Sie legten mehrere Meilen zurück, bevor der Greif sich zu sträuben begann. Nur ein einziges Tier hatte auf Khadgars Pfeife reagiert. Es war nervös geworden, als sich Garona ihm näherte. Nur durch reine Willenskraft gelang es dem jungen Magier den Greif dazu zu bringen, die Gegenwart der Halb-Ork zu tolerieren. Selbst hinter den Hügeln konnten sie Medivh noch schreien und fluchen hören. Sie lenkten den Greif in Richtung Stormwind, und Khadgar grub die Fersen in seine Flanken.
Sie kamen gut voran, aber jetzt schüttelte sich der Greif unter ihnen, zerrte an den Zügeln und versuchte in die Berge zurückzukehren. Khadgar stemmte sich gegen den Greif, um ihn auf Kurs zu halten, aber das Tier wurde immer nervöser.
»Was ist mit ihm?«, fragte Garona über Khadgars Schulter hinweg.
»Medivh ruft ihn zurück«, sagte er. »Er will heim nach Karazhan.«
Khadgar kämpfte mit den Zügeln, benutzte sogar die Pfeife, musste sich aber schließlich geschlagen geben. Er ließ den Greif auf einer tiefen öden Ebene landen und rutschte von seinem Rücken, nachdem zuvor Garona abgestiegen war. Er hatte den Boden gerade erst berührt, als der Greif auch schon wieder abhob. Er schlug seine schweren Schwingen gegen den dunklen Himmel und folgte dem Ruf seines Herrn.
»Glaubst du, er wird uns folgen?«, fragte Garona.
»Ich weiß es nicht«, sagte Khadgar. »Aber ich will nicht mehr hier sein, wenn er es tut. Wir müssen nach Stormwind.«
Sie schlugen sich für den Rest des Abends und der Nacht durch, bis sie einen Pfad fanden, der ungefähr in Richtung Stormwind lief. Niemand folgte ihnen, und es gab auch keine seltsamen Lichter am Himmel, deshalb ruhten sie sich kurz vor Morgengrauen aus und schliefen unter einem Baum.
Auch den ganzen nächsten Tag begegnete ihnen niemand. Sie sahen Häuser, die bis auf die Grundmauern niedergebrannt waren und frisch aufgeworfene Erde, wo man Familien begraben hatte. Umgeworfene und zerschmetterte Kutschen lagen herum, und ab und zu sah man Kreise voller Aschehaufen. Garona erklärte, dass die Orks so ihre Toten bestatteten, nachdem sie die Leichen ausgeraubt hatten.
Sie sahen nur tote Tiere – aufgeschlitzte Schweine bei einem zerstörten Bauernhaus, die skelettierten Überreste eines Pferds, von dem man alles außer dem Kopf vertilgt hatte. Stumm zogen sie von einer verbrannten Farm zur nächsten.
»Deine Leute waren gründlich«, sagte Khadgar irgendwann.
»Sie legen Wert auf solche Dinge«, erwiderte Garona grimmig.
»Wert?« Khadgar sah sich um. »Legen sie Wert auf Zerstörung? Auf Vernichtung? Keine menschliche Armee würde alles auf ihrem Weg niederbrennen oder Tiere grundlos töten.«
Garona nickte. »Das ist die Taktik der Orks. Man lässt nichts zurück, was der Feind sofort wieder einsetzen könnte, sei es Nahrung, Unterkunft oder Wertsachen. Man verbrennt alles. Die Grenzen der Ork-Clans sind oft verwüstete Gebiete, weil ein Clan dem anderen die Ressourcen wegzunehmen versucht.«
Khadgar schüttelte den Kopf. »Das sind keine Ressourcen«, sagte er wütend, »das sind Leben. Dieses Land war mal grün und fruchtbar, mit Feldern und Wäldern. Jetzt ist es eine Einöde. Sieh es dir an! Wie soll es je Frieden zwischen Menschen und Orks geben?«
Garona erwiderte nichts. Den ganzen Tag lang zogen sie stumm weiter und lagerten in den Überresten eines Gasthauses. Sie schliefen in getrennten Zimmern, er in den Trümmern des Schankraums, sie weiter hinten in der Küche. Er schlug nicht vor zusammenzubleiben, sie ebenfalls nicht.
