12 Leben in Zeiten des Krieges

Nach nur wenigen Tagen war die Ordnung in der Bibliothek wieder hergestellt. Die meisten der verstreuten Bücher hatten wenigstens in der Nähe ihres angestammten Platzes gelegen und die seltenen, magischen oder weggeschlossenen Bücher standen ohnehin auf der Galerie und waren von dem Chaos unbetroffen geblieben. Die Reparatur einiger Regale benötigte jedoch Zeit, weshalb Garona und Khadgar die unbenutzten Ställe in eine Schreinerei umwandelten und versuchten, die zertrümmerten Regale auszubessern oder Ersatz zu schaffen.

Nach der Verwüstung blieb der Dämon verschwunden. Seine Klauenabdrücke waren auf dem Tisch zu sehen, und die Seiten von Die Erbfolge von Azeroths Königen waren zerknittert und zerrissen, als seien sie zwischen gewaltige Kiefer geraten. Aber es gab keine Leiche, kein Blut, keine Überreste, die man vor Medivhs Füße werfen konnte.

»Vielleicht wurde der Dämon gerettet«, schlug Garona vor.

»Er war ziemlich tot, als wir ihn zurückließen«, antwortete Khadgar und versuchte sich daran zu erinnern, ob er die Gedichtbände über oder unter den romantischen Epen eingeordnet hatte.

»Jemand hat den Körper entfernt«, sagte Garona. »Die gleiche Person, die ihn in den Turm brachte, hat ihn wieder herausgeholt.«

»Ebenso wie das Blut?«, fragte Khadgar.

»Ebenso wie das Blut«, wiederholte die Halb-Ork. »Vielleicht war es ein ausgesprochen ordnungsliebender Dämon.«

»Magie funktioniert so nicht«, sagte Khadgar.

»Vielleicht nicht deine Magie, nicht die, die du erlernt hast«, sagte Garona. »Andere Leute könnten eine andere Art von Magie beherrschen. Die alten Schamanen der Orks kannten eine Form von Magie, die Kriegszauberer, die Sprüche schleudern, kennen eine andere. Vielleicht handelt es sich um einen Spruch, von dem du noch nie gehört hast.«

»Nein«, sagte Khadgar scharf. »Es hätte eine Spur hinterlassen, den Hauch des praktizierenden Magiers. Eine Restenergie, die ich spüren könnte, selbst wenn sie nicht zu identifizieren wäre. Die einzigen Zauberer, die es hier im Turm gibt, sind der Magus und ich. Das weiß ich durch meine eigenen Kräfte. Und ich habe die Schutzzauber überprüft. Medivh hatte Recht – alle funktionieren. Niemand dürfte in der Lage sein, auf magischem oder anderem Wege in den Turm vorzudringen.«

Garona hob die Schultern. »Aber in diesem Turm geschehen auch seltsame Dinge, nicht wahr? Könnten die alten Gesetze hier vielleicht außer Kraft gesetzt sein?«

Jetzt hob Khadgar die Schultern. »Wenn das stimmt, haben wir größere Probleme, als ich dachte.«

Khadgars Beziehung zu der Halb-Ork hatte sich im Verlauf der Reparaturarbeiten verbessert, und wenn er ihr den Rücken zudrehte oder sie irgendwo zwischen den Regalen stand, klang ihre Stimme beinahe menschlich. Trotzdem verriet sie immer noch nicht, wen sie repräsentierte, und Khadgar behielt sie weiterhin im Auge. Er achtete darauf, welche Bücher sie las und welche Fragen sie stellte.

Er versuchte auch auf die Nachrichten zu achten, die sie verschickte oder erhielt, und ging so weit, die Gastquartiere mit Beobachtungszaubern zu versehen. Diese sollten ihm verraten, ob die Halb-Ork das Zimmer verlassen oder eine Nachricht abgeschickt hatte. Falls sie dies getan hatte, waren ihre Methoden so perfekt, dass seine Sprüche es nicht bemerkten. Das machte ihn nur noch nervöser. Wenn sie mit dem Wissen, das sie erworben hatte, irgendetwas anfangen wollte, so behielt sie es völlig für sich.

