garona schüttelte nur den Kopf. »Nach all dem dachte ich, ich hätte einen Ort gefunden, an dem es besser ist als bei den Orks. Aber jetzt weiß ich, dass ich all das vernichten werde.«

Khadgar warf einen Blick auf die Treppe. Er wusste nicht, wie sich Lothars Männer gegen die Dämonen schlugen oder was am Boden des unterirdischen Turms auf ihn wartete. Er presste die Lippen zusammen und holte tief Luft.

Dann schlug er Garona hart ins Gesicht.

Seine Handfläche blutete, weil er einen Fangzahn gestreift hatte, aber Garona reagierte sofort. Ihre tränenden Augen weiteten sich, und die Wut legte sich wie eine Maske über ihr Gesicht.

»Du Narr!«, brüllte sie und stieß Khadgar nach hinten. »Tu das nie wieder! Hörst du! Beim nächsten Mal werde ich dich umbringen!«

Khadgar lag auf dem Rücken, die Halb-Ork kauerte über ihm. Er hatte noch nicht einmal bemerkt, dass sie den Dolch gezogen hatte, aber ihre Klinge drückte jetzt gegen seinen Hals.

»Das kannst du nicht«, sagte er mit einem schwachen Lächeln. »Ich hatte meine eigene Vision über die Zukunft. Ich glaube auch, dass sie wahr ist. Wenn das stimmt, kannst du mich nicht töten. Das Gleiche gilt auch für dich.«

Garona blinzelte und lehnte sich zurück. Sie hatte sich wieder unter Kontrolle. »Wenn ich den König töte …«

»… heißt das, dass du lebendig hier heraus kommst«, sagte Khadgar. »Und ich auch.«

»Und wenn wir uns irren?«, fragte Garona. »Wenn die Vision eine Lüge ist?«

Khadgar kam auf die Beine. »Dann stirbst du in dem Wissen, dass du nicht – niemals! – den König von Azeroth töten wirst.«

Garona blieb einen Moment sitzen und wog die Möglichkeiten gegeneinander ab. Schließlich sagte sie: »Hilf mir hoch. Wir müssen weiter.«

Sie stiegen weiter nach unten, durchliefen das Spiegelbild der Turmstockwerke. Schließlich erreichten sie die Etage, in der sich Medivhs Observatorium und sein Arbeitszimmer hätten befinden sollen. Stattdessen endeten die Stufen jedoch auf einer roten Ebene. Sie schien aus dunklen reflektierenden Stücken hervorzufließen und aus Feuer zu bestehen. Khadgar sprang instinktiv zurück, aber der Boden wirkte fest, und die Hitze war zwar stark, aber nicht mörderisch.

In der Mitte der gewaltigen Höhle standen einige eiserne Möbelstücke. Eine Werkbank und ein Hocker, ein paar Stühle und mehrere Schränke. Das Arrangement wirkte seltsam vertraut, dennoch brauchte Khadgar einen Moment, bis er begriff, dass der Raum eine exakte Kopie von Medivhs Arbeitszimmer war.

Zwischen den eisernen Möbelstücken stand der breitschultrige Magus. Khadgar suchte nach einem Zeichen des Bösen auf seinem Gesicht und in seiner Körperhaltung, nach etwas, das ihm verriet, dass er nicht dem Medivh gegenüberstand, den er kannte und dem er vertraute, dem alten Mann, der seine Arbeit stets gefördert hatte. Etwas musste ihm doch verraten, dass er einen Betrüger vor sich hatte!

Es gab nichts. Dies war der einzige Medivh, den er je gekannt hatte.

»Hallo, mein Vertrauen«, sagte der Magus, und als er lächelte, umspielten Flammen seinen Bart. »Hallo, Abgesandte. Ich habe euch beide erwartet.«

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