Khadgar wurde vom Knurren seines Magens geweckt. Sie waren ohne Vorräte aus dem Turm geflohen, und außer einigen Beeren und Nüssen hatten sie seit mehr als einem Tag nichts mehr gegessen.
Der junge Magier erhob sich mit knackenden Gelenken von dem regenfeuchten Stroh, das ihm als Lager gedient hatte. Er hatte seit seiner Ankunft in Karazhan nicht mehr im Freien geschlafen und fühlte sich unwohl. Die Furcht des vergangenen Tages hatte ihn verlassen, und er fragte sich, wie die nächsten Schritte aussehen sollten.
Ihr Ziel war Stormwind, aber wie sollte er jemanden wie Garona in die Stadt bekommen? Vielleicht konnte er sie irgendwie tarnen, falls sie überhaupt mitkommen wollte. Jetzt, da sie nicht mehr im Turm festsaß, war es vielleicht besser, wenn sie zu Gul’dan und dem Stormreaver-Clan zurückkehrte.
Etwas bewegte sich hinter der zertrümmerten Wand des Gebäudes. Vielleicht war es Garona. Sie musste so hungrig wie Khadgar sein. Sie hatte sich nicht beschwert, aber die Spuren der Orks wiesen darauf hin, dass sie große Nahrungsmengen benötigten, um sich in Form zu halten.
Khadgar stand auf, schüttelte die Müdigkeit aus seinen Gedanken und lehnte sich aus dem Fenster, um zu fragen, ob es noch etwas zu essen in der Küche gab …
… und sah sich einer gewaltigen doppelseitigen Axt gegenüber, deren eine Klinge auf seinen Hals gerichtet war.
Am anderen Ende der Axt befand sich das jadegrüne Gesicht eines Orks. Eines echten Orks. Khadgar war bis zu diesem Moment nicht klar gewesen, wie sehr er sich an Garonas Gesicht gewöhnt hatte. Dieses gewaltige Kinn hier und die wulstigen Brauen wirkten schockierend.
Der Ork knurrte. »Wasmachsdehie?«
Khadgar hob langsam die Hände, während sein Geist magische Energie sammelte. Ein einfacher Zauberspruch würde reichen, um die Kreatur zur Seite zu werfen und mit Garona zu fliehen.
Außer Garona hat sie hierher gebracht, dachte er plötzlich.
Er zögerte, und das war sein Fehler. Er hörte eine Bewegung hinter sich, konnte sich aber nicht mehr umdrehen, als etwas Großes und Schweres in seinen Nacken schlug.
Er war nicht lange bewusstlos, aber die Zeit hatte einem halben Dutzend Orks gereicht, um sich im Raum zu verteilen. Sie durchsuchten die Trümmer mit ihren Äxten. Sie trugen grüne Armbinden, gehörten also zum Bleeding-Hollow-Clan, wie seine Erinnerung ihm verriet. Er bewegte sich, und der erste Ork – jener mit der doppelseitigen Axt – wandte sich ihm wieder zu.
»Wosdenzeuch?«, sagte der Ork. »Wohasdesversteck?«
»Was?« Khadgar fragte sich, ob die Stimme des Orks oder seine eigenen Ohren die Sprache so undeutlich machten.
»Dein Zeug«, sagte der Ork langsamer. »Deine Ausrüstung. Du hast nichts. Wo hast du alles versteckt?«
Khadgar antwortete, ohne nachzudenken. »Kein Zeug. Habe es verloren. Kein Zeug.«
Der Ork schnaufte. »Dann stirbst du«, knurrte er und hob die Axt.
»Nein!«, schrie Garona aus dem zerstörten Türrahmen. Sie sah aus, als hätte sie keine gute Nacht hinter sich, aber an ihrem Gürtel hingen mehrere Hasen. Sie war auf der Jagd gewesen. Khadgar schämte sich wegen seiner Verdächtigungen.
»Hau ab, Halbblut«, knurrte der Ork. »Das geht dich nichts an.«
»Du bringst mein Eigentum um, das geht mich absolut etwas an«, erwiderte Garona.
Eigentum?, dachte Khadgar, schwieg jedoch.