Garona blieb ihrem Versprechen treu und teilte mit Khadgar ihr Wissen über die Orks. Der junge Magier erfuhr, wie die Orks regiert wurden (durch Stärke und Kriegskunst) und in welche Clans sie sich aufteilten. Wenn die Abgesandte in Fahrt geriet, brachte sie ihre Meinung über die unterschiedlichen Clans deutlich zum Ausdruck. Ihre Häuptlinge hielt sie häufig für einfältige Narren, die sich nur für die nächste Schlacht interessierten. Aus ihren Beschreibungen der vielfältigen Clans, aus denen sich die Horde zusammensetzte, erfuhr Khadgar, dass die Hierarchien sich ständig änderten und nicht konstant blieben.

Ein großer Teil der Horde gehörte zum konservativen Bleeding-Hollow-Clan. Das war eine mächtige Gruppe, die auf zahlreiche Eroberungen zurückblicken konnte, doch ihr in die Jahre gekommener Anführer Kilrogg Deadeye schreckte seit einiger Zeit davor zurück, Leben im Kampf zu opfern. Garona erklärte, dass ältere Orks häufig pragmatischer wurden, eine Eigenschaft, die jüngere gerne mit Feigheit verwechselten. Kilrogg hatte bereits drei Söhne und zwei Enkel getötet, weil diese glaubten, sie könnten den Clan besser führen als er.

Der Clan, den man Blackrock nannte, schien ebenfalls einen großen Teil der Horde zu stellen. Sein Anführer war Blackhand, der diese Position nur deshalb einnahm, weil er jeden umbrachte, der noch hätte Anspruch darauf erheben können. Ein Teil des Blackrock-Clans hatte sich abgespalten; jeder Angehörige dieser Splittergruppe hatte sich einen Zahn ausgeschlagen und sich fortan als Black Tooth Grin betitelt. Charmant, wie Khadgar fand.

Es gab noch andere Clans: Twilight’s Hammer, der die Zerstörung liebte, und Burning Blade, der keinen Anführer hatte, sondern aus einer anarchistischen Meute bestand, die im Chaos der Horde lebte. Und es gab kleinere Clans wie die Stormreavers, die von einem Kriegermagier geführt wurden. Khadgar vermutete, dass Garona mit einem der Stormreaver in Verbindung stand, allerdings nur deshalb, weil sie sich über die Stormreaver weniger beschwerte als über alle anderen.

Khadgar machte sich so viele Notizen, wie er konnte, und stellte sie als Berichte für Lothar zusammen. Immer mehr Nachrichten trafen aus allen Teilen Azeroths ein, und es wirkte jetzt so, als dränge die Horde aus dem Schwarzen Morast nach allen Himmelsrichtungen. Die Orks, die man noch vor einem Jahr nur für Gerüchte gehalten hatte, waren jetzt überall präsent, und die Burg Stormwind mobilisierte ihre Kräfte, um sich der Bedrohung zu stellen. Khadgar hielt die schlechter werdenden Nachrichten von Garona fern, berichtete jedoch Lothar alle Details, die er erfuhr, bis hin zu Clan-Rivalitäten und den Lieblingsfarben der Clans (der Blackrock-Clan hatte zum Beispiel eine seltsame Vorliebe für Rot).

Khadgar wollte seine Entdeckungen auch Medivh mitteilen, doch der Magus war erstaunlich desinteressiert. Auch die Unterhaltungen, die der Magus mit Garona führte, wurden seltener, und mehrmals bemerkte Khadgar, dass Medivh den Turm verlassen hatte, ohne ihn darüber zu informieren. Auch wenn er anwesend war, wirkte Medivh fern. Mehr als einmal hatte Khadgar gesehen, wie er in einem seiner Sessel im Observatorium saß und in die azerothanische Nacht hinausstarrte. Er wirkte launischer, widersprach schneller und hörte weniger zu als früher.

Seine seltsame Stimmung blieb auch anderen nicht verborgen. Moroes sah Khadgar mit leidendem Blick an, wenn er die Gemächer seines Herrn verließ. Und selbst Garona sprach ihn darauf an, als sie die Karten der bekannten Welt betrachteten (die in Stormwind angefertigt wurden und sich deshalb bei Diskussionen über Lordaeron als völlig unzureichend erwiesen).

»Ist er immer so?«, fragte sie.

Khadgar antwortete stoisch. »Er hat viele Launen.«

»Ja, aber als ich ihm das erste Mal begegnete, wirkte er lebendig, engagiert und freundlich. Jetzt wirkt er eher …«

»Geistesabwesend?«

»Konfus«, sagte Garona und zog abwertend die Lippen nach unten.

Khadgar konnte nicht widersprechen. Später am gleichen Abend überbrachte er dem Magus eine Reihe übersetzter Nachrichten mit Purpursiegel, in denen dieser um Hilfe gegen die Orks gebeten wurde.

»Die Orks sind keine Dämonen«, sagte Medivh. »Sie sind aus Fleisch und Blut und somit die Angelegenheit von Kriegern, nicht von Magiern.«

»Diese Botschaften sind schlimm«, sagte Khadgar. »Das Land rund um den Schwarzen Morast wird verlassen, und Flüchtlinge strömen nach Stormwind und in die anderen Städte Azeroths. Die Streitkräfte reichen nicht aus.«

»Und so hoffen sie, dass der Wächter zu ihrer Rettung eilt. Schlimm genug, dass ich die Wachtürme am Twisting Nether hüten muss, um Ausschau nach Dämonen zu halten und all die Fehler zu korrigieren, die Anfänger begangen haben. Jetzt soll ich sie auch schon vor anderen Nationen retten? Wird man mich als nächstes bitten, Azeroth in einem Handelsstreit mit Lordaeron zu unterstützen? Solche Angelegenheiten sollten uns nicht interessieren.«

»Ohne Eure Hilfe wird es bald vielleicht kein Azeroth mehr geben. Lothar ist …«

»Lothar ist ein Narr«, murmelte Medivh. »Eine alte Henne, die überall Gefahren wittert. Und Llane ist nicht besser. Er sieht nicht, was seine Mauern zum Einsturz bringen könnte. Und der Orden, all diese mächtigen Magier haben so lange untereinander gestritten und gekämpft, dass sie keine Kraft mehr gegen einen neuen Gegner haben. Nein, mein Vertrauen, das ist nur eine nebensächliche Angelegenheit. Selbst wenn die Orks in Azeroth siegen sollten, werden sie einen Wächter brauchen, und ich werde für sie da sein.«

»Meister, das ist …«

»Ein Sakrileg? Blasphemie? Verrat?« Der Magus seufzte und strich sich über den Nasenrücken. »Vielleicht. Aber ich bin ein Mann, der vor seiner Zeit gealtert ist, und ich habe einen hohen Preis für meine ungewollte Macht bezahlt. Erlaube mir, mich gegen die Regeln aufzulehnen, die mein Leben beherrschen. Geh jetzt. Am Morgen werde ich mir deine anderen Klagelieder anhören.«

Als Khadgar die Tür schloss, hörte er Medivh sagen: »Ich habe es satt, mich um alles zu kümmern. Wann habe ich endlich einmal Zeit für mich selbst?«


»Die Orks haben Stormwind angegriffen«, sagte Khadgar. Drei Wochen waren vergangen. Er legte die Nachricht auf den Tisch zwischen sich und Garona.

Die Halb-Ork starrte auf den Umschlag mit dem roten Siegel, als wäre es eine giftige Schlange. »Es tut mir Leid«, sagte sie schließlich. »Sie machen prinzipiell keine Gefangenen.«

»Die Ork-Streitkräfte konnten dieses Mal zurückgeschlagen werden«, sagte Khadgar. »Llanes Truppen haben sie zurückgeworfen, bevor sie die Tore erreichen konnten. Den Beschreibungen nach waren es Kilroggs Bleeding Hollow und der Twilight’s-Hammer-Clan. Es schien so gut wie keine Koordination zwischen den Hauptstreitkräften zu geben.«

Garona gab wieder ihr Bulldoggen-Niesen von sich und sagte: »Twilight’s Hammer sollte man nie bei einem Belagerungsangriff einsetzen. Kilrogg wollte einen Rivalen dezimieren und hat Stormwind als seinen Amboss benutzt.«

»Also kämpfen und streiten sie selbst während eines Angriffs noch miteinander«, sagte Khadgar. Er fragte sich, ob die Berichte, die er Lothar geschickt hatte, eine Rolle beim erfolgreichen Abwehren des Angriffs gespielt haben mochten.