»Eintum«, nuschelte der Ork. »Wer bissn du, dass de Eintum has?«
»Ich bin Garona Halforcen«, knurrte die Frau. Ihr Gesicht war wutverzerrt. »Ich diene Gul’dan, Kriegszauberer des Stormreaver-Clans. Beschädige mein Eigentum, und du musst dich dem stellen.«
Der Ork schnaufte, artikulierte plötzlich wieder deutlicher. »Stormreaver? Pah! Man sagt, sie seien ein schwacher Clan, die sich von ihrem Kriegszauberer herumkommandieren lassen.«
Garona sah ihn mit stahlhartem Blick an. »Ich habe gehört, dass Bleeding Hollow den Twilight-Hollow-Clan beim Angriff nicht unterstützt hat, und dass beide Clans zurückgeworfen wurden. Ich habe gehört, dass ihr von Menschen in einem fairen Kampf geschlagen wurdet. Ist das wahr?«
»Tut nix zur Sache«, erwiderte der Bleeding-Hollow-Ork und verfiel wieder in seinen Slang. »Se hattn Pferde.«
»Vielleicht kann ich …«, setzte Khadgar an und wollte sich aufrichten.
»Runter, Sklave!«, brüllte Garona und stieß ihn hart zurück. »Du sprichst nur, wenn du gefragt wirst!«
Der Ork nutzte die Gelegenheit, um einen Schritt nach vorne zu machen, aber als Garona ihren Satz beendet hatte, fuhr sie herum und richtete einen langen Dolch auf den Bauch des Ork. Die anderen wichen vor dem bevorstehenden Kampf zurück.
»Zweifelst du mein Besitzrecht an?«, knurrte Garona mit Feuer in den Augen. Ihre Muskeln waren angespannt, drückten die Klinge gegen die Lederrüstung.
Einen Moment lang herrschte Stille. Der Bleeding-Hollow-Ork sah zuerst Garona, dann den am Boden liegenden Khadgar und schließlich wieder Garona an. Er schnaufte und sagte: »Besorg dir erst mal was, das den Kampf lohnen würde, Halbblut.«
Mit diesen Worten wich der Ork-Anführer zurück. Die anderen entspannten sich und verließen den in Trümmern liegenden Schankraum.
Einer seiner Untergebenen fragte auf dem Weg nach draußen: »Für was braucht se denn en Menschensklaven?«
Der Ork-Anführer antwortete etwas, das Khadgar nicht verstand. Der Untergebene rief zurück: »Is ja widerlich!«
Khadgar wollte aufstehen, aber Garona befahl ihm mit einer Handbewegung, unten zu bleiben. Ungewollt zuckte Khadgar zusammen.
Garona ging zu einem der glaslosen Fenster, sah einen Moment nach draußen und kehrte dann zu der Wand zurück, an der Khadgar lehnte.
»Ich glaube, sie sind weg«, sagte sie. »Ich hatte befürchtet, sie würden vielleicht zurückkehren, um sich zu rächen. Ihr Anführer wird heute Nacht bestimmt von seinen Untergebenen herausgefordert.«
Khadgar berührte die geschwollene Seite seines Gesichts. »Mir geht es gut, danke der Nachfrage.«
Garona schüttelte den Kopf. »Du närrisches Bleichgesicht! Wenn ich dich nicht niedergeschlagen hätte, hätte der Anführer dich sofort umgebracht – und dann mich angegriffen, weil ich dich nicht unter Kontrolle hatte.«
Khadgar seufzte tief. »Es tut mir Leid du hast Recht.«
»Und ob ich Recht habe«, sagte Garona. »Sie haben dich nur am Leben gelassen, weil sie dachten, du hättest etwas Wertvolles im Gasthaus versteckt. Sie hielten dich nicht für blöd genug, ohne Ausrüstung durch ein Kriegsgebiet zu ziehen.«
»Musstest du denn so hart zuschlagen?«, fragte Khadgar.