Garona hob die Schultern. »So wie die Menschen.« Sie zeigte auf die Bücher, die sich auf dem Tisch stapelten. »In deinen Geschichten werden die brutalsten Taten gerechtfertigt. Massaker, Überfälle und Morde werden angeblich wegen Ehre, Adel oder Abstammung geduldet. Die Horde ist wenigstens ehrlich in ihrer Gier nach Macht.« Sie dachte einen Moment lang nach. »Ich glaube, ich hätte ihnen nicht helfen können.«

»Den Orks oder Stormwind?«, fragte Khadgar.

»Beiden«, sagte Garona. »Ich habe nichts von einem Angriff auf Stormwind gewusst, falls du das andeuten willst. Allerdings hätte sich jeder mit ein klein wenig Verstand denken können, dass die Orks so bald wie möglich das größte sich bietende Ziel angreifen würden. Das weißt du aus unseren Unterhaltungen. Du weißt auch, dass sie sich zurückziehen, neu gruppieren, ein paar Anführer töten und mit Verstärkung zurückkehren werden.«

»Das denke ich mir«, sagte Khadgar.

Garona fügte hinzu: »Und du hast dem Champion von Stormwind bereits einen Brief mit entsprechendem Inhalt geschickt.«

Khadgar versuchte sein Gesicht ausdruckslos zu halten, aber die Ork-Abgesandte lächelte trocken. »Ja, das hast du.«

Khadgar wurde rot, beharrte aber auf seinem Argument. »Die Frage, die ich habe, ist eine andere. Warum hast du deinen Herren keinen Bericht geschickt?«

Die grüne Frau lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. »Wer sagt, dass ich es nicht getan habe?«

»Ich sage das«, sagte Khadgar. »Es sei denn du bist ein besserer Magier als ich.«

Ein leichtes Zucken in Garonas Mundwinkel verriet sie. »Du hast dich überhaupt noch nicht gemeldet, oder?«, fragte Khadgar.

Garona schwieg für einen Moment, und Stille senkte sich über die Bibliothek. Schließlich sagte sie: »Wir können uns darauf einigen, dass ich ein Problem mit einer nicht eindeutig geklärten Loyalität habe.«

»Ich dachte, du gehörst zu niemandem«, sagte Khadgar.

Garona ignorierte ihn. »Ich wurde hierher geschickt … hierher befohlen von einem Kriegsmagier namens Gul’dan. Zauberer. Herr der Stormreaver. Sehr einflussreich in der Horde. Sehr interessiert an den Magiern deiner Welt.«

»Und die Orks greifen die größten Ziele am liebsten zuerst an. Medivh«, sagte Khadgar.

»Gul’dan sagt, Medivh sei etwas Besonderes. Welche geheime Erleuchtung oder Meditation ihm diese Erkenntnis vermittelt hat, weiß ich nicht.« Garona wich Khadgars Blick aus. »Ich habe Medivh mehrmals draußen getroffen, bevor ich zustimmte, als Abgesandte in den Turm zu kommen. Ich sollte einige Informationen sammeln, zurückkehren und Gul’dan alles verraten, was ich über Medivhs Stärken erfahren hätte. Du hattest also von Anfang an Recht – ich kam als Spionin.«

Khadgar setzte sich. »Du bist nicht die Erste«, sagte er. »Warum hast du dich nicht gemeldet?«

Garona schwieg einen Moment. »Medivh …«, begann sie und brach ab. »Medivh …« Eine weitere Pause. »Er hat alles sofort durchschaut und mir trotzdem gesagt, was ich wissen wollte. Das Meiste zumindest.«

»Ich weiß«, sagte Khadgar. »So habe ich ihn auch erlebt.«

Garona nickte. »Zuerst dachte ich, er sei einfach nur arrogant und von seiner Macht überzeugt, so wie einige Ork-Häuptlinge, die ich kenne. Aber da war noch etwas anderes. Er gab mir dieses Wissen, als habe er gewusst, dass es mich verändern – und dass ich sein Vertrauen nicht missbrauchen würde.«

»Vertrauen«, sagte Khadgar. »Das ist für Medivh sehr wichtig. Er scheint es auszustrahlen, und wenn man neben ihm steht, glaubt man, dass er weiß, was er tut.«

»Genau«, sagte Garona. »Und Orks werden von Macht angezogen. Ich dachte, ich könnte Gul’dan vorgaukeln, man habe mich gefangen genommen, und ich hätte keine Möglichkeit gehabt, eine Nachricht zu verschicken. Ich erfuhr also mehr, und schließlich …«

»… wolltest du nicht, dass ihm etwas passiert«, beendete Khadgar den Satz für sie.

»Wie Moroes sagen würde: jau«, erklärte Garona. »Er schenkt mir viel Vertrauen und dir ebenfalls. Nachdem ich Zeuge deiner Vision wurde, erzählte ich ihm davon. Ich dachte, das hätte vielleicht den Dämon angelockt. Er sagte, er wisse davon und sei nicht verärgert. Du wärest von Natur aus neugierig, und das wäre dein Vorteil. Er steht zu seinen Leuten.«

»Und so jemanden konntest du nicht verletzen«, sagte Khadgar.

»Jau. Durch ihn fühlte ich mich menschlich. Und ich habe mich schon sehr lange nicht mehr menschlich gefühlt. Der alte Mann, Magus Medivh, scheint einen Traum zu haben, in dem es um mehr geht als um eine Macht, die eine andere in den Dimensionen bekämpft. Mit seiner Macht könnte er uns alle vernichten, doch das tut er nicht. Er muss an etwas Besseres glauben, und ich möchte ebenfalls an diesen Traum glauben.«

Beide schwiegen eine Weile. Irgendwo im Turm schlurften Moroes oder Köchin durch die Gänge.

»Und seit kurzem …« Garona stockte. »Hat er sich je zuvor so benommen?«

Sie klang wie Lothar, fragte, ohne zu viel von ihrer Sorge zu verraten. Khadgar schüttelte den Kopf. »Er war schon immer exzentrisch. Aber ich habe ihn noch nie so deprimiert erlebt.«

»Er brütet vor sich hin«, fügte Garona hinzu. »Bis jetzt dachte ich, er stünde auf der Seite des Königreichs von Azeroth. Aber wenn Stormwind selbst angegriffen wird und er nicht eingreift …«

»Das könnte an seiner Ausbildung liegen«, sagte Khadgar. Er wählte seine Worte vorsichtig. Trotz Garonas momentaner Einstellung wollte er die Existenz des Ordens nicht enthüllen. »Er muss die Dinge sehr weitblickend betrachten. Das trennt ihn manchmal von den anderen.«

»Deshalb nimmt er wohl auch Streuner auf«, sagte Garona. Sie schwieg erneut und fügte dann hinzu: »Es tut mir nicht Leid, dass Stormwind die Angreifer zurückgeworfen hat. So etwas zerstört man nicht von außen. Man muss innen etwas zerstören, um die Mauern zu schwächen.«

»Ich bin froh, dass du kein General bist«, sagte Khadgar.

»Häuptling«, korrigierte ihn Garona. »Als ob ich dazu je Gelegenheit bekäme.«

»Da ist eine andere Sache …«, sagte Khadgar und unterbrach sich.

Garona neigte ihren massigen grünen Schädel. »Du klingst wie jemand, der um einen Gefallen bitten will.«

»Ich habe dich nie nach Truppenstärken und Standorten gefragt …«

»Du meinst, du hast mich nie zu offensichtlich auszuhorchen versucht.«

»Aber«, fuhr Khadgar ungerührt fort, »sie waren überrascht über die enorme Zahl von Ork-Kriegern, die ihnen gegenüberstanden. Sie schlugen sie zurück, hätten aber nicht gedacht, dass sich in den Sümpfen des Schwarzen Morasts so viele Gegner verbergen können. Sogar jetzt machen sie sich noch Sorgen um die Truppen, die sich im Marschland verstecken.«

»Ich weiß nichts über die Truppenverteilung«, sagte Garona. »Schließlich war ich die ganze Zeit hier, um dich auszuspionieren, richtig?«

»Das stimmt«, sagte Khadgar. »Aber du hast auch von deinem Heimatland gesprochen. Wie seid ihr von dort zu uns gekommen. War es ein Zauberspruch?«

Garona blieb einen Moment ruhig sitzen, als müsse sie eine Entscheidung fällen. Khadgar erwartete einen abweisenden Kommentar oder einen Themawechsel oder eine Gegenfrage. Stattdessen sagte sie: »Wir nennen unsere Welt Draenor. Es ist eine grausame Welt voller Einöden, Wüsten und verdorrter Vegetation. Beinahe unbewohnbar und ewig stürmisch …«

»Und sie hat einen roten Himmel«, fügte Khadgar hinzu.