»Um sie zu überzeugen? Ja. Und es hat mir Spaß gemacht.« Sie warf ihm die Hasen zu. »Hier, häute die und bring Wasser zum Kochen. Es gibt noch ein paar Kessel in der Küche.«
»Ich bin nicht dein Sklave«, entgegnete Khadgar aufgebracht, »auch wenn deine Freunde das glauben mögen.«
Garona grinste. »Natürlich nicht. Aber ich habe das Frühstück gefangen. Also wirst du es zubereiten.« Das Frühstück bestand aus einem herzhaften Eintopf, der sich aus Hase und Kartoffeln zusammensetzte, mit Kräutern aus dem Küchengarten und mit Pilzen gewürzt, die Garona in der Wildnis gefunden hatte. Khadgar untersuchte die Pilze, um sicherzustellen, dass auch tatsächlich alle genießbar waren. Sie waren es.
»Orks benutzen ihre Jungen, um das Essen zu testen«, ließ Garona wissen. »Wenn sie überleben, ist es gut für die ganze Gemeinschaft.«
Sie kehrten zurück auf die Straße nach Stormwind. In den Wäldern war es merkwürdig still, und sie fanden nur Spuren des Krieges.
Gegen Mittag trafen sie erneut auf die Bleeding-Hollow-Orks. Sie lagen mit dem Gesicht nach unten auf einer Lichtung rund um einen zerstörten Wachturm. Etwas Großes, Schweres und Scharfes hatte ihre Rüstungen aufgerissen. Einigen fehlten die Köpfe.
Garona durchsuchte die Toten und nahm Brauchbares an sich. Khadgar betrachtete den Horizont.
Garona rief herüber: »Willst du nicht helfen?«
»Gleich«, sagte Khadgar. »Ich möchte nur sichergehen, dass der Mörder unserer Freunde nicht mehr hier ist.«
Garona betrachtete den Waldrand und dann den Himmel. Außer tiefhängenden Wolken war nichts zu sehen.
»Und?«, sagte sie. »Ich höre nichts.«
»Das haben die Orks wahrscheinlich auch nicht, bis es zu spät war«, sagte Khadgar und trat neben den Körper des Ork-Anführers. »Sie wurden im Laufen in den Rücken getroffen. Der Angreifer war größer als sie.« Er zeigte auf Hufspuren im Staub. »Die stammen von schweren Kriegspferden. Kavallerie. Menschliche Kavallerie.«
Garona nickte. »Zumindest sind wir also in der Nähe von Menschen. Nimm dir, was du brauchst. Wir können ihre Rationen gut gebrauchen. Sie schmecken nicht, sind aber nahrhaft. Und nimm dir eine Waffe, wenigstens ein Messer.«
Khadgar sah Garona an. »Ich habe nachgedacht.«
Garona lachte. »Ich frage mich, wie viele menschliche Katastrophen mit diesem Satz begonnen haben.«
»Wir sind in Reichweite der Stormwind-Patrouillen«, sagte Khadgar. »Ich glaube nicht, dass Medivh uns folgt, zumindest nicht auf direktem Weg. Wir sollten uns vielleicht aufteilen.«
»Daran habe ich auch schon gedacht«, sagte Garona, während sie die Taschen eines Orks durchwühlte und einen Umhang und ein in Stoff gewickeltes Päckchen hervorzog. Sie öffnete das Päckchen und fand einen Feuerstein, Stahl und einen Behälter mit öliger Flüssigkeit. »Zum Feuermachen«, erklärte sie. »Orks lieben Feuer, und damit geht es schnell.«
»Also glaubst du, wir sollten uns trennen?«, fragte Khadgar.
»Nein«, erwiderte Garona. »Ich sagte, ich habe darüber nachgedacht. Das Problem ist nur, dass niemand dieses Gebiet hier beherrscht, weder Mensch noch Ork. Vielleicht triffst du nach fünfzig Metern auf eine weitere Patrouille des Bleeding-Hollow-Clans, oder ich werde von deinen Kavalleriefreunden angegriffen. Zusammen haben wir eine größere Überlebenschance. Der eine ist der Sklave des anderen.«
»Gefangener«, sagte Khadgar. »Menschen halten keine Sklaven.«
»Natürlich tut ihr das«, sagte Garona. »Ihr nennt sie nur anders. Also sollten wir zusammen bleiben.«
»Ist das alles?«, sagte Khadgar.