Garona sah den jungen Magier an. »Hast du mit anderen Orks gesprochen, vielleicht mit Gefangenen? Ich wusste nicht, dass Menschen Orks gefangen nehmen.«

»Nein, es war eine Vision«, sagte Khadgar. Die Erinnerung schien ein halbes Leben alt zu sein. »So ähnlich wie jene, die du sahst, als wir uns zum ersten Mal trafen. Ich hatte nie zuvor Orks gesehen. Ich kann mich erinnern, dass es unglaublich viele waren.«

Garona schnaufte wieder wie eine Bulldogge. »Deine Visionen haben vermutlich mehr gezeigt, als du verrätst, auf jeden Fall haben sie dir ein gutes Bild verschafft. Orks bekommen sehr viele Junge, aber die meisten sterben, bevor sie das Kriegeralter erreichen. Es war ein hartes Leben, und nur die Starken, Mächtigen oder Klugen überlebten. Ich gehörte zur dritten Gruppe, aber ich war beinahe eine Ausgestoßene und lebte am Rand des Clans. Das waren übrigens die Stormreaver, zumindest zu dem Zeitpunkt, als der Befehl gegeben wurde.«

»Welcher Befehl?«

»Man befahl jedem Krieger und jedem gesunden Ork, jedem Arbeiter und Schwertträger seine Waffen, Werkzeuge und Wertsachen zu packen und zur Hellfire-Insel zu ziehen. Dort hatten Gul’dan und andere mächtige Magier ein Portal erschaffen, das die Grenze zwischen den Welten öffnete.«

Garona leckte über einen Fangzahn und erinnerte sich. »Das Portal bestand aus Steinen, die einen Riss im Universum einrahmten. In diesem Riss sah man die Farben der Dunkelheit, die wie Öl auf der Oberfläche eines vergifteten Sees schwammen. Ich hatte den Eindruck, dass mächtigere Hände die Haut zwischen den Welten eingerissen hatten, und dass unsere Magier den Riss einfach nur benutzten. Selbst die härtesten Krieger fürchteten sich vor dem Bereich zwischen den Steinen, aber die Häuptlinge und Unterhäuptlinge hielten mitreißende Reden über das, was uns auf der anderen Seite erwarten würde. Eine reiche Welt. Eine großzügige Welt. Eine Welt voller verweichlichter Wesen, die sich leicht beherrschen lassen würden. All das versprachen sie.

Einige wehrten sich trotzdem. Ein paar von ihnen wurden getötet, die andere zwang man mit Äxten im Rücken zurück in die Reihen der Krieger. Ich wurde gemeinsam mit einer großen Gruppe von Arbeitern durch das Portal gestoßen.«

Garona schwieg einen Moment. »Man nennt es das Wirbelnde Dunkel, und es war sofort vorbei und dauerte doch ewig. Ich fiel unendlich lange, und als ich in das seltsame Licht trat, lag eine verrückte neue Welt vor mir.«

Khadgar sagte: »Nach dem versprochenen Paradies dürfte der Schwarze Morast eine herbe Enttäuschung gewesen sein.«

Garona schüttelte den Kopf. »Es war schockierend. Ich erinnere mich daran, wie ich vor dem feindlichen blauen Himmel zurückwich. Und das Land war voller Pflanzen, so weit das Auge reichte. Einige kamen damit nicht zurecht und wurden verrückt. Viele traten den Burning Blades bei, den Chaos-Orks, die sich unter einem flammend roten Banner sammeln.«

Garona strich sich über das breite Kinn. »Ich hatte Angst, aber ich überlebte. Und ich entdeckte, dass meine Herkunft als Halb-Ork mir einen instinktiven Zugang zu Menschen ermöglicht. Ich gehörte zu einer Bande, die Medivh angriff. Er brachte alle um, ließ nur mich am Leben und schickte mich mit einer Botschaft zu Zauberer Gul’dan. Nach einer Weile schickte mich Gul’dan als seinen Spion zurück, aber ich bemerkte, dass es mir … schwer fiel, den alten Mann zu hintergehen.«

»Du weißt nicht, wem deine Loyalität gehört«, kommentierte Khadgar.

»Aber um deine Frage zu beantworten«, sagte Garona. »Nein, ich weiß nicht, wie viele Clans durch das Dunkle Portal auf Draenor getreten sind. Und ich weiß nicht, wie lange es dauert, bis sie sich erholt haben. Und ich weiß nicht, woher das Portal wirklich stammt. Aber du kannst es herausfinden.«

Khadgar blinzelte. »Ich?«

»Deine Visionen«, sagte Garona. »Du scheinst in der Lage zu sein, die Geister selbst aus fernster Vergangenheit zu beschwören. Als ich dich traf, hattest du eine Vision von Medivhs Mutter. War das Stormwind, wo wir uns aufhielten?«

»Ja«, sagte Khadgar. »Und deshalb denke ich immer noch, dass der Dämon in der Bibliothek real war. Es gab keinen Hintergrund.«

Garona ignorierte seine Bemerkung. »Aber du kannst diese Visionen herbeirufen. Du kannst den Moment herbeirufen, in dem der Riss entstand. Du kannst herausfinden, wer die Orks nach Azeroth gebracht hat.«

»Ja«, sagte Khadgar. »Und ich wette, es handelt sich um den gleichen Magier, der die Dämonen losgelassen hat. Es würde Sinn ergeben, wenn die beiden zusammenhingen.« Er sah Garona an. »An diese unbeantwortete Frage hätte ich jetzt gar nicht gedacht.«

»Ich kümmere mich gern um die Fragen«, sagte Garona mit hintergründigem Lächeln, »wenn du für die Antworten sorgst.«


Wieder der leere Speisesaal. Der pflichtbewusste Moroes hatte die alten Beschwörungssymbole weggewischt, und Khadgar musste mit zerstoßenem Rosenquarz und Amethyst einen neuen Kreis formen. Garona steckte brennende Fackeln in die Wandhalter und stellte sich dann zu ihm in das Rund.

»Ich muss dich warnen«, sagte er zu der Halb-Ork. »Das funktioniert vielleicht nicht.«

»Du schaffst es schon«, antwortete Garona. »Ich habe gesehen, dass du es kannst.«

»Ich werde irgendwas sehen«, sagte Khadgar. »Ich weiß nur nicht, was.«

Er vollführte die notwendigen Handbewegungen und sprach die dazugehörigen Worte. Da Garona zusah, wollte er keinen Fehler machen. Schließlich entließ er die gesammelte mystische Energie aus dem Käfig seines Geistes und rief: »Zeig mir den Ursprung des Risses zwischen Draenor und Azeroth!«

Der Druck, der auf ihm lastete, das Gewicht der Luft, veränderte sich. Es war eine warme Nacht, aber der nächtliche Himmel vor dem Fenster (denn es gab jetzt ein Fenster in diesem Zimmer) war tiefrot – die Farbe von altem getrocknetem Blut. Nur wenige Sterne waren zu sehen.

Es war das Quartier von jemandem, vermutlich von einem Ork-Anführer. Einige Felle lagen auf dem Boden, und da war ein breites Podest, das als Bett diente. Eine offene Feuerstelle befand sich in der Mitte des Raums. Waffen hingen an Steinwänden, und es gab einige Schränke. Einer war geöffnet. Darin standen konservierte Dinge, von denen einiges Menschen oder menschenähnlichen Wesen gehört haben mochte.

Die Gestalt auf dem Bett warf sich von einer Seite auf die andere und setzte sich plötzlich auf, so als sei sie aus einem Alptraum erwacht. Sie starrte in die Dunkelheit, und ihr brutales, narbiges Gesicht war klar zu sehen. Selbst für Ork-Verhältnisse war dieses Wesen hässlich.

Garona stieß die Luft aus. »Gul’dan.«

Khadgar nickte. »Er sollte dich nicht sehen können.«

Das also war der Zauberer, der Garona zur Spionin gemacht hatte. Er wirkte ungefähr so vertrauenswürdig wie eine verbogene Goldmünze, war in Felle gehüllt und sagte: »Ich kann dich noch immer sehen, obwohl ich glaube, wach zu sein. Vielleicht träume ich, dass ich wach bin. Tritt vor, Traumwesen.«

Garona packte Khadgars Schulter, und er spürte, wie sich ihre scharfen Fingernägel in sein Fleisch bohrten. Aber Gul’dan sprach nicht zu ihnen. Stattdessen trat ein anderer Beobachter vor.