»Fast«, sagte Garona. »Außerdem habe ich Gul’dan seit einiger Zeit nicht mehr informiert. Wenn wir ihm begegnen, werde ich erklären, dass ich in Karazhan gefangen gehalten wurde, und dass es nicht weise von ihm war, seine Anhängerin in eine Falle zu schicken.«
»Meinst du, er wird das glauben?«, fragte Khadgar.
»Ich bin mir nicht sicher«, sagte Garona. »Auch deshalb sollten wir zusammen bleiben.«
»Du könntest großen Einfluss erlangen mit dem, was du erfahren hast«, sagte Khadgar.
Garona nickte. »Ja, zumindest falls mir niemand den Schädel einschlägt, bevor ich davon berichten kann. Im Moment versuche ich es lieber mit den Bleichgesichtern. Jetzt müssen wir nur noch eines tun.«
»Und das wäre?«
»Ich muss die Leichen zusammentragen und mit Holz und Sträuchern bedecken. Wir können die Sachen liegen lassen, die wir nicht brauchen, aber wir müssen die Körper verbrennen. Das ist das Mindeste, was wir tun können.«
Khadgar runzelte die Stirn. »Wenn die Kavallerie noch in der Nähe ist, wird der Rauch sie anlocken.«
»Ich weiß«, sagte Garona und betrachtete die Überreste der Patrouille. »Aber es ist richtig so. Wenn du menschliche Soldaten tot nach einem Angriff auffändest, würdest du sie nicht auch begraben?«
Khadgar kniff die Lippen zusammen, sagte jedoch nichts. Stattdessen nahm er einen der Orks und zerrte ihn auf die Überreste des Wachturms zu. Innerhalb einer Stunde hatten sie die Leichen zusammengetragen und angezündet.
»Jetzt sollten wir gehen«, sagte Khadgar, während Garona den Rauch betrachtete.
»Es wird die Reiter anlocken«, sagte Garona.
»Ja«, sagte Khadgar. »Und es wird ihnen auch eine Botschaft schicken, nämlich, dass Orks hier sind, die sich sicher genug fühlen, um die Leichen ihrer Gefallenen zu verbrennen. Ich möchte lieber alles in Ruhe erklären können, als plötzlich vor einem angreifenden Kriegspferd zu stehen.«
Garona nickte. Sie warfen sich die gestohlenen Umhänge über die Körper und verließen den brennenden Wachturm.
Garona behielt Recht, die Ork-Version einer Feldration war eine unangenehme Mischung aus gehärtetem Sirup, Nüssen und etwas, das Khadgar für gekochte Ratte hielt. Aber wenigstens füllte es den Magen, und sie kamen gut voran.
Zwei Tage vergingen, und das Land öffnete sich, wurde zu weiten Feldern, die voller Getreide standen. Auch hier war der Krieg nicht spurlos vorbeigezogen. Die Ställe waren leer und die Häuser verfallen. Sie fanden mehrere Spuren von Ork-Bestattungen und etliche Lager, die auf Flüchtlinge und Patrouillen hinwiesen.
So weit es ging hielten sie sich in Büschen und im Wald verborgen. Im offenen Gelände war es zwar leichter, Fremde zu sehen, aber auch sie selbst wären schneller entdeckt worden. Als eine kleine Armee von Orks vorbeizog, versteckten sie sich in einem fast unversehrten Bauernhaus.
Khadgar beobachtete die Orks. Es gab Infanterie, Kavallerie, die auf großen Wölfen ritt, und Katapulte, die mit Drachenköpfen und Totenschädeln verziert waren. Neben ihm beobachtete Garona die Prozession und sagte: »Narren.«
Khadgar sah sie fragend an.
»Sie fallen viel zu sehr auf«, erklärte sie. »Wir können sie sehen, also auch die Bleichgesichter. Diese Bande hat kein Ziel. Sie zieht einfach nur durch das Land auf der Suche nach einem. Sie wollen ehrenhaft im Kampf sterben.« Sie schüttelte den Kopf.
»Du hältst nicht viel von deinem Volk«, sagte Khadgar.