Er war groß und breitschultrig, größer als die anderen drei. Er war durchscheinend, als ob er ebenfalls nicht dorthin gehören würde. Sein Gesicht lag unter einer Kapuze verborgen, und seine Stimme klang dünn und entfernt. Obwohl das einzige Licht von der Feuerstelle kam, warf die Gestalt zwei Schatten – einen direkt hinter den Flammen und einen anderen zur Seite hin, so als würde er von einer zweiten Quelle angeleuchtet.

»Gul’dan«, sagte die Gestalt. »Ich will dein Volk. Ich will deine Armeen. Ich will deine Macht zu meiner Unterstützung.«

»Ich habe meine Schutzgeister gerufen, Kreatur«, sagte Gul’dan, und Khadgar bemerkte ein Zittern in der Stimme des Orks. »Ich habe meine Magier gerufen, und sie haben vor dir kapituliert. Ich habe meinen mystischen Meister gerufen, und es ist ihm nicht gelungen, dich aufzuhalten. Du verfolgst mich in meinen Träumen, und jetzt kommst du, eine Traumkreatur, sogar in meine Welt. Was und wer bist du wirklich?«

»Du fürchtest mich«, sagte die große Gestalt, und beim Klang ihrer Stimme lief Khadgar ein kalter Schauer über den Rücken, »weil du mich nicht verstehst. Sieh meine Welt und lerne sie kennen. Danach wirst du dich nie mehr fürchten müssen.«

Mit diesen Worten formte die große, verhüllte Gestalt eine Kugel in der Luft, die so leicht und klar wie eine Seifenblase war. Sie schwebte, hatte einen Durchmesser von einem Fuß, und im Inneren sah man ein Land mit blauem Himmel und grünen Feldern.

Die verhüllte Gestalt zeigte ihm Azeroth.

Eine zweite Blase folgte und dann eine weitere und dann eine vierte. Sonnendurchflutete Felder im Sommer. Die Sümpfe des Schwarzen Morasts. Die Eisfelder des Nordens. Die leuchtenden Türme der Burg Stormwind.

Und eine Blase, die einen einsamen Turm inmitten von Hügeln zeigte, der von Mondlicht übergossen wurde.

Und es gab eine weitere Blase, die nur kurz zu sehen war. Sie zeigte eine dunkle Szene tief unter dem Meer. Sie wirkte wie ein flüchtiger Gedanke, der sofort wieder schwand. Trotzdem fühlte Khadgar Macht. Da war ein Grab unter dem Meer, eine Gruft, die Macht wie Herzschläge aussandte. Es war für einen Moment zu sehen, dann nicht mehr.

»Sammle deine Streitkräfte«, sagte die verhüllte Gestalt. »Sammle deine Armeen und Krieger und Arbeiter und Verbündeten, und bereite sie auf eine Reise durch das Wirbelnde Dunkel vor. Bereite sie gut vor, denn dies alles wird dir gehören, wenn du erfolgreich bist.«

Khadgar schüttelte den Kopf. Die Stimme irritierte ihn mit Vertrautheit. Dann begriff er, wem sie gehörte, und sein Herz flatterte.

Gul’dan hockte am Boden und hatte die Hände vor dem Körper gefaltet. »Das werde ich tun, denn deine Macht ist groß. Aber wer bist du wirklich, und wie werden wir diese Welt erreichen?«

Die Gestalt hob die Hände an die Kapuze, und Khadgar schüttelte den Kopf. Er wollte das nicht sehen. Er wusste es, aber er wollte es trotzdem nicht sehen.

Ein faltiges Gesicht. Graue Augenbrauen. Grüne Augen, in denen verborgenes Wissen und etwas Gefährliches schimmerte. Neben ihm stieß Garona die Luft aus.

»Ich bin der Wächter«, sagte Medivh zu dem Ork-Magier. »Ich werde dir den Weg ebnen. Ich werde den Kreis zerschlagen und frei sein.«

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