»Im Moment halte ich wenig von allen Völkern«, sagte Garona. »Für die Orks bin ich nichts, die Menschen wollen mich umbringen … und der einzige Mensch, dem ich je vertraut habe, entpuppte sich als Dämon.«
»Ich bin auch noch da«, sagte Khadgar und versuchte nicht verletzt zu klingen.
Garona verzog das Gesicht. »Ja, da bist auch noch du. Du hast Recht, du bist ein Mensch, und ich vertraue dir. Aber ich dachte wirklich, dass Medivh etwas ausrichten würde. Er war mächtig, wichtig und wollte verhandeln. Ohne Vorurteile. Aber ich habe mich selbst betrogen. Er ist nur ein weiterer Wahnsinniger. Vielleicht ist es mein Schicksal, für Wahnsinnige zu arbeiten. Wie nannte es Medivh? Das unverzeihlich starre Universum?«
»Deine Rolle«, sagte Khadgar, »wählt niemand außer dir selbst. Das wollte auch Medivh immer.«
»Glaubst du, er war bei Verstand, als er das sagte?«, fragte die Halb-Ork.
Khadgar hob die Schultern. »War er je bei Verstand? Ich glaube schon. Und ich spüre, dass du das auch glauben möchtest.«
»Jau«, murmelte Garona. »Alles war so einfach, als ich für Gul’dan arbeitete. Ich war seine Augen und Ohren. Jetzt weiß ich nicht mehr, wer Recht hat und wer Unrecht. Zu welchem Volk gehöre ich? Zu keinem? Wenigstens musst du dir keine Gedanken darüber machen, wem gegenüber du dich loyal verhältst.«
Khadgar sagte nichts, blickte nur hinaus in die Abenddämmerung. Irgendwo hinter dem Horizont musste die Ork-Armee auf etwas gestoßen sein. Er sah das Leuchten einer falschen Dämmerung in dieser Richtung und die Lichtblitze, die von tiefhängenden Wolken reflektiert wurden. Die Echos der Kriegstrommeln klangen wie ferner Donner.
Zwei weitere Tage vergingen. Sie schritten über verlassene Orte und Marktplätze. Die meisten Gebäude waren noch intakt, aber leerstehend. Es gab Hinweise darauf, dass sie bis vor kurzem bewohnt gewesen waren, aber jetzt lebten dort nur noch Geister und Erinnerungen.
Khadgar brach in ein Geschäft ein. Die Regale waren zwar leer, aber im Herd gab es noch genügend Feuerholz, und im Keller lagerten Kartoffeln und Zwiebeln. Nach den eisernen Rationen der Orks war alles andere eine Verbesserung.
Khadgar machte ein Feuer, während Garona Wasser aus einem nahe gelegenen Brunnen holte. Khadgar dachte über seine nächsten Schritte nach. Medivh war eine Gefahr, vielleicht sogar eine größere als die Orks. Konnte man noch mit ihm reden, ihn davon überzeugen, das Portal zu schließen, oder war es dafür bereits zu spät?
Selbst die Erkenntnis, dass es ein Portal gab, war schon eine gute Neuigkeit. Denn wenn die Menschen es fanden, konnten sie es schließen und den Orks die Verstärkung aus Draenor abschneiden. Dann wären sie auf dieser Welt gestrandet.
Lärm von draußen riss den Lehrling aus seinen Gedanken. Er hörte Metall aufeinanderschlagen und menschliche Stimmen brüllen.
»Garona …«, murmelte Khadgar und eilte zur Tür.
Er fand sie neben dem Brunnen. Eine Patrouille von zehn Infanteristen, die ihre Schwerter gezogen hatten und die blaue Uniform von Azeroth trugen, war bei ihr. Einer der Soldaten hielt seinen blutenden Arm, aber zwei andere hatten Garona gepackt. Ihr Dolch mit der langen Klinge lag am Boden. Als Khadgar um die Ecke bog, schlug der Sergeant ihr mit dem Eisenhandschuh ins Gesicht.
»Wo sind die anderen?«, knurrte er. Aus dem Mund der Halb-Ork rann dunkles Blut.
»Lass sie in Ruhe!«, rief Khadgar. Ohne nachzudenken sammelte er die Energien in seinem Geist und wob sie in einen kurzen Zauberspruch.
Ein helles Licht entstand um Garonas Kopf, eine winzige Sonne, die die Menschen überraschte. Die beiden Männer, die Garona festgehalten hatten, ließen sie los, und sie sackte zu Boden. Der Sergeant hob die Hand, um seine Augen zu schützen, und der Rest der Patrouille war so überrumpelt, dass Khadgar ungehindert zu Garona gelangen konnte.
»Wurde überrascht«, murmelte Garona durch ihre aufgeplatzte Lippe. »Bin gleich wieder bereit.«
»Bleib unten«, sagte Khadgar sanft. Den blinzelnden Sergeant bellte er an: »Kommandierst du diese Bande?«
Die meisten Männer hatten sich erholt und die Schwerter gezogen. Die beiden neben Garona waren ein Stück zurückgewichen, beobachteten ausschließlich sie, nicht Khadgar.
Der Sergeant sah ihn an. »Was fällt dir ein, dich in die Belange der Armee einzumischen? Schafft ihn aus dem Weg, Männer!«
»Halt!«, sagte Khadgar scharf, und die Soldaten, die seinen Zauberspruch erlebt hatten, machten nur einen einzigen Schritt nach vorne. »Ich bin Khadgar, Schüler von Medivh, dem Magus, dem Freund und Verbündeten eures Königs Llane. Ich muss mit ihm sprechen. Bringt uns sofort nach Stormwind.«
Der Sergeant grinste nur. »Natürlich, und ich bin Lord Lothar. Medivh nimmt keine Schüler auf. Sogar ich weiß das. Und wer ist deine kleine Freundin hier?«
»Sie ist …« Khadgar zögerte einen Moment. »Sie ist meine Gefangene. Ich bringe sie zum Verhör nach Stormwind.«
»Wie bitte?«, grunzte der Sergeant. »Wir haben deine Gefangene hier draußen bewaffnet angetroffen, und du warst nirgendwo zu sehen. Deine Gefangene ist wohl entkommen. Schade, dass Orks eher sterben als dass sie sich ergeben würden.«
»Fass sie nicht an!«, rief Khadgar. Er hob seine Hand. Flammen tanzten über seine Fingerspitzen.
»Du spielst mit deinem Leben«, knurrte der Sergeant. In einiger Entfernung hörte Khadgar das Geräusch schwerer Hufe. Verstärkung?
»Ihr macht einen großen Fehler, Herr«, sagte Khadgar höflicher.
»Halte dich da raus, Junge«, befahl der Sergeant. »Schnappt euch die Ork. Bringt sie um, wenn sie sich wehrt.«
Die Soldaten taten einen weiteren Schritt nach vorne. Die beiden neben Garona bückten sich und griffen nach ihr. Sie versuchte auszuweichen, und einer trat mit seinem Stiefel nach ihr.
Khadgar schluckte die Tränen hinunter und schickte dem Sergeant seinen Zauber entgegen. Die Flammenkugel schlug gegen sein Knie. Der Sergeant schrie auf und sackte zu Boden.
»Hört auf damit!«, zischte Khadgar.
»Bringt sie um!«, schrie der Sergeant. Seine Augen waren vor Schmerz weit aufgerissen. »Bringt sie beide um!«
»Halt!«, rief eine dunkle Stimme, die von einem Helm gedämpft wurde. Die Reiter waren auf dem Marktplatz eingetroffen. Es waren rund zwanzig, und Khadgars Hoffnungen schwanden. Selbst Garona würde mit ihnen nicht fertig werden. Ihr Anführer war in voller Rüstung, sein Gesicht hinter dem Helm nicht zu erkennen.
Der junge Zauberlehrling trat vor. »Herr«, sagte er. »Haltet diese Männer zurück. Ich bin ein Schüler von Magus Medivh.«
»Ich weiß, wer du bist«, sagte der Kommandant. »Haltet ein«, befahl er. »Bewacht die Ork, aber lasst sie in Ruhe.«
Khadgar schluckte und fuhr fort: »Ich habe eine Gefangene und wichtige Informationen für König Llane. Ich muss sofort Lord Lothar sprechen.«
Der Kommandant klappte sein Visier hoch. »Das sollst du, mein Junge«, sagte Lord Lothar. »Das sollst du.«